JudikaturJustiz12Os33/17w

12Os33/17w – OGH Entscheidung

Entscheidung
18. Mai 2017

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 18. Mai 2017 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Schroll als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte und Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé, Dr. Oshidari, Dr. Michel-Kwapinski und Dr. Brenner in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Adamowitsch als Schriftführerin in der Strafsache gegen David S***** wegen des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 8 U 9/09k des Bezirksgerichts Liesing, über die von der Generalprokuratur gegen den mit Urteil vom 11. Februar 2016, GZ 8 U 9/09k 74, ergangenen Ausspruch über privatrechtliche Ansprüche sowie weitere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Janda, zu Recht erkannt:

Im Verfahren AZ 8 U 9/09k des Bezirksgerichts Liesing verletzen

1./ die nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens hinsichtlich der im Strafantrag vom 3. März 2009 erhobenen Vorwürfe § 35 Abs 2 StPO iVm §§ 199, 205 Abs 2 und 209 Abs 3 zweiter Satz StPO;

2./ der in der Hauptverhandlung am 11. Februar 2016 erfolgte Vortrag der „ON 2, ON 5, ON 17, ON 19, ON 23, ON 29, ON 42, ON 45, ON 50, ON 67, ON 68 und ON 69“ § 252 Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO sowie in Bezug auf die darin enthaltenen Protokolle über die Vernehmung der Zeugen Sebastian Sc*****, Oliver I***** und Maria M***** weiters § 252 Abs 1 StPO iVm § 252 Abs 2a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO;

3./ der mit Abwesenheitsurteil vom 11. Februar 2016 ohne Anhörung des Angeklagten ergangene Zuspruch an den Privatbeteiligten Siegfried L***** § 245 Abs 1a StPO iVm §§ 447, 458 zweiter Satz StPO und § 366 Abs 2 StPO.

Das Abwesenheitsurteil des Bezirksgerichts Liesing vom 11. Februar 2016, GZ 8 U 9/09k 74, wird aufgehoben und

I./ die Sache im Umfang der mit Strafanträgen der Staatsanwaltschaft Wien vom 10. Februar 2012 und 15. März 2012 erhobenen Vorwürfe zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Liesing verwiesen sowie

II./ den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der Antrag der Staatsanwaltschaft Wien vom 8. Oktober 2009 auf nachträgliche Fortsetzung des Strafverfahrens gegen David S***** im Umfang der im Strafantrag vom 3. März 2009 erhobenen Vorwürfe wird abgewiesen und das Verfahren insoweit gemäß § 199 StPO iVm § 203 Abs 4 StPO endgültig eingestellt.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 8 U 9/09k des Bezirksgerichts Liesing legte die Staatsanwaltschaft Wien dem am 2. April 1991 geborenen David S***** mit Strafantrag vom 3. März 2009 (ON 8) zur Last, am 20. Juli 2008 ein als Vergehen des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten gesetzt zu haben.

Nach Vertagung der hierüber am 13. Mai 2009 durchgeführten Hauptverhandlung (ON 17 S 5) erklärte die Staatsanwaltschaft Wien am 3. Juni 2009 (ON 1 S 9) ihr Einverständnis zu einem diversionellen Vorgehen gemäß §§ 199, 203 StPO. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 10. Juni 2009 (ON 19) stellte das Bezirksgericht Liesing das Verfahren gemäß §§ 199, 203 Abs 1 StPO iVm § 7 Abs 1 Z 3 JGG unter Bestimmung einer Probezeit von zwei Jahren vorläufig ein und ordnete für die Dauer der Probezeit Bewährungshilfe an.

Am 30. September 2009 berichtete die Bewährungshelferin, dass ein Kontakt zum Angeklagten trotz aller Bemühungen nicht herzustellen war, weshalb eine Betreuung durch die Bewährungshilfe nicht möglich sei (ON 23).

Nachdem die Staatsanwaltschaft die Fortsetzung des Verfahrens beantragt hatte (ON 1 S 12), beraumte das Bezirksgericht Liesing am 13. Oktober 2009 – ohne über die Verfahrensfortsetzung beschlussmäßig abzusprechen – die Hauptverhandlung an und verfügte die Ladung des Angeklagten mit dem Beisatz: „Fortsetzung des Strafverfahrens, da Sie sich nicht an die Auflage, sich durch die Bewährungshilfe betreuen zu lassen, gehalten haben und überdies bis jetzt keine Schadensgutmachung geleistet haben!“

Die Hauptverhandlung wurden sodann mehrfach vertagt (ON 25, 26, 29, 36 und 40).

Mit weiteren (gemäß § 37 Abs 3 StPO in das Verfahren einbezogenen) Strafanträgen vom 10. Februar 2012 und vom 15. März 2012 (ON 46, 51) lastete die Staatsanwaltschaft Wien dem Angeklagten als Diebstahl nach § 127 StGB und als Sachbeschädigung nach § 125 StGB beurteilte Taten an. In der Folge war der Angeklagte unbekannten Aufenthalts.

In der Hauptverhandlung am 30. Juli 2015 (ON 67) verantwortete sich der Angeklagte zu sämtlichen Tatvorwürfen umfassend geständig (ON 67 S 4 f). Nach Vertagung der Hauptverhandlung erklärte die Staatsanwaltschaft Wien am 5. August 2015 ihr Einverständnis zu einem Vorgehen im Sinn der §§ 199, 204 StPO, woraufhin das Bezirksgericht Liesing dem Angeklagten anbot, das Strafverfahren gegen Bezahlung eines Pauschalkostenbeitrags und Leistung von 500 Euro Schadensgutmachung an das Opfer Siegfried L***** endgültig einzustellen (ON 68). Diesem Anbot kam der Angeklagte trotz Urgenz nicht nach.

Die am 11. Februar 2016 (ON 73) neu (§ 276a zweiter Satz StPO) durchgeführte Hauptverhandlung fand in Abwesenheit des (ordnungsgemäß geladenen) Angeklagten statt (ON 73 S 3). Dabei wurde gemäß § 252a StPO [ersichtlich gemeint: § 252 Abs 2a StPO] der wesentliche Akteninhalt vorgetragen, mit Zustimmung der Beteiligten“, wobei die Bezirksrichterin einzelne Aktenstücke anhand der Ordnungsnummern aufzählte (ON 73 S 4).

Mit rechtskräftigem Abwesenheitsurteil wurde David S***** des Vergehens des unbefugten Gebrauchs von Fahrzeugen nach § 136 Abs 1 StGB (1./), des Vergehens des Diebstahls nach § 127 StGB (2./) und des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB (3./) schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wurde dem Privatbeteiligten Siegfried L***** Schadenersatz zugesprochen (ON 74).

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht die Vorgangsweise des Bezirksgerichts Liesing mehrfach mit dem Gesetz nicht in Einklang:

1./ Im Fall einer vorläufigen gerichtlichen Verfahrenseinstellung (hier: gemäß § 203 Abs 1 und 2 StPO iVm § 199 StPO sowie § 7 Abs 1 Z 3 JGG) ist eine auf § 205 Abs 2 Z 2 zweiter Fall StPO iVm § 199 StPO gestützte Verfahrensfortsetzung nur dann zulässig, wenn hierüber ein – den Bedingungen des § 86 Abs 1 und 2 StPO entsprechender – (Fortsetzungs )Beschluss gefasst wird (vgl 13 Os 47/14g; RIS Justiz RS0128156, RS0130526; Schroll , WK StPO § 205 Rz 21). Diesem Erfordernis entspricht ein bloßer Beisatz auf einer Ladung zur Hauptverhandlung nicht (vgl 13 Os 47/14g).

Der Aburteilung des sich darauf beziehenden Tatvorwurfs stand daher die vorläufige Einstellung des Verfahrens und somit ein – nur für den Fall rechtskräftig beschlossener Verfahrensfortsetzung auflösend bedingtes (vgl erneut 13 Os 47/14g mwN) – Verfolgungshindernis (vgl § 281 Abs 1 Z 9 lit b StPO) entgegen.

Bleibt der Vollständigkeit halber anzumerken, dass zum Urteilszeitpunkt die mit vorläufigem Einstellungsbeschluss vom 10. Juni 2009 angeordnete zweijährige Probezeit (mangels beschlossener Verfahrensfortsetzung) bereits abgelaufen war.

2./ Anstelle tatsächlicher Verlesung kann gemäß § 252 Abs 2a StPO der erhebliche Inhalt der Aktenstücke (resümierend) vorgetragen werden, soweit die Beteiligten des Verfahrens zustimmen und die Aktenstücke allen Beteiligten zugänglich sind. Ein solcher Vortrag substituiert eine Verlesung oder Vorführung im Sinn des § 252 Abs 1 und Abs 2 StPO (RIS Justiz RS0127712). Aus dem Nichterscheinen des gesetzeskonform geladenen (unvertretenen) Angeklagten zur Hauptverhandlung kann aber eine Zustimmung gemäß § 252 Abs 2a StPO nicht abgeleitet werden (RIS Justiz RS0117012 [T2]). Der zusammenfassende Vortrag des hier in Rede stehenden Aktenmaterials entsprach daher nicht dem Gesetz. Aus demselben Grund hätten daher die Protokolle über die Vernehmungen der Mitbeschuldigten Sebastian Sc***** (ON 2 S 53) und Oliver I***** (ON 2 S 59, ON 17 S 3 f) sowie der Zeugin Maria M***** (ON 42 S 8 f, ON 67 S 5) schon nicht verlesen werden dürfen, zumal auch keiner der Fälle des § 252 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO vorlag.

3./ Nach § 245 Abs 1a StPO ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Da der in der Hauptverhandlung am 11. Februar 2016 nicht anwesende Angeklagte zu den privatrechtlichen Ansprüchen des Siegfried L***** nicht gehört wurde, verletzt der dennoch erfolgte Zuspruch an den Privatbeteiligten das Gesetz (vgl RIS Justiz RS0101178, RS0101197; Spenling , WK StPO Vor §§ 366–379 Rz 11). Der Privatbeteiligte wäre mit seinen Ansprüchen vielmehr auf den Zivilrechtsweg zu verweisen gewesen (§ 366 Abs 2 StPO).

Die aufgezeigten Gesetzesverletzungen gereichen dem Angeklagten zum Nachteil, sodass sich der Oberste Gerichtshof gemäß § 292 letzter Satz StPO veranlasst sah, an ihre Feststellung die im Spruch ersichtliche konkrete Wirkung zu knüpfen.

Bleibt anzumerken, dass die Rechtskraft des Privatbeteiligtenzuspruchs an Siegfried L***** (und die dadurch im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK an sich geschützte Position des Privatbeteiligten) der vorliegenden Urteilskassation nicht entgegensteht. Denn bei einem – wie hier – untrennbar mit einem aufzuhebenden Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zuspruch (§ 366 Abs 2 StPO) im Strafverfahren prävaliert stets der Schutz des Angeklagten (RIS Justiz RS0124740 [insb T3]; Ratz , WK StPO § 292 Rz 43/1).

Rechtssätze
7
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.