Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des Y J in W, vertreten durch Mag. Eva Velibeyoglu, Rechtsanwältin in 1100 Wien, Columbusgasse 65/22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. März 2022, L530 21846562/25E, betreffend Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005, Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und Einreiseverbot (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Gambia (alias Liberia), reiste unrechtmäßig in das Bundesgebiet ein und stellte am 25. April 2005 einen ersten Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Bescheid des Unabhängigen Bundesasylsenates vom 21. Juni 2006 abgewiesen wurde. Weiter Asylanträge in den Jahren 2006 und 2015 blieben ebenfalls erfolglos.
2Der Revisionswerber kam seinen Ausreiseverpflichtungen nicht nach, sondern stellte am 30. Juli 2018 den gegenständlichen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005.
3 Das infolge der Säumnisbeschwerde vom 26. August 2019 zuständig gewordeneBundesverwaltungsgericht (BVwG) wies diesen Antrag als unbegründet ab (Spruchpunkt I.). Unter einem erließ es gegen den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFAVG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG (Spruchpunkt II.), stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Gambia zulässig sei (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn ein auf drei Jahre befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG (Spruchpunkt IV.) und legte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist für die freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.). Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4Das BVwG stellte nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Wesentlichen fest, der Revisionswerber halte sich (spätestens) seit April 2005 in Österreich auf. Im Juli 2016 habe der Revisionswerber das „ÖSD Zertifikat A2“ erworben und im März 2019 einen weiteren Deutschkurs besucht. Im September 2017 habe der Revisionswerber an einem Integrationsprojekt teilgenommen. Er übe gegen geringes Entgelt einfache Tätigkeiten in dem Wohnhaus eines Vereines für Geflüchtete aus, in dem er selbst wohne. Mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 11. Oktober 2005 sei der Revisionswerber wegen des Verkaufs von Suchtmitteln nach § 27 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 Z 2 erster Fall SMG zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten, davon sechs Monaten bedingt, verurteilt worden. Der Revisionswerber verfüge über kein geregeltes Einkommen zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes in Österreich.
5 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung führte das BVwG eine Interessenabwägung nach § 9 Abs. 2 BFAVG durch und berücksichtigte den mehr als zehnjährigen Aufenthalt des Revisionswerbers in Österreich. Allerdings sei die lange Aufenthaltsdauer in erster Linie darauf zurückzuführen, dass der Revisionswerber drei unbegründete Asylanträge gestellt habe und er nach dem negativen Abschluss dieser Asylverfahren unrechtmäßig in Österreich verblieben und jeweils seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachgekommen sei. Der Revisionswerber habe mehrfach rechtskräftige Rückkehrentscheidungen und Ausweisungen ignoriert. Der Revisionswerber habe lediglich einzelne Integrationsschritte gesetzt. Es lägen vor dem Hintergrund der Aufenthaltsdauer keine Aspekte einer nennenswerten Integration vor und das Gewicht seiner privaten Interessen sei letztlich dadurch gemindert, dass diese allesamt über einen Zeitraum entstanden seien, in dem er sich seines illegalen bzw. unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst gewesen sei. Eine nachhaltige Aufenthaltsverfestigung könne trotz des langjährigen Aufenthaltes des Revisionswerbers somit nicht festgestellt werden, sodass nicht zu sehen sei, dass er seinen Aufenthalt genützt hätte, um sich sozial und beruflich zu integrieren. Dazu komme, dass er in Österreich kein geschütztes Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führe. Dementgegen könne nach wie vor von einem Bestehen von Bindungen zu seinem Herkunftsstaat ausgegangen werden, zumal er dort den überwiegenden Teil seines Lebens verbracht habe.
6 Die Verhängung des dreijährigen Einreiseverbotes begründete das BVwG mit der Mittellosigkeit des Revisionswerbers, der keinerlei Nachweise über etwaige legale Einkünfte oder Unterhaltsmittel vorgelegt habe, womit der Tatbestand des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG erfüllt sei.
7Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
8 Die Revision wendet sich in ihrer Zulässigkeitsbegründung im Wesentlichen gegen die vom BVwG durchgeführte Interessenabwägung und macht geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach im Fall einer mehr als zehnjährigen Aufenthaltsdauer in Österreich regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen am Verbleib im Bundesgebiet auszugehen sei, abgewichen.
9 Die Revision erweist sich im Hinblick darauf unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch berechtigt.
10Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs ist bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFAVG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa VwGH 15.9.2021, Ra 2021/17/0059, mwN).
11Die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich nehmen grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 29.1.2024, Ra 2021/17/0149, mwN).
12Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 BVG (vgl. etwa VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0100, mwN).
13Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 31.3.2021, Ra 2020/22/0030, mwN).
14 Eine solche Unvertretbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung liegt im vorliegenden Fall aus nachstehenden Gründen jedoch vor. Das BVwG hat eine derartige Prüfung vorgenommen, dabei aber der langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich nicht die ihr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung zugemessen.
15Der Verwaltungsgerichtshof geht nämlich in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 9.12.2024, Ra 2022/17/0139, mwN).
16 Dass sich im gegenständlichen Fall der seit 2005 in Österreich aufhältige Revisionswerber überhaupt nicht integriert hätte, kann nicht gesagt werden. Das BVwG ging zwar nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zutreffend davon aus, dass nicht von einer maßgeblichen beruflichen Integration des Revisionswerbers auszugehen sei, berücksichtigte jedoch nicht in ausreichendem Maße, dass er gegen geringes Entgelt einfache Tätigkeiten in seinem Wohnhaus verrichtet und er eine Arbeitsvereinbarung über die Leistung gemeinnütziger Arbeit der Österreichischen Bundesgärten vorgelegt hat. Zudem stellte das BVwG fest, dass der Revisionswerber Deutschkenntnisse auf Niveau A2 erworben hat.
17Zwar ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt bei Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden (vgl. etwa VwGH 15.9.2021, Ra 2021/17/0059, mwN).
18Ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale können gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden. Dazu zählen etwa das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine mehrfache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
19Das BVwG erachtete die lange Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers infolge der wiederholten Asylantragstellung und seinen unrechtmäßigen Verbleib in Österreich als relativiert. Dass der Revisionswerber seiner Ausreiseverpflichtung nach Beendigung seines Asylverfahrens nicht nachgekommen ist, kommt jedoch für sich genommen noch kein entscheidungswesentliches Gewicht zu, weil die oben dargestellte Rechtsprechungslinie typischerweise Personen betrifft, die einen mehr als zehnjährigen inländischen und zuletzt jedenfalls unrechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet aufweisen (vgl. VwGH 24.2.2022, Ra 2020/21/0241, 0242, mwN). Dem vom BVwG hervorgehobenen Aspekt der wiederholten Asylantragstellung kommt im gegenständlichen Fall vor dem Hintergrund, dass der letzte Asylantrag aus dem Jahr 2015 stammt, keine entscheidungswesentliche Bedeutung zu. Der Revisionswerber hat während seines Aufenthalts melderechtliche Vorschriften beachtet und wäre demnach für Behörden greifbar gewesen. Etwaige Bemühungen der Behörden, den Aufenthalt des Revisionswerbers zu beenden, wurden nicht festgestellt und sind auch nicht ersichtlich. Vor diesem Hintergrund fällt auch die wie vom BVwG festgehalten mittlerweile getilgte strafrechtliche Verurteilung aus dem Jahr 2005 nicht mehr entscheidend ins Gewicht. Der Revisionswerber hat sich seit dem wohlverhalten und es lässt sich aus dieser Verurteilung aufgrund des langen, seither verstrichenen Zeitraumes keine Beeinträchtigung öffentlicher Interessen mehr ableiten. Vielmehr hätte das BVwG in diesem Zusammenhang auf den Tatbestand der Z 9 des § 9 Abs. 2 BFAVG („Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist“) zugunsten des Revisionswerbers Bedacht nehmen müssen, zumal allein schon das gegenständliche Verfahren bis zur Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ohne Verschulden des Revisionswerbers fast vier Jahre dauerte (vgl. etwa VwGH 22.8.2019, Ra 2019/21/0114).
20Im vorliegenden Fall wurde somit die vom BVwG festgestellte und nicht als unbeachtlich anzusehende Integration des jedenfalls seit 2005 in Österreich aufhältigen Revisionswerbers im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK nicht in ausreichendem Maß berücksichtigt.
21 Im Hinblick auf das verhängte Einreiseverbot ging das BVwG weiters davon aus, dass die Voraussetzung für die Erlassung eines Einreiseverbotes wegen Mittellosigkeit gemäß § 53 Abs. 2 Z 6 FPG erfüllt sei. Der Revisionswerber habe den Nachweis hinreichender finanzieller Mittel nicht erbracht.
22 Der Verfassungsgerichtshof hob jedoch mit dem Erkenntnis vom 6. Dezember 2022, G 264/2022, den als Rechtsgrundlage für das verhängte Einreiseverbot herangezogenen § 53 Abs. 2 Z 6 FPG idF BGBl. I Nr. 87/2012 als verfassungswidrig auf und verfügte eine Erstreckung der Anlassfallwirkung gemäß Art. 140 Abs. 7 B VG. Damit ist die aufgehobene Gesetzesbestimmung ausnahmslos in allen Fällen und folglich auch im vorliegenden Fall nicht mehr anzuwenden (vgl. etwa VfGH 28.2.2023, E 2029/2022 ua, Punkt II.1.2. der Entscheidungsgründe, mwN).
23 Die auf die vom Verfassungsgerichtshof aufgehobene Bestimmung des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG gestützte Abweisung der Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis erweist sich zudem hinsichtlich der Verhängung eines Einreiseverbotes auch deshalb als inhaltlich rechtswidrig.
24Aus all diesen Gründen war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
25Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
26 Das den Betrag gemäß § 1 Z 1 lit. a der genannten Verordnung übersteigende Mehrbegehren (Gebühr für „WEBERV“ und Umsatzsteuer) war abzuweisen (vgl. etwa VwGH 20.12.2017, Fr 2017/13/0004, mwN).
Wien, am 19. März 2025