JudikaturJustiz13Os93/06k

13Os93/06k – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Dezember 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. Dezember 2006 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rouschal als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Ratz, Hon. Prof. Dr. Schroll, Mag. Hetlinger und Mag. Lendl als weitere Richter in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Kikinger als Schriftführer in der Strafsache gegen Gernot T***** wegen des Verbrechens der erpresserischen Entführung nach § 102 Abs 2 Z 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten gegen das Urteil des Geschworenengerichtes beim Landesgericht Innsbruck vom 10. Juli 2006, GZ 22 Hv 55/06x-59, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin des Generalprokurators, Generalanwältin Dr. Sperker, sowie des Angeklagten Gernot T***** und seines Verteidigers Dr. Wechselberger zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde wird verworfen.

Der Berufung wird nicht Folge gegeben.

Dem Angeklagten fallen auch die Kosten des Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen, auf dem Wahrspruch der Geschworenen beruhenden Urteil wurde Gernot T***** des Verbrechens der erpresserischen Entführung nach § 102 Abs 2 Z 1 StGB (1.) und des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs 1 StGB (2.) schuldig erkannt. Danach hat er am 19. Jänner 2006 in Jenbach

1. in der Absicht, Dritte zur Übergabe von Bargeld zu nötigen, sich des am 19. Mai 1994 geborenen, sohin unmündigen Sohnes der Heidi K*****, der am Hintereingang zum Billa-Markt auf das Eintreffen seiner Mutter gewartet hatte, dadurch bemächtigt, dass er - mit einer Strickmütze mit Sehschlitzen maskiert - den Buben mit seinem rechten Arm um den Hals erfasste, ihn in den Schwitzkasten nahm und ihn festhielt, während er ihm gleichzeitig eine täuschend echt aussehende, mitgeführte Spielzeugpistole an den Hals hielt und ihn unter Drohgebärden mit der Pistole in die Geschäftsräumlichkeiten bis zum Stiegenabgang drängte, wo er die Mitarbeiter der Filiale des Billa-Marktes Heidi K*****, Sabine K***** und Christian M***** durch die wiederholte sinngemäße Äußerung „Geld her, sofort!" zur Herausgabe von Bargeld aufforderte;

2. dadurch, dass er sich des am 19. Mai 1994 geborenen, sohin unmündigen Sohnes der Heidi K*****, der am Hintereingang zum Billa-Markt auf das Eintreffen seiner Mutter gewartet hatte, bemächtigte, indem er - mit einer Strickmütze mit Sehschlitzen maskiert - den Buben mit seinem rechten Arm um den Hals erfasste, ihn in den Schwitzkasten nahm und ihn festhielt, während er ihm gleichzeitig eine täuschend echt aussehende, mitgeführte Spielzeugpistole an den Hals hielt und ihn unter Drohgebärden mit der Pistole in die Geschäftsräumlichkeiten bis zum Stiegenabgang drängte, wo er die angeführten Mitarbeiter der Filiale des Billa-Marktes durch die wiederholte sinngemäße Äußerung „Geld her, sofort!" zur Herausgabe von Bargeld aufforderte, sohin mit Gewalt gegen den Sohn der Heidi K***** und durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben (§ 89 StGB) dieser und den weiteren Verfügungsberechtigten der Billa-Filiale Sabine K***** und Christian M***** eine fremde bewegliche Sache, nämlich ca 1.600 Euro Bargeld, mit dem Vorsatz abgenötigt, sich durch deren Zueignung unrechtmäßig zu bereichern. In Ansehung des auf das Vergehen der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB lautenden Punktes II. der Anklage hat der Schwurgerichtshof, nachdem die Geschworenen die anklagekonforme Hauptfrage 3. verneint hatten, in der Hauptverhandlung die (Teil-) Aussetzung der Entscheidung gemäß § 334 Abs 1 StPO beschlossen.

Rechtliche Beurteilung

Der - ausdrücklich nur gegen den Schuldspruch 1. gerichteten - aus Z 4, 5, 6, 8, 11 lit a und 12 des § 345 Abs 1 StPO ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt keine Berechtigung zu. Zwar zeigt die Verfahrensrüge (Z 4) zutreffend auf, dass eine Protokollierung von Verlesung, Vorführung oder Vortrag des „wesentlichen Akteninhalts" der Vorschrift des § 271 Abs 1 Z 5 StPO nicht gerecht wird (RIS-Justiz RS0110681). Die aus Z 4 des § 345 Abs 1 StPO unter Bezug auf § 271 StPO vorgetragene Kritik, das Protokoll lasse nicht erkennen, welche konkreten Aktenstücke verlesen wurden, weshalb die Beurteilung der Zulässigkeit der Verlesung einzelner Aktenstücke nicht erfolgen könne, scheitert allerdings am Gebot deutlicher und bestimmter Bezeichnung nach § 285a Z 2 StPO. Protokollierungsmängel können aus Z 4 des § 345 Abs 1 StPO nämlich nicht geltend gemacht werden (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 262). Welche sonstigen Verfahrensvorschriften durch die Verlesung oder unterbliebene Verlesung welcher konkreten Aktenteile verletzt wurden, legt der Beschwerdeführer nicht dar (vgl auch 14 Os 101/98, 11 Os 141/05b).

Der weitere Einwand eines Verstoßes gegen das Individualisierungsgebot des § 260 Abs 1 Z 1 StPO (Z 4) zufolge fehlender Feststellungen zur inneren Tatseite im Hinblick auf das „Sich-Bemächtigen" des Minderjährigen verkennt, dass es im Erkenntnis keines Hinweises auf den Vorsatz des Verurteilten bedarf, soweit - wie hier - § 7 Abs 1 StGB einen zur Anwendung gelangenden Tatbestand ergänzt (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 283). In Bezug auf das vermisste Referat weiterer Tatsachen, nämlich Tatzeit, Uhrzeit und Dauer der Anhaltung des Tatopfers, macht die Beschwerde nicht deutlich, weshalb diese Umstände im konkreten Fall zur Individualisierung der Taten erforderlich sein sollten (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 290; 15 Os 38/03). Die Fragenrüge (Z 6) erblickt einen bei der Abfassung der Hauptfrage

1. unterlaufenen Verstoß gegen das Individualisierungs- und Konkretisierungsgebot des § 312 StPO in der Unterlassung der Aufnahme der (nach Ansicht des Beschwerdeführers nur wenige Minuten umfassenden) Dauer der Bemächtigung.

Zur Bedeutung der Dauer der Gewaltanwendung zur Erfüllung des Tatbestandes der erpresserischen Entführung nach § 102 Abs 1 StGB in der Deliktsform des Sich-Bemächtigens hat der Oberste Gerichtshof - entgegen der Lehrmeinung von Bertel/Schwaighofer (BT I4 § 102 StGB Rz 3 und 6 [aktuell: BT I9 § 102 StGB Rz 3 und 6]) und Schwaighofer (WK § 102 Rz 9 [nunmehr: WK² § 102 Rz 11]) sowie unter Bezugnahme auf Kienapfel (BT I2 § 102 Rz 7 ff und die dort zitierte Judikatur) - ausgeführt, es komme „dem Zeitmoment nur insofern Bedeutung zu, als ein bloß kurzfristiges und flüchtiges Festhalten in der Regel gar nicht geeignet sein wird, beim Opfer und beim Dritten den Eindruck einer ernstzunehmenden, sich die Entscheidung über Leib und Leben anmaßenden Geiselherrschaft zu erwecken" (EvBl 1990/86; EvBl 1997/204 - s. auch Leukauf/Steininger Komm3 § 102 RN 6 f; Schmoller, SbgK § 102 Rz 21; Kienapfel/Schroll BT I5 § 102 RN 7; Lewisch BT² S 101).

Die Aufnahme der dem betroffenen Deliktsmerkmal entsprechenden tatsächlichen Gegebenheiten, die aktuell in der Anhaltung eines Unmündigen durch „in den Schwitzkasten nehmen", Bedrohung mit einer Pistolenattrappe und Drängen von der Straße in den Geschäftsbereich der Billa-Filiale bestanden, in die an die Geschworenen gerichtete Frage, ermöglicht mit Blick auf diese gefestigte Rechtsprechung die Subsumtion des von den Geschworenen ihrem Wahrspruch zugrunde gelegten Sachverhaltes und deren Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof im Rechtsmittelverfahren gar wohl, sodass - der Auffassung des Beschwerdeführers zuwider - der Bestimmung des § 312 StPO ausreichend Rechnung getragen wurde (vgl dazu Schindler, WK-StPO § 312 Rz 24; zur Konkretisierung im allgemeinen auch Ratz, WK-StPO § 345 Rz 27 ff).

Der Oberste Gerichtshof sieht sich nicht veranlasst, von der oben dargestellten Rechtsansicht in bezug auf die Dauer des „Sich-Bemächtigen" in § 102 StGB abzugehen, weshalb die Instruktionsrüge (Z 8) mit dem Einwand, der Schwurgerichtshof habe „das Zeitmoment unvollständig dargestellt", keine Unrichtigkeit oder einer Unrichtigkeit gleichkommende Unvollständigkeit der den Geschworenen erteilten Rechtsbelehrung aufzuzeigen vermag. Denn es ist stets nur eine einzige rechtsrichtige (d.h. eine - auf den Zeitpunkt der Belehrung bezogen - mit der Rechtsansicht des über die Instruktionsrüge entscheidenden Senats übereinstimmende) Belehrung zu erteilen; auf unterschiedliche Meinungen in Schrifttum und Rechtsprechung ist dabei nicht einzugehen (vgl Ratz, WK-StPO § 345 Rz 60).

Aus Z 5 erweist sich die Argumentation des Beschwerdeführers schon deshalb als nicht stichhältig, weil es der Verfahrensrüge am Erfordernis einer Antragstellung bis zur Verkündung des Urteils gebricht (Ratz, WK-StPO § 281 Rz 302, 309; RIS-Justiz RS 0099250). Unberechtigt ist in diesem Zusammenhang auch der Beschwerdevorwurf, die Vorgangsweise des Schwurgerichtshofes würde eine Weiterentwicklung der Rechtsprechung in Richtung der vom Rechtsmittelwerber zitierten Lehrmeinungen verhindern; dementgegen eröffnen Instruktions- und Rechtsrüge dem Angeklagten hinreichende Möglichkeiten, die erstgerichtliche Entscheidung einer Überprüfung durch den Obersten Gerichtshof zuzuführen, der an Präjudizien nur im Rahmen des § 8 OGHG gebunden ist.

Aufgrund der seiner Ansicht nach kurzen Dauer der „Bemächtigung" strebt der Beschwerdeführer letztlich - nominell aus Z 8, der Sache nach aus Z 12 (vgl 14 Os 55/98 mwN) - zufolge „Subsidiarität" des Verbrechens der erpresserischen Entführung im Verhältnis zu jenem des Raubes seine Verurteilung ausschließlich wegen § 142 StGB an, ohne Gründe darzulegen, die die Annahme rechtfertigen, der Gesetzgeber habe - trotz fehlender diesbezüglicher Anordnung - an Stelle einer prinzipiell anzunehmenden Idealkonkurrenz stillschweigend Subsidiarität vorausgesetzt (vgl dazu Ratz in WK² Vorbem zu §§ 28-31 Rz 37). Damit wurde aber die angestrebte rechtliche Konsequenz bloß behauptet und nicht methodisch vertretbar aus dem Gesetz abgeleitet (vgl zum Ganzen Ratz, WK-StPO § 281 Rz 584, 588).

Da § 102 StGB in bezug auf das Tatbestandselement des „Sich-Bemächtigens" - entgegen der im Rechtsmittel vertretenen Auffassung - wie bereits oben dargestellt kein über § 5 Abs 1 zweiter Teilsatz StGB hinausgehendes Vorsatzerfordernis enthält, war dieses zufolge § 7 Abs 1 StGB in der an die Geschworenen gestellten Hauptfrage enthalten, sodass die - auf Z 11 lit a und 12 (richtig nur Z 11 lit a) des § 345 Abs 1 StPO gestützte - Behauptung eines Rechtsfehlers infolge fehlender Feststellung der subjektiven Tatseite nicht am tatsächlichen Inhalt des Wahrspruches Maß nimmt. Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur zu verwerfen.

Das Geschworenengericht verhängte über den Angeklagten eine Freiheitsstrafe von elf Jahren.

Dabei wertete es das Zusammentreffen von zwei Verbrechen als erschwerend, den bisher ordentlichen Lebenswandel des Angeklagten, seine eingeschränkte Dispositionsfähigkeit, die großteils geständige Verantwortung und die Schadensgutmachung durch Sicherstellung der Beute dagegen als mildernd.

Mit seiner gegen den Strafausspruch gerichteten Berufung strebt der Angeklagte eine Herabsetzung des Strafausmaßes unter Anwendung des § 41 StGB an.

Entgegen dem Berufungsvorbringen haben die Tatrichter sowohl die bisherige Unbescholtenheit des Angeklagten als auch seine geständige Verantwortung ausreichend gewichtet und auch seiner - im Rechtsmittel neuerlich hervorgehobenen - schwierigen finanziellen und persönlichen Gesamtsituation vor der Tat durch die Annahme des Milderungsgrundes eingeschränkter Dispositionsfreiheit ausreichend Rechnung getragen. Diese wurde nämlich nach der Expertise der Sachverständigen Dr. Karin Treichl durch die beschriebenen Lebensumstände hervorgerufen (ON 54, darin insbeonders S 179). Die briefliche Entschuldigung bei den Tatopfern fällt als Milderungsgrund nicht ernsthaft ins Gewicht. Das bloße Anbot von Entschädigungszahlungen wirkt sich nicht mildernd aus (Ebner in WK² § 34 Rz 33).

Dazu kommt die vom erkennenden Gericht unerwähnt gelassene, unter dem Aspekt des § 32 StGB gleichwohl schulderhöhende Erfüllung beider Varianten (Gewalt und gefährliche Drohung) des alternativen Mischtatbestandes des Raubes (vgl Ebner in WK² § 33 Rz 2) sowie des - im hier gegenständlichen Fall des § 102 Abs 2 Z 1 vom Gesetz nicht verlangten - Einsatzes der Tatmittel der Gewalt und gefährlichen Drohung bei der erpresserischen Entführung.

Das Geschworenengericht hat dem Schuld- und Unrechtsgehalt, der durch beträchtlichen Handlungsunwert gekennzeichnet war, zutreffend Bedeutung beigemessen, indem es ausgehend von den angeführten Strafzumessungsgründen eine - ohnehin an der Untergrenze des gesetzlichen Strafrahmens ausgemessene - Sanktion von elf Jahren verhängte, sodass sich der Oberste Gerichtshof nicht zu einer Strafreduktion veranlasst sah und für eine außerordentliche Strafmilderung kein Raum blieb.

Die Kostenersatzpflicht des Angeklagten beruht auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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