Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Mag. Berger und Dr. Horvath als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision der K S, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 3/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Juni 2023, W163 1435522 5/6E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Mit Bescheid vom 21. Februar 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl einen Antrag der Revisionswerberin, einer indischen Staatsangehörigen, auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK nach § 55 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 als unzulässig zurück sowie einen Antrag auf Heilung von Formmängeln des erstgenannten Antrags nämlich der fehlenden Vorlage näher bezeichneter Urkunden nach § 4 Abs. 1 Z 3 und § 8 Asylgesetz Durchführungsverordnung 2005 ab. Unter einem wurde eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot von zwei Jahren gegenüber der Revisionswerberin erlassen, eine Frist für ihre freiwillige Ausreise festgelegt und die Zulässigkeit ihrer Abschiebung nach Indien festgestellt.
2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht der dagegen gerichteten Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung insofern statt, als es das Einreiseverbot ersatzlos aufhob. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte es nach Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
Gegen dieses Erkenntnis, soweit damit der Beschwerde nicht stattgegeben wurde, wendet sich die Rechtswidrigkeit des Inhalts geltend machende Revision, in der jedoch eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht aufgezeigt wird.
3 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichts die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
4 Nach § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
5 Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
6 Die Revision wendet sich in der Darlegung ihrer Zulässigkeit gegen die durch das Bundesverwaltungsgericht bei der Erlassung der Rückkehrentscheidung nach § 9 BFA Verfahrensgesetz (BFA VG) iVm Art. 8 EMRK angestellte Interessenabwägung.
7 Eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B VG (vgl. VwGH 21.6.2023, Ra 2023/17/0001, mwN).
8 Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. erneut VwGH 21.6.2023, Ra 2023/17/0001, mwN).
9 Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist zwar nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. VwGH 30.6.2016, Ra 2016/21/0165, sowie 25.11.2022, Ra 2021/17/0026 bis 0029, jeweils mwN).
10 Allerdings hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechende Umstände in Anschlag gebracht werden können. Dazu zählen etwa das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren, oder die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, sowie dem folgend VwGH 20.12.2021, Ra 2021/20/0437, jeweils mwN)
11 Dem Umstand, dass der Aufenthaltsstatus des Fremden ein unsicherer war, kommt zwar Bedeutung zu, er hat aber nicht zur Konsequenz, dass der während unsicheren Aufenthaltes erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist. Allerdings ist der Umstand zu berücksichtigen, dass der Inlandsaufenthalt überwiegend unrechtmäßig war (vgl. erneut VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, mwN).
12 Im Ergebnis bedeutet das, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte nicht zwingend von einem Überwiegen der persönlichen Interessen auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalts eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer (vgl. erneut VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005, sowie dem folgend VwGH 20.12.2021, Ra 2021/20/0437, jeweils mwN).
13 Die Revisionswerberin begründet den Vorwurf der Rechtswidrigkeit der durch das Bundesverwaltungsgericht angestellten Interessenabwägung mit der Dauer ihres Aufenthalts von mehr als zehn Jahren im Bundesgebiet unter besonderer Hervorkehrung ihrer Integrationsleistungen, nämlich ihrer Deutschkenntnisse, der Nachholung des Pflichtschulabschlusses und der ehrenamtlichen Tätigkeit.
14 Das Bundesverwaltungsgericht stellte dem jedoch gewichtend insbesondere entgegen, dass sich die Revisionswerberin zwar seit Mai 2013 im Bundesgebiet aufhalte, dieser Aufenthalt aber bereits seit Abschluss des Verfahrens über ihren Antrag auf internationalen Schutz im August 2014 rechtswidrig gewesen sei. Seither habe sich die Revisionswerberin beharrlich geweigert, das Bundesgebiet zu verlassen und an den notwendigen Handlungen, um für sie indische Reisedokumente zu erlangen, nicht hinreichend mitgewirkt. Hingegen habe sie in Österreich jahrelang auch im genannten Asylverfahren und in einem vorangegangenen Verfahren über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sogar eine falsche Identität gebraucht, um (wiederholt) Versuche des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl zu unterlaufen, für sie ein „Heimreisezertifikat“ zu erwirken, sodass ihr Aufenthalt im Bundesgebiet deswegen nicht habe beendet werden können. Erst im gegenständlichen Verfahren habe sie dem Bundesverwaltungsgericht ihre wahre Identität offenbart und mit indischen Ausweisdokumenten belegt, die ihr schon seit langem vorgelegen seien. Ferner sei die Revisionswerberin wegen ihres rechtswidrigen Aufenthalts im Bundesgebiet bereits nach § 120 Abs. 1a FPG bestraft worden. Im Übrigen berücksichtigte das Bundesverwaltungsgericht, dass die Revisionswerberin bislang nie erwerbstätig gewesen sei und noch über Bindungen zum Herkunftsstaat verfüge. Zudem seien der Lebensgefährte und die gemeinsame Tochter ebenso indische Staatsangehörige und lägen auch, gegen die beiden rechtskräftige Rückkehrentscheidungen vor, sodass eine Rückkehr nach Indien im Familienverband möglich sei.
15 Mit Blick darauf konnte das Bundesverwaltungsgericht im Lichte der vorzitierten Rechtsprechung fallbezogen jedenfalls nicht unvertretbar davon ausgehen, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts der Revisionswerberin im Bundesgebiet die privaten Interessen an einem weiteren Verbleib überwiegt.
16 In der Revision werden keine Rechtsfragen aufgeworfen, denen im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG grundsätzliche Bedeutung zukäme. Die Revision war daher zurückzuweisen.
Wien, am 8. August 2023