JudikaturJustiz2Ob119/23y

2Ob119/23y – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. Juni 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie die Hofräte Dr. Nowotny, Hon. Prof. PD Dr. Rassi, MMag. Sloboda und Dr. Kikinger als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Parteien 1. P*, und 2. K*, beide vertreten durch Mag. Friedrich Kühleitner Mag. Franz Lochbichler Rechtsanwälte-Strafverteidiger OG in Schwarzach im Pongau, gegen die beklagte Partei A*, vertreten durch Stolz Weiglhofer-Russegger Rechtsanwälte GmbH in Radstadt, und den Nebenintervenienten auf Seiten der beklagten Partei J*, vertreten durch Dr. Michael Tischler, Rechtsanwalt in Tamsweg, wegen Beseitigung, über die Revision der klagenden Parteien gegen das Urteil des Landesgerichts Salzburg als Berufungsgericht vom 8. März 2023, GZ 22 R 279/22s 32, mit dem einer Berufung der klagenden Parteien gegen das Urteil des Bezirksgerichts St. Johann im Pongau vom 14. Juli 2022, GZ 6 C 663/20w 27, nicht Folge gegeben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die klagenden Parteien sind zur ungeteilten Hand schuldig, der beklagten Partei die mit 1.100,52 EUR (darin enthalten 183,42 EUR USt) sowie dem Nebenintervenienten die mit 1.099,92 EUR (darin enthalten 183,32 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Die Parteien sind Eigentümer unmittelbar aneinander angrenzender Hangliegenschaften, die durch eine auf der weiter unten gelegenen Liegenschaft der Kläger errichteten Trockensteinmauer getrennt sind. Angrenzend an die Trockensteinmauer ließ der Beklagte auf seiner Liegenschaft vom Nebenintervenienten Sträucher und Bäume pflanzen. Die Kläger nutzen den an die Trockensteinmauer angrenzenden Teil ihres Grundstücks als Garten.

[2] In den kommenden fünf Jahren besteht keine Gefahr einer Beeinträchtigung der Trockensteinmauer durch das Wurzelwachstum der Pflanzen. Ob in den darauf folgenden zehn Jahren die Gefahr einer Beschädigung besteht, kann nicht festgestellt werden. Erst in fünfzehn Jahren ist ein verst ärktes Wurzelwachstum im Bauwerk durch die angepflanzten Bäume zu erwarten, das augenscheinlich zutage treten und die Stabilität des Bauwerks beeinträchtigen könnte. Dies führt im schlimmsten Fall zu einem Versagen der Tragfähigkeit und zumindest der Gebrauchstauglichkeit. Darüber hinaus ist langfristig von einer Beeinträchtigung der Qualität der Entwässerungsmaßnahmen der Trockenstein-mauer durch Verwurzelung auszugehen, wozu es zu unkontrollierter Erosion bzw einem Materialaustrag zwischen den Steinen und einer, dauerhaft betrachtet, Beeinträchtigung der Standsicherheit kommt.

[3] Die Vorinstanzen wiesen sowohl das auf Beseitigung des gefährlichen Zustands durch die Wurzeln des Baumbestands als auch das eventualiter auf Unterlassung der Beeinträchtigung der Trockensteinmauer, insbesondere durch das Anpflanzen von Bäumen, deren Wurzeln diese beschädigen könnten, gerichtete Klagebegehren mangels konkreter, unmittelbar drohender Gefährdung durch unmittelbare Zuleitung iSd § 364 Abs 2 zweiter Satz ABGB ab. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass der Beklagte Maßnahmen unterlassen werde, die den erst in ferner Zukunft zu erwartenden Schadenseintritt verhindern. Das Berufungsgericht ließ die ordentliche Revision zur Frage zu, ob nachbarrechtliche Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche bereits dann zu bejahen sind, wenn die Gefahr konkreter Schäden, die kein weiteres Verhalten, sondern bloßes „Naturwirken“ erfordert, zwar feststeht, sich aber erst langfristig verwirklicht.

[4] Die vom Beklagten und seinem Nebenintervenienten beantwortete ordentliche Revision der Kläger ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden (§ 508a Abs 1 ZPO) – Ausspruch des Berufungsgerichts nicht zulässig, weil keine entscheidungserhebliche Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufgezeigt wird.

Rechtliche Beurteilung

[5] 1. Die Revision beschäftigt sich ausschließlich mit der Zulässigkeit des eventualiter gestellten (vorbeugenden) Unterlassungsbegehrens, sodass auf allfällige Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Unterlassungs- und Beseitigungsansprüchen (vgl 4 Ob 257/16x [Nachbarrecht]) sowie die – von den Vorinstanzen verneinten - Voraussetzungen eines Beseitigungsanspruchs nicht mehr einzugehen ist (RS0043352 [T30]).

[6] 2. Das Wachsen von Bäumen oder Pflanzen wird grundsätzlich als natürlicher Vorgang gesehen. Es besteht nach der Rechtsprechung auch keine Verpflichtung, Bäume etc nicht in Grenznähe oder an der Grundgrenze zu pflanzen oder Wurzeln und Äste „rechtzeitig“ abzuschneiden (10 Ob 47/13g Pkt B 3.; vgl auch RS0010641).

[7] 3. Nach § 364 Abs 2 ABGB kann der Eigentümer eines Grundstücks dem Nachbarn die von dessen Grund ausgehenden Einwirkungen durch Abwässer, Rauch, Gase, Wärme, Geruch, Geräusch, Erschütterung und ähnliche insoweit untersagen, als sie das nach den örtlichen Verhältnissen gewöhnliche Maß überschreiten und (kumulativ) die ortsübliche Benutzung des Grundstücks dadurch wesentlich beeinträchtigt wird (RS0010587 [T4]). Sofern dafür kein besonderer Rechtstitel vorliegt, ist eine unmittelbare Zuleitung nach § 364 Abs 2 zweiter Satz ABGB unter allen Umständen, also ohne die Einschränkungen der Wesentlichkeit und Ortsüblichkeit und unabhängig von einer behördlichen Genehmigung unzulässig (RS0115462; RS0010528).

[8] 4. Das Herüberwachsen( lassen) von Wurzeln und Ästen ist in der Regel aber nicht als unmittelbare Zuleitung zu qualifizieren, weil es an einem menschlichen Zutun fehlt (10 Ob 22/21i Rz 29 mwN). Allerdings kann aus einem bloßen Naturwirken durch bewusstes Aufrechterhalten dieses Zustands eine unmittelbare Zuleitung werden, falls dadurch eine Gefährdung für Personen oder Sachen begründet wird (10 Ob 22/21i Rz 30).

[9] 5. Nach dem Inkrafttreten des ZivRÄG 2004 hat die Rechtsprechung den Anwendungsbereich des § 364 ABGB für bestimmte, zuvor allein dem § 422 ABGB unterstellte Sachverhaltskonstellationen geöffnet. Bei „hereinragenden“ Pflanzen gewährt der Oberste Gerichtshof nun (Unterlassungs )Ansprüche nach § 364 ABGB einerseits dann, wenn es durch die Pflanzenteile zu einem die Güter des Nachbarn konkret gefährdenden und deshalb rechtswidrigen Zustand kommt, und zum anderen dann, wenn die Beeinträchtigung unter Bedachtnahme auf das nachbarrechtliche Rücksichtnahmegebot die ortsübliche Benützung des Grundeigentums wesentlich beeinträchtigt und einen unzumutbaren Zustand herbeiführt. Ein Vorrang des § 422 ABGB besteht aber insoweit, als der gefährdende bzw beeinträchtigende Zustand durch die Ausübung des Selbsthilferechts leicht und einfach beseitigt werden kann (10 Ob 22/21i Rz 34 f mwN).

[10] 6. Die vorbeugende Unterlassungsklage soll einer drohenden Rechtsverletzung begegnen. Sie ist somit eine Form des präventiven Rechtsschutzes und daher nur unter besonderen, zusätzlich hinzutretenden Voraussetzungen (dringendes „Rechtsschutzbedürfnis“) zulässig (6 Ob 127/19y Pkt 2.2.). Es bedarf der konkreten Besorgnis einer unmittelbar drohenden Rechtsverletzung (RS0010479; RS0012061; RS0037660 [T1]; 6 Ob 14/22k Rz 25 [„ernstliche und unmittelbar drohende Gefahr einer Immission“]). Ein dringendes Rechtsschutzbedürfnis ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn das Abwarten einer Rechtsverletzung zu einer nicht wieder gutzumachenden Schädigung führen würde (vgl RS0009357). Bei der Beurteilung der Frage, ob die ernste Besorgnis einer Gefährdung vorliegt, sind deren Eintrittswahrscheinlichkeit, das Ausmaß der zu erwartenden Rechtsgutverletzung und die Bedeutung des bedrohten Rechtsguts im Sinne eines beweglichen Systems zu berücksichtigen (RS0009357 [T32]).

[11] Der Kläger muss die tatsächlichen Umstände, die eine ernstlich drohende und unmittelbar bevorstehende Gefahr erstmaliger Begehung begründen, im Einzelnen darlegen und im Bestreitungsfall beweisen. Die bloße theoretische Möglichkeit der Begehung genügt nicht (RS0009357 [T30]).

[12] 7. Die Frage, ob in einem konkreten Fall die tatsächlichen Umstände eine ernstlich drohende und unmittelbar bevorstehende Gefahr einer Schädigung begründen können, ist – abgesehen von Fällen krasser Fehlbeurteilung – keine solche von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO (RS0009357 [T28]). Maßgeblich ist das aufgrund der Umstände des Einzelfalls zu beurteilende Verhalten des Beklagten (vgl 10 Ob 23/07s; 6 Ob 127/19y Pkt 2.2.). Eine krasse Fehlbeurteilung vermag die Revision in diesem Zusammenhang nicht aufzuzeigen.

[13] 8. Allein der Umstand, dass (erst) in 15 Jahren aufgrund des bloßen „Naturwirkens“ die (in ihrem Ausmaß auch nicht konkret feststehende) Gefahr einer Destabilisierung der Trockensteinmauer besteht, rechtfertigt derzeit (noch) keinen vorbeugenden Rechtsschutz. Wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat – liegen keine Anhaltspunkte vor, dass das dafür erforderliche rechtswidrige Verhalten des Beklagten in Form der Unterlassung vorbeugender Maßnahmen bzw des bewussten Wachsenlassen der Wurzeln bis zum Gefahreneintritt überhaupt stattfinden wird. Diesem, auf das konkrete Verhalten des Beklagten abstellende Argument hält die Revision auch nichts Stichhältiges entgegen. Dass der Beklagte die Bäume bzw deren Wurzeln unkontrolliert wachsen lassen und so in 15 Jahren eine Gefahr für Rechtsgüter der Kläger schaffen werde, steht gerade nicht fest.

[14] Mit der eine vorbeugende Unterlassungsklage gegen radioaktive Immissionen eines Atomkraftwerks betreffenden Entscheidung 1 Ob 5/06a ist der vorliegende Sachverhalt nicht vergleichbar. Zwar kann dem Bedrohten – im Sinn des beschriebenen beweglichen Systems (vgl Pkt 6.) – schon bei einem weniger hohen Grad der Wahrscheinlichkeit nicht zugemutet werden, einen Eingriff in seine Rechtssphäre abzuwarten, wenn schwerwiegende und irreversible Folgen zu erwarten sind. Im vorliegenden Fall fehlen aber gerade Anhaltspunkte für ein (zukünftiges) rechtswidriges bewusstes Aufrechterhalten des Wurzelwachstums bis zum Gefahreneintritt im Sinn einer unmittelbaren Zuleitung.

[15] 9. Die Revision vermag daher im Ergebnis keine Rechtsfrage der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO aufzuzeigen.

[16] 10. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte und (zumindest implizit) auch der Nebenintervenient haben auf die Unzulässigkeit der Revision hingewiesen (RS0112296).

Rechtssätze
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