Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision 1. der B A S und 2. des mj. M K, dieser vertreten durch B A S, beide in S, beide vertreten durch Mag. Daniela Sylvia Gartner, Rechtsanwältin in 3100 St. Pölten, Domgasse 2, gegen das am 1. September 2022 mündlich verkündete und am 14. Oktober 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, Zlen. 1. W248 2258188 1/8E und 2. W248 2258187 1/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Das Revisionsverfahren wird bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union in den Rechtssachen C 608/22 sowie C 609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) sowie EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.
1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers. Beide sind afghanische Staatsangehörige. Sie stellten am 23. Mai 2022 Anträge auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheiden vom 7. Juli 2022 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Revisionswerbern jeweils den Status der subsidiär Schutzberechtigen zu und erteilte ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Instanzenzug nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 die Anträge der Revisionswerber auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab und sprach aus, dass die Revision nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG soweit vorliegend relevant aus, die Revisionswerber würden in Afghanistan durch etwaige Feinde des Ehemannes der Erstrevisionswerberin, die Taliban „oder ihre Familienmitglieder“ nicht bedroht oder verfolgt werden. Der Erstrevisionswerberin drohe nicht allein aufgrund ihres Geschlechts konkrete oder individuelle physische oder psychische Gewalt. Sie habe keine „westliche“ Lebensweise angenommen bzw. verinnerlicht, die einen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde und aufgrund derer sie mit hoher Wahrscheinlichkeit Eingriffe asylrelevanter Intensität zu erwarten hätte. Auch bestünden keinerlei andere Verfolgungsgefahren im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan.
5 Die vorliegende außerordentliche Revision rügt die Abweichung von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung von Frauen aus Afghanistan und macht zudem geltend, dass keine Rechtsprechung zu den vom Verwaltungsgerichtshof mit den im Spruch genannten Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022 an den Gerichtshof der Europäischen Union herangetragenen Rechtsfragen vorliege. Im Übrigen behauptet die Revision unter Anführung näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ein Vorliegen diverser Ermittlungsmängel.
6 Mit den im Spruch genannten Beschlüssen vom 14. September 2022 hat der Verwaltungsgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
„1. Ist die Kumulierung von Maßnahmen, die in einem Staat von einem faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur gesetzt, gefördert oder geduldet werden und insbesondere darin bestehen, dass Frauen
- die Teilhabe an politischen Ämtern und politischen Entscheidungsprozessen verwehrt wird,
- keine rechtlichen Mittel zur Verfügung gestellt werden, um Schutz vor geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt erhalten zu können,
- allgemein der Gefahr von Zwangsverheiratungen ausgesetzt sind, obgleich solche vom faktisch die Regierungsgewalt innehabenden Akteur zwar verboten wurden, aber den Frauen gegen Zwangsverheiratungen kein effektiver Schutz gewährt wird und solche Eheschließungen zuweilen auch unter Beteiligung von faktisch mit Staatsgewalt ausgestatten Personen im Wissen, dass es sich um eine Zwangsverheiratung handelt, vorgenommen werden,
- einer Erwerbstätigkeit nicht oder in eingeschränktem Ausmaß überwiegend nur zu Hause nachgehen dürfen,
- der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen erschwert wird,
- der Zugang zu Bildung gänzlich oder in großem Ausmaß (etwa indem Mädchen lediglich eine Grundschulausbildung zugestanden wird) verwehrt wird,
- sich ohne Begleitung eines (in einem bestimmten Angehörigenverhältnis stehenden) Mannes nicht in der Öffentlichkeit, allenfalls im Fall der Überschreitung einer bestimmten Entfernung zum Wohnort, aufhalten oder bewegen dürfen,
- ihren Körper in der Öffentlichkeit vollständig zu bedecken und ihr Gesicht zu verhüllen haben,
- keinen Sport ausüben dürfen,
im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung) als so gravierend anzusehen, dass eine Frau davon in ähnlicher wie der unter lit. a des Art. 9 Abs. 1 dieser Richtlinie beschriebenen Weise betroffen ist?
2. Ist es für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten hinreichend, dass eine Frau von diesen Maßnahmen im Herkunftsstaat allein aufgrund ihres Geschlechts betroffen ist, oder ist für die Beurteilung, ob eine Frau von diesen in ihrer Kumulierung zu betrachtenden Maßnahmen im Sinn des Art. 9 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU betroffen ist, die Prüfung ihrer individuellen Situation erforderlich?“
7 Der Beantwortung dieser Fragen durch den Gerichtshof der Europäischen Union kommt für die Behandlung der vorliegenden Revision ebenfalls Bedeutung zu. Es liegen daher die Voraussetzungen des gemäß § 62 Abs. 1 VwGG auch vom Verwaltungsgerichtshof anzuwendenden § 38 AVG vor, weshalb das Revisionsverfahren in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat auszusetzen war (vgl. VwGH 26.1.2023, Ra 2022/01/0295 0296; 26.1.2023, Ra 2022/01/0319 0325; jeweils mwN).
Wien, am 3. April 2023