Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident MMag. Maislinger sowie die Hofräte Dr. Terlitza und Dr. Horvath als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. in Schimpfhuber, über die Revision der G E, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. Oktober 2023, I412 2279257 1/2E, betreffend Abweisung einer Säumnisbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige Nigerias, wurde im Februar 2017 erstmals im österreichischen Bundesgebiet angetroffen und festgenommen.
2 Am 22. Dezember 2022 stellte die Revisionswerberin „postalisch“ einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.
3 Am 27. Februar 2023 wurde von Seiten des rechtsfreundlichen Vertreters der Revisionswerberin per Email an das BFA ausgeführt, dass sie Mutter eines österreichischen Kindes sei, die Rechtslage daher unproblematisch sein dürfte und um rasche Erledigung des Antrages ersucht.
4 Mit Schreiben des BFA vom 24. Mai 2023 wurde der Revisionswerberin (u.a.) ein Termin für eine persönliche Antragstellung am 30. Mai 2023 mitgeteilt.
5 Mit Schriftsatz vom 3. Juli 2023 brachte die Revisionswerberin eine Säumnisbeschwerde ein; diese langte am 11. Oktober 2023 beim Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) ein.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde gemäß § 8 Abs. 1 letzter Satz VwGVG als unbegründet ab (Spruchpunkt A) und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).
7 Das Verwaltungsgericht ging dabei im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung u.a. davon aus, dass das BFA seine Entscheidungspflicht verletzt habe, weshalb die am 3. Juli 2023 von der Revisionswerberin „richtigerweise beim BFA eingebrachte, verfahrensgegenständliche Säumnisbeschwerde in einem ersten Schritt grundsätzlich als zulässig zu werten“ gewesen sei.
8 Gegenständlich habe das BFA von seinem Recht, seine (säumige) Entscheidung binnen drei Monaten nachzuholen, keinen Gebrauch gemacht, sondern die Beschwerde zulässigerweise dem Verwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt.
9 Begründend führte das Verwaltungsgericht soweit für das Revisionsverfahren wesentlich weiter aus, das BFA habe „in der Säumnisbeschwerdevorlage“ auch darauf hingewiesen, „dass bis dato weder der Antrag persönlich eingebracht worden sei, noch Dokumente vorgelegt worden seien. Dem Schriftverkehr mit der Rechtsvertretung der [Revisionswerberin] zufolge war dem gewillkürten Vertreter auch bewusst, dass ein derartiges Anbringen persönlich zu stellen ist und dass dies unterblieben ist, da er in einem Mail an die belangte Behörde am 01.03.2023 ausführt: ‚Sollte die Behörde die persönliche Antragstellung erwünschen, so wird um Bekanntgabe eines Termins gebeten.‘, was auch mit Email vom 24.05.2023“ erfolgt sei.
10 Das Absehen von der mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis nicht.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision.
12 Die Revisionswerberin rügt zur Zulässigkeit der Revision u.a., das Verwaltungsgericht habe ihr kein Parteiengehör eingeräumt, jedoch die Angaben des BFA „in der Säumnisbeschwerdevorlage“ seiner Entscheidung zugrunde gelegt, ohne dass die Revisionswerberin Gelegenheit erhalten habe, „das überwiegende Verschulden des Gegners darlegen zu können.“
Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
13 Die Revision ist bereits im Hinblick auf dieses Zulässigkeitsvorbringen zur Verletzung des Parteiengehörs zulässig; sie ist insoweit auch begründet.
14 Das Verwaltungsgericht hat der Revisionswerberin nach der Aktenlage u.a. keine Möglichkeit zur Stellungnahme zu den Angaben des BFA „in der Säumnisbeschwerdevorlage“ eingeräumt. Damit wirft die Revisionswerberin dem Verwaltungsgericht neben der Verletzung des Parteiengehörs der Sache nach im Ergebnis insbesondere auch eine Verletzung des „Überraschungsverbots“ vor.
15 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist unter dem im Verwaltungsverfahren zu beachtenden „Überraschungsverbot“ zu verstehen, dass die Behörde in ihre rechtliche Würdigung keine Sachverhaltselemente einbeziehen darf, die der Partei nicht bekannt waren. Der Verwaltungsgerichtshof hat dazu bereits klargestellt, dass die zum „Überraschungsverbot“ entwickelten Grundsätze auch für das Verfahren vor den Verwaltungsgerichten maßgeblich sind, weil von diesen auf dem Boden des § 17 VwGVG sowohl das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG als auch der Grundsatz der Einräumung von Parteiengehör im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG zu beachten sind (vgl. etwa VwGH 24.3.2015, Ra 2014/21/0058; 31.5.2023, Ra 2019/22/0048, jeweils mwN).
16 Auf das Wesentliche zusammengefasst begründet die Revisionswerberin die Relevanz des von ihr behaupteten Verfahrensmangels in dem Sinn, dass sie am 9. März 2023 bei der belangten Behörde vorstellig geworden sei und „alle notwendigen Unterlagen (abermals)“ vorgelegt habe. Nach Einräumung von Parteiengehör hätte das Verwaltungsgericht festgestellt, dass das Erfordernis der persönlichen Antragstellung erfüllt worden sei und auch alle notwendigen Unterlagen vorlägen.
17 Mit diesem Vorbringen zeigt die Revisionswerberin im Ergebnis einen wesentlichen Mangel auf (vgl. dazu VwGH 27.12.2019, Ra 2017/22/0171), indem sie behauptet, dass bei Vermeidung des behaupteten Verfahrensmangels das Verwaltungsgericht zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können.
18 Um eine Abweisung der Säumnisbeschwerde rechtmäßig auf § 8 Abs. 1 letzter Satz VwGVG stützen zu können, wird das Verwaltungsgericht im fortgesetzten Verfahren daher ein Ermittlungsverfahren zu führen haben, in dem es u.a. der Revisionswerberin im oben aufgezeigten Sinn auch Parteiengehör einzuräumen haben wird (s. dazu etwa auch VwGH 27.6.2023, Ra 2023/20/0152, mwN).
19 Demnach war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen eingegangen werden müsste.
20 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 5 VwGG abgesehen werden.
21 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 24. Juli 2025