JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0129 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
23. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des M E, vertreten durch Mag. Martin Sauseng, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Prokopigasse 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Juli 2022, I416 22514791/3E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

1 Der Revisionswerber, ein ägyptischer Staatsangehöriger, heiratete im Juli 2013 eine Staatsangehörige von Ungarn, weswegen ihm über Antrag vom 19. Juli 2013 eine bis 18. Dezember 2018 gültige Aufenthaltskarte für Angehörige eines EWR Bürgers ausgestellt wurde.

2 Die Ehe wurde im Februar 2018 geschieden.

3 Der Revisionswerber beantragte am 5. Oktober 2018 die Verlängerung der Aufenthaltskarte.

4 Mit Bescheid des Landeshauptmanns von Wien vom 13. Juli 2020 wurde das Verfahren über die Ausstellung der Aufenthaltskarte von Amts wegen wiederaufgenommen, unter einem wurden die Anträge vom 19. Juli 2013 und 5. Oktober 2018 abgewiesen. Begründend ging der Landeshauptmann von Wien davon aus, dass der Revisionswerber lediglich eine Aufenthaltsehe eingegangen sei.

5Am 18. Mai 2021 beantragte der Revisionswerber die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK, namentlich einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005.

6 Mit Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 4. Jänner 2022 wurde dieser Antrag abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber erlassen, die Zulässigkeit seiner Abschiebung nach Ägypten festgestellt und eine Frist für seine freiwillige Ausreise eingeräumt. Begründend traf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl allein auf Grund eines schriftlichen Fragebogens ohne Einvernahme des Revisionswerbers unter anderem Feststellungen zu seiner Eheschließung und der Qualifikation dieser Ehe als Aufenthaltsehe sowie zu seiner Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet. Es traf weder Feststellungen dazu, wo sich der Revisionswerber vor der Eheschließung aufgehalten hatte, noch dazu, ob und auf welchem Niveau er über Deutschkenntnisse verfügt und welche Angehörigen er in seinem Herkunftsstaat hat.

7 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde. Darin verwies er unter anderem auf seinen langen Aufenthalt und seine Selbsterhaltungsfähigkeit auf Grund seiner langjährigen Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet. Weiters wies er darauf hin, dass er sich schon vor seiner Eheschließung auf Grund eines polnischen Aufenthaltstitels auch in Österreich legal aufgehalten habe. Ferner beantragte er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig. Begründend traf das Bundesverwaltungsgericht, über die im behördlichen Bescheid getroffenen Feststellungen hinaus weitere Feststellungen auch zu den Deutschkenntnissen des Revisionswerbers, seinen Freundschaften im Bundesgebiet, seiner Mitgliedschaft beim Roten Kreuz sowie zu seinen Familienangehörigen in Ägypten, wobei es jedoch davon ausging, nicht feststellen zu können, ob er zu diesen Familienangehörigen in Kontakt stehe. Zudem führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass der Grad der Integration des Revisionswerbers in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht seiner Aufenthaltsdauer in Österreich nicht entspreche. Zur Frage, wo er sich vor seiner Eheschließung aufhielt, begnügte sich das Bundesverwaltungsgericht mit der Feststellung, ab wann eine Wohnsitzmeldung im Bundesgebiet vorliege.

9Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision, die in den Ausführungen zu ihrer Zulässigkeit nach § 28 Abs. 3 VwGVG unter dem Gesichtspunkt einer Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe zu Unrecht keine mündliche Verhandlung durchgeführt. Insbesondere hätte das Bundesverwaltungsgericht schon wegen der von ihm vorgenommenen Ergänzung des Sachverhalts nicht nach § 21 Abs. 7 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

10 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erstattete in dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist wegen Abweichens des Verwaltungsgerichts von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG zulässig und begründet.

12 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß dem hier maßgeblichen ersten Tatbestand des ersten Satzes des § 21 Abs. 7 BFA VG („wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“) dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFAVG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. VwGH 11.12.2023, Ra 2021/17/0197 bis 0198, mwN).

13 Vorliegend ließen die Feststellungen des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl offen, wo sich der Revisionswerber vor seiner Eheschließung und ab wann er sich im Bundesgebiet aufhielt. Auch traf das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl keine Feststellungen zu den Deutschkenntnissen und zu den familiären Bindungen des Revisionswerbers im Herkunftsstaat. Wie oben dargestellt, hat das Bundesverwaltungsgericht die behördlichen Feststellungen insbesondere in den soeben erörterten Punkten nicht bloß unwesentlich ergänzt. Insoweit durfte das Bundesverwaltungsgericht also nicht von einem geklärten Sachverhalt ausgehen. Es hätte daher nicht gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG von der Durchführung der mündlichen Verhandlung absehen dürfen.

In dem Zusammenhang ist weiters darauf hinzuweisen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen außer in einem hier nicht vorliegenden eindeutigen Fall der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die (allenfalls erforderliche) Gefährdungsprognose, als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 MRK (sonst) relevanten Umstände (vgl. etwa VwGH 12.11.2024, Ra 2022/17/0192, mwN). Dies macht vor allem auch die ohne Verschaffung eines persönlichen Eindrucks in einer mündlichen Verhandlung wenig fundiert anmutende Wertung des Bundesverwaltungsgerichts, wonach der Grad der Integration des Revisionswerbers in sozialer und gesellschaftlicher Hinsicht seiner Aufenthaltsdauer in Österreich nicht entspreche, deutlich.

14Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften zur Gänze aufzuheben.

Die Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG unterbleiben.

15Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Das den Betrag gemäß § 1 Z 1 lit. a der genannten Verordnung übersteigende Mehrbegehren (Umsatzsteuer) war abzuweisen (vgl. etwa VwGH 19.3.2015, Ra 2022/17/0063, mwN).

Wien, am 23. April 2025