Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des A M in W, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, LL.M, MAS, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen das am 1. März 2021 mündlich verkündete und am 21. April 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, L518 1414130 3/7E, betreffend Nichterteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 und Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der seinen Angaben zufolge am 11. Dezember 1999 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Armeniens, reiste zunächst im Jahr 2002 mit seiner (laut deren und des Revisionswerbers Angaben, von denen im Folgenden ausgegangen wird) Adoptivmutter illegal in das Bundesgebiet ein und wieder aus und im Dezember 2009 wiederum illegal nach Österreich ein, wo die Familie Anträge auf internationalen Schutz stellte, die letztlich der Asylgerichtshof im Beschwerdeweg (jeweils) mit Erkenntnis vom 21. Juni 2011 in Verbindung mit einer Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Armenien rechtskräftig abwies.
2 Danach verblieb die Familie in Österreich. Am 20. August 2018 stellten der Revisionswerber und seine Adoptivmutter jeweils einen Antrag gemäß § 55 AsylG 2005 auf Erteilung eines „Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK“.
3 Mit Bescheid vom 2. Dezember 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 ab, erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 3 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Armenien zulässig sei. Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für die freiwillige Ausreise von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt. Unter einem wies das BFA den Antrag des Revisionswerbers auf Heilung eines Mangels gemäß § 4 Abs. 1 iVm § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG DV 2005 ab. Der Antrag der Adoptivmutter blieb ebenfalls erfolglos.
4 Die dagegen erhobenen Beschwerden des Revisionswerbers und seiner Adoptivmutter wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
5 Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH). Mit Beschluss vom 25. Juni 2021, E 2229/2821 7, lehnte der VfGH die Behandlung der Beschwerde ab und trat die Beschwerde mit Beschluss vom 22. Juli 2021, E 2229/2021 09 gemäß Art. 144 Abs. 3 B VG dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.
6 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Die belangte Behörde erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit auf das Wesentliche zusammengefasst vor, das Verwaltungsgericht sei seiner Begründungspflicht nicht nachgekommen, weil es die gemäß Art. 8 EMRK erforderliche Interessenabwägung nicht im Rahmen der von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entwickelten Grundsätze vorgenommen und sich mit den insoweit maßgeblichen Umständen nicht auseinandergesetzt habe.
8 Damit erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.
9 Gemäß § 29 Abs. 1 VwGVG sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichts zu begründen. Diese Begründung hat, wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. (vgl. VwGH 12.9.2023, Ra 2020/17/0129, mwN).
10 Demnach sind in der Begründung eines Erkenntnisses die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies im ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche das Verwaltungsgericht im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch der Entscheidung geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte zudem (nur) dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgebenden Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. VwGH 4.3.2020, Ra 2019/02/0227, mwN).
11 Lässt eine Entscheidung die Trennung dieser Begründungselemente in einer Weise vermissen, dass die Rechtsverfolgung durch die Partei oder die nachprüfende Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts maßgeblich beeinträchtigt wird, dann führt ein solcher Begründungsmangel zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung schon aus diesem Grund (vgl. VwGH 24.2.2021, Ra 2020/03/0171; 18.1.2022, Ra 2021/09/0131; jeweils mwN).
12 Der Aufbau eines Erkenntnisses entspricht den Vorgaben des § 17 VwGVG in Verbindung mit § 60 AVG auch dann nicht, wenn die Feststellungen des Verwaltungsgerichtes und die beweiswürdigenden Erwägungen gemischt dargestellt wurden (vgl. VwGH 26.1.2017, Ra 2016/07/0061).
13 Den dargestellten Anforderungen an die Begründung wird das angefochtene Erkenntnis zunächst schon aufgrund der nachstehenden Erwägungen nicht gerecht:
14 Das angefochtene Erkenntnis, das unter einer anderen hg. Zahl auch zu dem Parallelverfahren der Adoptivmutter des Revisionswerbers erging, enthält zwar durchaus Feststellungen zu beiden Personen. Letztlich erschließt sich aber aus der Begründung des Erkenntnisses nicht, in welchem Ausmaß das vorgeworfene Fehlverhalten der Adoptivmutter auch dem Revisionswerber angelastet wird. Auch inwieweit die jedenfalls als intensiver zu betrachtende Integration des Revisionswerbers gegen das durch allfällige Verfehlungen beeinträchtigte öffentliche Interesse abgewogen wurde, ist durch die konstante Vermengung der die beiden Personen betreffenden Verfahren nicht erkennbar. Schließlich ist aus dem angefochtenen Erkenntnis nicht klar erkennbar, welchen Maßstab an geforderter Integration das Verwaltungsgericht an den Revisionswerber angelegt hat.
15 In seiner Begründung stellte das Verwaltungsgericht unter anderem die Dauer des Aufenthalts in Österreich von elfeinhalb Jahren, wovon jedoch lediglich der Aufenthalt während der Dauer des Asylverfahrens (allerdings nur aufgrund einer vorläufigen asylrechtlichen Aufenthaltsberechtigung) rechtmäßig gewesen sei, fest. Der unbescholtene Revisionswerber habe 2015 die Neue Mittelschule mit ausgezeichnetem Erfolg absolviert, sei aber 2017 in der HTL nicht mehr zum Aufstieg in die nächste Schulstufe berechtigt gewesen. Er übe seit Jänner 2019 ein freiwilliges Praktikum von Montag bis Samstag bei einem Schlüsseldienst aus und liege ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag dieser Firma aus 2021 mit einem Gehalt von brutto EUR 2.220,70 monatlich vor. Der Revisionswerber gehe seit Juli 2018 jeden Sonntag einer ehrenamtlichen Tätigkeit in der „Zweiten Gruft“ nach und spreche sehr gut Deutsch. Auch sei beim Revisionswerber aufgrund seiner altersadäquaten Freizeitgestaltung (Treffen mit Freunden) und dem vorangegangenen Schulbesuch eine gewisse Integration vorhanden. Er sei bereits seit seinem zweiten Lebensjahr nicht mehr in Armenien aufhältig, lebe jedoch erst ca. die Hälfte seiner Lebenszeit in Österreich. Hinsichtlich der Einstellungszusage sei auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst ein Fremder, der (was hier nicht der Fall sei) perfekt Deutsch spreche sowie sozial vielfältig vernetzt und integriert sei, über keine über das übliche Maß hinausgehenden Integrationsmerkmale verfüge und diesen daher nur untergeordnete Bedeutung zukomme.
16 Allerdings war der (damalige) Beschwerdeführer in dem dazu zitierten Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 25. Februar 2010, 2010/18/0029, noch nicht zehn Jahre im Bundesgebiet aufhältig gewesen. Der Revisionswerber befand sich hingegen im Entscheidungszeitpunkt unstrittig bereits elfeinhalb Jahre im Bundesgebiet. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, worauf die Revision zutreffend hinweist, ist in diesem Fall regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden etwa Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen. Diese Rechtsprechung zu Art. 8 EMRK ist auch für die Erteilung von Aufenthaltstiteln relevant (vgl. VwGH 17.3.2016, Ro 2015/22/0016, mwN).
17 Das bedeutet jedoch nicht, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalts eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, sowie dem folgend 27.10.2023, Ra 2023/17/0109, jeweils mwN).
18 Das Verwaltungsgericht hat sich von der ständigen Rechtsprechung zur Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 entfernt:
19 Nach dieser ist bei der Beurteilung, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat oder Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten ist bzw. ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte darstellt, unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. VwGH 15.9.2021, Ra 2021/17/0059, mwN).
20 Die persönlichen Interessen des Fremden an seinem Verbleib in Österreich nehmen grundsätzlich mit der Dauer seines bisherigen Aufenthalts zu. Die bloße Aufenthaltsdauer ist jedoch nicht allein maßgeblich, sondern es ist anhand der jeweiligen Umstände des Einzelfalls zu prüfen, inwieweit der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit dazu genützt hat, sich sozial und beruflich zu integrieren (vgl. VwGH 25.7.2019, Ra 2018/22/0219, mwN).
21 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. etwa VwGH 9.9.2021, Ra 2020/22/0100, mwN).
22 Die vom Verwaltungsgericht durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 31.3.2021, Ra 2020/22/0030, mwN).
23 Eine solche Unvertretbarkeit der verwaltungsgerichtlichen Beurteilung liegt im vorliegenden Fall jedoch vor. Das Verwaltungsgericht hat eine derartige Prüfung vorgenommen, dabei aber der langen Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers in Österreich nicht die ihr nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zukommende Bedeutung zugemessen.
24 Der Verwaltungsgerichtshof geht nämlich in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen ist. Nur wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurde eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bzw. die Nichterteilung eines humanitären Aufenthaltstitels ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 25.5.2023, Ra 2021/21/0007, mwN).
25 Zwar ist nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt bei Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden (vgl. etwa erneut VwGH 15.9.2021, Ra 2021/17/0059, mwN). Dazu zählen etwa das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH 8.8.2023, Ra 2023/17/0116, mwN).
26 Das Verwaltungsgericht hält in diesem Zusammenhang u.a. fest, der Revisionswerber habe seine Anpassungs- und Integrationsfähigkeit durch die vorgelegten Bescheinigungsmittel zu seiner Integration in Österreich bzw. das nicht widerlegte Vorbringen erwiesen. Es könne daher angenommen werden, dass es gerade ihm unter Nutzung dieser Fähigkeit gelingen werde, sich, spiegelbildlich betrachtet, ebenso wie in die österreichische, auch wieder in die Gesellschaft des Herkunftsstaates vollständig zu integrieren.
27 Damit hat das Verwaltungsgericht nicht nur den anzuwendenden Maßstab der Integration bei einem mehr als zehnjährigen Aufenthalt im Inland verkannt, sondern die festgestellte Integration des Revisionswerbers in Österreich sogar gegen ihn verwendet.
28 Des Weiteren verwies das Verwaltungsgericht auf die schlepperunterstützte Einreise der Familie in das Bundesgebiet, das rechtswidrige Verbleiben in diesem sowie insbesondere auf die widersprüchlichen Angaben der Adoptivmutter des Revisionswerbers in den verschiedenen Stadien des Verfahrens sowie auf die im Entscheidungszeitpunkt fortdauernde Verschleierung der Identität der Familienmitglieder. Zwar sei minderjährigen Kindern das Verhalten der Eltern im Rahmen der Interessenabwägung nicht im vollen Umfang vorwerfbar, dennoch sei aber dieses Verhalten nicht unbeachtlich.
29 Wenngleich minderjährigen Kindern dieser Vorwurf nicht zu machen ist, muss das Bewusstsein der Eltern über die Unsicherheit ihres Aufenthalts nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auch auf die Kinder durchschlagen, wobei diesem Umstand allerdings bei ihnen im Rahmen der Gesamtabwägung im Vergleich zu anderen Kriterien weniger Gewicht zukommt (vgl. VwGH 21.5.2019, Ra 2019/19/0136, mwN).
30 In der Zusammenfassung seiner rechtlichen Erwägungen schließlich stellt das Verwaltungsgericht die durchaus unterschiedlichen Grade der Integration des Revisionswerbers und seiner Adoptivmutter den öffentlichen Interessen gegenüber, wobei hier ohne dies explizit offenzulegen erkennbar vor allem der Adoptivmutter des Revisionswerbers vorwerfbares Verhalten dargestellt wird (langer unrechtmäßiger Aufenthalt seit 2011, Erwerb der Deutschkenntnisse bzw. das Setzen der integrativen Schritte „erst einige Jahre nach der Einreise (Deutschkurse 2013, ehrenamtliche Tätigkeiten 2016 und 2018)“, womit der wohl mit Erwerb von Deutschkenntnissen und üblicher Integration verbundene Schulbesuch des Revisionswerbers seit der Einreise nicht gemeint sein konnte). Weiters erwägt das Verwaltungsgericht „insbesondere das in der Beweiswürdigung dargestellte rechtsmissbräuchliche Verhalten der bP im Hinblick auf die Antragstellungen und die fehlende Mitwirkung im Zusammenhang mit der Identitätsfeststellung bzw der Ausstellung von Dokumenten“. Zumal aber in der Beweiswürdigung der Adoptivmutter des Revisionswerbers wesentlich gravierenderes Fehlverhalten vorgeworfen wird, ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit erkennbar, welches konkrete Fehlverhalten dabei dem minderjährigen Revisionswerber auf Basis welcher rechtlichen Abwägungen zugerechnet wird und ob es nach der im Revisionsverfahren durch den Verwaltungsgerichtshof zu überprüfenden Auffassung des Verwaltungsgerichts gegen die in seinem Fall doch beträchtlich stärkere Integration als jene der Adoptivmutter abgewogen wurde.
31 Insgesamt wurden damit in der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses die Feststellungen und die rechtliche Beurteilung hinsichtlich des Revisionswerbers und seiner Adoptivmutter in einem nicht bloß geringfügigen Ausmaß vermengt dargestellt. Deswegen ist für den Verwaltungsgerichtshof nicht zweifelsfrei erkennbar, welches unmittelbar der Adoptivmutter angelastete Verhalten mittelbar oder sogar unmittelbar das Verwaltungsgericht dem Revisionswerber in welchem Ausmaß und aufgrund welcher Begründung zugerechnet hat und gegen welchen Grad der Integration und des zu berücksichtigenden Privatlebens (konkret) des Revisionswerbers das Verwaltungsgericht all dies abgewogen hat.
32 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
33 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Jänner 2024