JudikaturVwGH

Ra 2022/17/0139 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
09. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des A S D, Mag. Nikolaus Rast, Mag. Mirsad Musliu und Dr. Susanne Kurtev, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juli 2022, W205 13048953/13E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 57 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Indien, stellte am 30. Juli 2006 einen Antrag auf internationalen Schutz.

2 Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom 21. August 2006 den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz sowohl bezüglich des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab und wies ihn aus dem Bundesgebiet nach Indien aus.

3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 15. September 2008 ab.

4Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29. Juni 2021 wurde dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt (Spruchpunkt I.), gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFAVG gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Indien zulässig sei (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.)

5 In der dagegen erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber im Wesentlichen vor, er halte sich seit dem Jahr 2006 und damit seit 15 Jahren durchgehend im Bundesgebiet auf, er spreche ausreichend Deutsch und sei bereits seit einem Jahrzehnt kranken und unfallversichert, sei aufrecht selbständig erwerbstätig und beruflich im Bundesgebiet verfestigt. Sein Wohnbedürfnis sei durch einen unbefristeten Mietvertrag gedeckt, er lebe mit seiner Ehegattin, die österreichische Staatsangehörige sei, im gemeinsamen Haushalt. Seine Ausweisung würde unweigerlich die Trennung von seiner Ehegattin bedeuten. Im Fall der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat hätte er keine Lebensgrundlage und kein familiäres Netz.

6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides „mit der Maßgabe als unbegründet [ab], dass Spruchpunkt I. zu lauten hat: ‚Eine Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz gemäß § 57 AsylG wird Ihnen nicht erteilt‘.“ (Spruchpunkt A)1.). Im Übrigen wies das Verwaltungsgericht die Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A)2.) und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

7 Begründend stellte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen fest, der Revisionswerber sei seit dem 17. August 2006 durchgehend mit Hauptwohnsitz im Bundesgebiet gemeldet. Er sei seit Mai 2009 mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet und habe keine Kinder. Die Ehefrau des Revisionswerbers habe zwei volljährige Kinder. An der Adresse des Revisionswerbers würden auch seine Ehefrau sowie deren Tochter leben, wobei kein finanzielles oder sonstiges Abhängigkeitsverhältnis mit dem Revisionswerber bestehe. Der Revisionswerber sei in den Jahren von 2007 bis 2013 sowie 2015 und seit 1. Jänner 2019 als Selbständiger zur Sozialversicherung gemeldet gewesen.

8Disloziert im Rahmen der Wiedergabe des Verfahrensgangs stellte das Verwaltungsgericht (u.a.) weiters fest, dass der Antrag des Revisionswerbers vom 5. September 2017 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels mit dem Zweck „Familienangehöriger“ mit „Bescheid der MA 35“ vom 13. März 2018 wegen Vorliegens einer Aufenthaltsehe abgewiesen worden und das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde mit Erkenntnis vom 25. März 2021 als unbegründet abgewiesen habe. „Mit Straferkenntnis der LPD vom 27.03.2019“ sei über den [Revisionswerber] wegen Verletzung des § 120 Abs. 1a FPG iVm § 31 Abs. 1 und Abs. 1a FPG eine näher bezifferte Geldstrafe verhängt worden, weil er sich am 12. Februar 2019 als Fremder mangels gültigen Aufenthaltstitels nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten habe. Die dagegen erhobene Beschwerde habe das Verwaltungsgericht Wien mit Erkenntnis vom 19. Juli 2019 als unbegründet abgewiesen.

9In rechtlicher Hinsicht erwog das Verwaltungsgericht (u.a.), der Revisionswerber halte sich seit mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet auf. Es könne nicht davon ausgegangen werde, dass der Revisionswerber die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt habe, um sich sozial oder beruflich zu integrieren. Auch wenn man in der Zwischenzeit vom Bestehen eines Ehelebens im Sinn des Art. 8 EMRK ausgehe, sei das Gewicht des Familienlebens dadurch maßgeblich relativiert, als sich der Revisionswerber und seine Ehefrau seit deren Kennenlernen der Unsicherheit des weiteren Aufenthalts in Österreich bewusst gewesen seien.

10 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Die belangte Behörde erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht sei seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen, weil es die gemäß Art. 8 EMRK erforderliche Interessenabwägung nicht im Rahmen der von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätze vorgenommen und sich mit den insoweit maßgeblichen Umständen nicht auseinandergesetzt habe.

12 Damit erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

13Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 14.8.2024, Ra 2022/17/0061, mwN).

14Das bedeutet jedoch nicht, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalts eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. VwGH 29.1.2024, Ra 2021/17/0149, mwN).

15Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. wiederum VwGH 29.1.2024, Ra 2021/17/0149, mwN).

16 Eine solche Unvertretbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung liegt im vorliegenden Fall jedoch vor. Das Verwaltungsgericht hat eine derartige Prüfung vorgenommen, dabei aber der langen (mit gewissen Unterbrechungen) fast 16 jährigen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich nicht die ihr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung zugemessen.

17Der Verwaltungsgerichtshof geht nämlich in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 25.5.2023, Ra 2021/21/0007, mwN).

18 Dass sich im gegenständlichen Fall der Revisionswerber überhaupt nicht integriert hätte, kann nicht gesagt werden. So wurde dem Revisionswerber vom Verwaltungsgericht insbesondere zugestanden, seit vielen Jahren als Selbständiger zur Sozialversicherung gemeldet gewesen zu sein, sowie dass nun offenbar doch vom Bestehen eines Ehelebens mit seiner Ehefrau auszugehen sei, wobei die diesbezüglichen (dislozierten) Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis nicht zweifelsfrei verständlich sind und zudem auch keine zeitliche Einordnung und keine näheren Ausführungen zur Intensität enthalten (vgl. näher oben Rn. 9). Gerade dieser Teil des Privatund Familienlebens des Revisionswerbers in Österreich, mag er auch erst zwischenzeitig entstanden sein, wäre aber zu seinen Gunsten zu berücksichtigen gewesen (vgl. neuerlich VwGH 25.5.2023, Ra 2021/21/0007, mwN).

19 In diesem Zusammenhang rügt die Revision (u.a.) zurecht, dass das Verwaltungsgericht „hinsichtlich der Beziehung des Revisionswerbers mit seiner Ehegattin keinerlei genaueren Feststellungen getroffen“ habe, was aber für die vorzunehmende Interessenabwägung Bedeutung haben könnte.

20 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänzegemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrenvorschriften aufzuheben.

21 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.

22Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

23 Im fortgesetzten Verfahren wird das Verwaltungsgericht im Hinblick auf das Erfordernis präziserer Feststellungen zum (allfälligen) Eheleben des Revisionswerbers auch zu beachten haben, dass es selbst zunächst erkennbar in Entsprechung der Verpflichtung zur Erforschung der materiellen Wahrheit die Einvernahme der Ehegattin des Revisionswerbers für erforderlich gehalten hatte, was sich aus der von ihm getroffenen Ladungsverfügung vom 10. Juni 2022 ergibt. Warum es die Aufnahme dieses Beweises ungeachtet des unentschuldigten Fernbleibens der Zeugin dennoch, dies im Widerspruch zu dieser Verfügung und zum in der mündlichen Verhandlung vom 21. Juni 2022 gestellten Antrag des Revisionswerbers auf Einvernahme seiner Ehegattin, dennoch für nicht erforderlich hielt, erschließt sich dem Verwaltungsgerichtshof ungeachtet der Begründung, „dass das Privat und Familienleben erst in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten des unsicheren Aufenthalts bewusst waren“, nicht.

Wien, am 9. Dezember 2024