Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Mag. Dr. Pieler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revisionen 1. des D M und 2. der O M, beide vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in 1070 Wien, Burggasse 116, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 5. August 2022, 1. L515 2222616 1/43E und 2. L515 2222617 1/19E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revisionen werden, soweit sie sich gegen die Abweisung der Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten richten, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Das Erkenntnis wird insoweit, als damit die Beschwerden der revisionswerbenden Parteien gegen die übrigen Spruchpunkte der Bescheide (Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte) abgewiesen wurden, hinsichtlich des Erstrevisionswerbers wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes und hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Erstrevisionswerber, ein georgischer Staatsangehöriger, und die Zweitrevisionswerberin, eine ukrainische Staatsangehörige, sind miteinander verheiratet. Sie stellten am 7. Februar 2019 jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Mit Bescheiden vom 19. Juli 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien auf internationalen Schutz zur Gänze ab (Spruchpunkte I. und II), erteilte ihnen keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Abschiebung nach Georgien (in Bezug auf den Erstrevisionswerber) und in die Ukraine (in Bezug auf die Zweitrevisionswerberin) zulässig sei (Spruchpunkt V.), und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde des Erstrevisionswerbers als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei. Die gegen die Spruchpunkte I. bis III. des angefochtenen Bescheides erhobene Beschwerde der Zweitrevisionswerberin wies das BVwG ebenfalls als unbegründet ab, sprach aus, dass die Rückkehrentscheidung bis zum „03.03.2023“ vorübergehend unzulässig sei, behob die Spruchpunkte V. und VI. und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG soweit hier wesentlich aus, dem Erstrevisionswerber drohe bei einer Rückkehr nach Georgien nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner nach Art. 2 und 3 EMRK gewährleisteten Rechte. Hinsichtlich der Entwicklungen in der Ukraine spiele sich das „aktuelle Kriegsgeschehen überwiegend im Südosten des Landes, und nicht flächendeckend“ ab, weshalb der Zweitrevisionswerberin bei der Einreise in ihren Herkunftsstaat, über den Westen des Landes nach Kiew, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit keine Verletzung ihrer Rechte nach Art. 2 und 3 EMRK drohe. Es stehe der Zweitrevisionswerberin frei, die „östlichen Landesteile“ zu meiden.
5 Gegen dieses Erkenntnis richten sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen.
6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen nach Durchführung eines Vorverfahrens (in dem das BFA eine Revisionsbeantwortung erstattete) in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 In den Revisionen wird unter anderem vorgebracht, die Beurteilung des BVwG, wonach die Zweitrevisionswerberin trotz des Krieges in der Ukraine auf dem Landweg unter Umgehung des südöstlichen Territoriums nach Kiew zurückkehren könne, stehe im Widerspruch zur aktuellen Position des UNHCR zur Rückkehr in die Ukraine vom März 2022. Das BVwG habe sich damit nicht auseinandergesetzt. Außerdem sei vom BVwG selbst festgestellt worden, dass sich der russische Angriff zwar auf den Osten und Süden der Ukraine konzentriere, sich jedoch auch auf den Westen erstrecke. Zudem weiche das BVwG von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, wonach es in einer besonderen, durch eine extreme Volatilität auf Grund einer sich äußerst rasch verändernden Sicherheitslage gekennzeichneten Situation nicht ausreiche, wenn momentbezogen eine kriegerische Auseinandersetzung an einem bestimmten Ort verneint werde.
8 Diesem Vorbringen schließt sich auch das BFA in seiner Revisionsbeantwortung im Wesentlichen an. Dem angefochtenen Erkenntnis seien so das BFA keine Feststellungen zu entnehmen, dass sich die Kriegshandlungen nur auf südöstliche Teile der Ukraine beschränkten. Demnach stimme das BFA den Ausführungen der Zweitrevisionswerberin, soweit diese die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten betreffen, zu.
Zu Spruchpunkt I.:
9 Nach Art. 133 Abs. 4 B VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Gemäß § 34 Abs. 1 VwGG sind Revisionen, die sich wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zur Behandlung eignen, ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen. Ein solcher Beschluss ist in jeder Lage des Verfahrens zu fassen (§ 34 Abs. 3 VwGG).
Nach § 34 Abs. 1a VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG an den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG nicht gebunden. Die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG hat der Verwaltungsgerichtshof im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe (§ 28 Abs. 3 VwGG) zu überprüfen.
10 Die vorliegenden Revisionen, die sich zwar gegen das angefochtene Erkenntnis insgesamt richten, enthalten aber in Bezug auf die Abweisung der Beschwerden gegen die Nichtgewährung des Status der Asylberechtigten kein Vorbringen.
Die Revisionen waren daher insoweit schon mangels Darlegung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG zurückzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.:
11 Zulässig und begründet sind die Revisionen jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte richten.
12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes haben die Asylbehörden bei den Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat als Grundlage für die Beurteilung des Vorbringens von Asylwerbern die zur Verfügung stehenden Informationsmöglichkeiten und insbesondere Berichte der mit Flüchtlingsfragen befassten Organisationen in die Entscheidung einzubeziehen. Das gilt ebenso für von einem Verwaltungsgericht geführte Asylverfahren. Auch das BVwG hat daher seinem Erkenntnis die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde zu legen. Bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat können auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben (vgl. VwGH 25.5.2022, Ra 2021/19/0267, mwN).
13 Auch hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt betont, dass den Richtlinien des UNHCR besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden in Bindung an entsprechende Empfehlungen des UNHCR internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das BVwG) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen des UNHCR auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind. Auch den von EASO herausgegebenen Informationen ist bei der Prüfung, ob die Rückführung eines Asylwerbers in sein Heimatland zu einem Verstoß gegen Art. 3 EMRK führen kann sowie ob eine innerstaatliche Fluchtalternative besteht, Beachtung zu schenken (vgl. VwGH 25.1.2022, Ra 2021/19/0109, mwN).
14 Diesen Anforderungen wurde im vorliegenden Fall nicht entsprochen.
Die zweitrevisionswerbende Partei weist zu Recht darauf hin, dass das BVwG die Empfehlungen des UNHCR nicht berücksichtigt hat. In der „UNHCR Position on returns to Ukraine“ vom März 2022 fordert der UNHCR angesichts der volatilen Lage in der Ukraine und des Umstandes, dass diese auf absehbare Zeit unsicher bleiben könne, die Aussetzung der Abschiebungen von Staatsangehörigen und ehemaligen langjährigen Einwohnern der Ukraine. Diese Aussetzung sollte solange bestehen bleiben, bis sich die Sicherheitslage in der Ukraine maßgeblich verbessert habe. Im „Ukraine Situation Flash Update #23“ vom 29. Juli 2022, auf das die Revision verweist, wird ausgeführt, dass der Konflikt zur Zerstörung kritischer Infrastruktur geführt habe, wodurch Millionen von Menschen keinen Zugang zu lebensnotwendigen Dienstleistungen wie medizinischer Versorgung, Wasser , Strom und Gasversorgung hätten.
15 Auch hat der Verfassungsgerichtshof in einer Entscheidung zu einem Erkenntnis des BVwG vom 22. Februar 2022, in dem einer ukrainischen Asylwerberin der Status der subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt wurde, ausgesprochen, dass das Verwaltungsgericht seine aus Art. 2 und 3 EMRK folgende Verpflichtung zu beurteilen, ob für die Beschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat eine reale Gefahr einer Verletzung der genannten Grundrechte, insbesondere eine ernsthafte Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes bestehen würde, verkannt habe. Zusammengefasst führte der VfGH aus, dass schon auf Grund der breiten medialen Berichterstattung über die Entwicklungen in der Ukraine im Februar 2022, die für das BVwG als notorisch gelten können, dieses dazu verhalten gewesen wäre, sich mit der im Entscheidungszeitpunkt volatilen Sicherheitslage in der Ukraine und einer damit verbundenen ernsthaften Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines Konflikts für Angehörige der Zivilbevölkerung wie der Beschwerdeführerin auseinanderzusetzen und dahingehende Ermittlungen anzustellen (vgl. VfGH 2.12.2022, E 602/2022, Rn. 17ff).
16 Ausgehend davon rügt die Zweitrevisionswerberin zu Recht, dass das BVwG bei Berücksichtigung der Empfehlungen des UNHCR zu anderen Feststellungen und in der Folge auch zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte kommen können.
17 Schon deshalb hat das BVwG seine Entscheidung in Bezug auf die Frage, ob der Zweitrevisionswerberin der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen ist, mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Auf das weitere Vorbringen in den Revisionen war daher nicht mehr einzugehen.
18 Das angefochtene Erkenntnis war somit hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Aussprüche gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
19 Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 20.4.2023, Ra 2022/19/0028, mwN).
Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich des Erstrevisionswerbers in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sowie die rechtlich darauf aufbauenden Aussprüche, die ihre Grundlage verlieren, gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
20 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und Z 4 VwGG abgesehen werden.
21 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG, insbesondere § 52 VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 22. August 2024