JudikaturVwGH

Ra 2022/01/0332 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
05. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser sowie die Hofräte Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision der 1. B S, und des 2. mj. M K, dieser vertreten durch die Erstrevisionswerberin als gesetzliche Vertreterin, beide vertreten durch Mag. Daniela Sylvia Gartner, Rechtsanwältin in 3100 St. Pölten, Domgasse 2, gegen das am 1. September 2022 mündlich verkündete und am 14. Oktober 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zlen. 1. W248 2258188 1/8E und 2. W248 22581871/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers. Beide sind afghanische Staatsangehörige. Sie stellten am 23. Mai 2022 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden vom 7. Juli 2022 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Revisionswerbern jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigen zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) im Instanzenzug nach Durchführung einer mündlichen Verhandlungim Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 die Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht soweit für das Revisionsverfahren relevant aus, die Revisionswerber würden in Afghanistan durch etwaige Feinde des Ehemannes der Erstrevisionswerberin, die Taliban „oder ihre Familienmitglieder“ nicht bedroht oder verfolgt. Der Erstrevisionswerberin drohe nicht allein aufgrund ihres Geschlechts konkrete oder individuelle physische oder psychische Gewalt. Sie habe keine „westliche“ Lebensweise angenommen bzw. verinnerlicht, die einen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde und aufgrund derer sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe asylrelevanter Intensität zu erwarten hätte. Auch bestünden keinerlei andere Verfolgungsgefahren im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan.

5 Zur allgemeinen Lage von Frauen in Afghanistan traf das Verwaltungsgericht auf Basis näher genannter Länderberichte näher dargelegte Feststellungen zum Umgang der Taliban mit Frauen und Mädchen, der bislang noch überwiegend uneinheitlich und von lokalen und individuellen Umständen abhängig sei. Es zeichneten sich jedoch deutliche Beschränkungen bisher zumindest gesetzlich verankerter Freiheiten ab. Das Verwaltungsgericht vertrat die Ansicht, dass ohne Hinzutreten sonstiger Merkmale bzw. Risikofaktoren auch seit der Machtübernahme der Taliban keine generelle asylrelevante Verfolgung in Afghanistan allein aufgrund des Geschlechts bestehe. Es sei kein vernünftiger Grund ersichtlich, dass die Erstrevisionswerberin nun lediglich aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen im Falle einer hypothetischen Rückkehr verfolgt werden sollte.

6 Den Zulässigkeitsausspruch begründete das Verwaltungsgericht nicht näher.

7 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof das Vorverfahren eingeleitet hat. Die belangte Behörde erstattete keine Revisionsbeantwortung.

8Mit Beschluss vom 3. April 2023, Ra 2022/01/0332 bis 0333 17, hat der Verwaltungsgerichtshof das gegenständliche Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 ausgesetzt, weil der Beantwortung der vom Verwaltungsgerichtshof mit den Beschlüssen jeweils vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/02/0028), vorgelegten Fragen auch für die Behandlung der vorliegenden Revision Bedeutung zugekommen ist.

9 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl u.a. (Afghanische Frauen) , hat der EuGH über das Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichtshofes entschieden.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zu der in ihrem Zulässigkeitsvorbringen dargelegten Rechtsfrage, ob afghanischen Frauen seit der Machtübernahme durch die Taliban 2021 aufgrund ihrer Eigenschaft als Frau asylrelevante Verfolgung drohe, zu der (im Zeitpunkt der Einbringung der Revision) Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehle, zulässig.

12 Nach Erlassung des Urteils des EuGH vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C609/22, sind die Erkenntnisse des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425 und Ra 2022/20/0028, ergangen.

13Aus den in diesen Erkenntnissen genannten (gleichlautenden) Entscheidungsgründen, auf die gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen wird, ist die vorliegende Revision auch begründet.

14In Verkennung der dort dargestellten Rechtslage ist das Verwaltungsgericht auch im vorliegenden Fall tragend u.a. davon ausgegangen, dass die Erstrevisionswerberin keine „westliche“ Lebensweise angenommen bzw. verinnerlicht habe, die einen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde und aufgrund derer sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe asylrelevanter Intensität zu erwarten hätte und sich aus näher genannten Länderberichten keine konkreten Anhaltspunkte dahingehend ergeben hätten, dass alle afghanische Frauen gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals der Geschlechtszugehörigkeit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen würden, eine Verfolgung aus einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe ausgesetzt zu sein (vgl. inzwischen etwa VwGH 21.11.2024, Ro 2023/01/0002, Rn. 10, mit Verweis auf VwGH 31.10.2024, Ra 2022/20/0201 bis 0204).

15Das angefochtene Erkenntnis war insoweit gemäß § 42 Abs. 2 Z1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

16Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. etwa VwGH 22.8.2024, Ra 2022/19/0212, 0213, mwN).

17Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich des Zweitrevisionswerbers ebenfalls gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

18Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGHAufwandersatzverordnung 2014. Gemäß § 53 Abs. 1 VwGG ist bei Anfechtung eines Erkenntnisses oder Beschlusses durch mehrere Revisionswerber in einer Revision die Frage des Anspruches auf Aufwandersatz so zu beurteilen, als ob die Revision nur vom erstangeführten Revisionswerber eingebracht worden wäre. Diese Bestimmung gilt jedoch nur für den Fall, dass die Revisionen aller Revisionswerber dasselbe Schicksal teilen, was hier der Fall ist (vgl. etwa VwGH 4.7.2024, Ra 2024/01/0136, 0137, Rn. 28, mwN).

Wien, am 5. Dezember 2024