JudikaturJustiz12Os80/23s

12Os80/23s – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. Oktober 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. Oktober 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Solé als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Oshidari, Dr. Brenner, Dr. Haslwanter LL.M. und Dr. Sadoghi in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Besic in der Strafsache gegen * B* wegen Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen sowie im Verfahren zur strafrechtlichen Unterbringung des Genannten in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 2 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Betroffenen gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien als Schöffengericht vom 23. Mai 2023, GZ 56 Hv 36/23g 122.2, nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld werden zurückgewiesen.

Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde werden das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, in Punkt 2. des Schuldspruchs, demzufolge auch im Strafausspruch (einschließlich der Vorhaftanrechnung) und in der Anordnung der Unterbringung in einem forensisch therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 2 StGB sowie der gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO gefasste Beschluss aufgehoben und die Sache in diesem Umfang zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landesgericht für Strafsachen Wien verwiesen.

Der Betroffene wird mit seiner Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe auf diese Entscheidung verwiesen.

Dem Betroffenen fallen auch die Kosten des bisherigen Rechtsmittelverfahrens zur Last.

Text

Gründe:

[1] Mit dem angefochtenen Urteil wurde der Betroffene (vgl § 429 StPO, der zwischen Unterbringung nach Abs 1 oder Abs 2 des § 21 StGB nicht differenziert) * B* der Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 StGB (1./A./) und der Vergehen der Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB (1./B./ und 2./) schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Zudem ordnete das Erstgericht wegen der zu 1./A./ angeführten Tat die Unterbringung des Genannten in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 2 StGB an (US 2).

[2] Danach hat er

1./ am 12. Juni 2022 in W* Nachgenannte durch gefährliche Drohung zu Handlungen genötigt, zu B./ zu nötigen versucht, und zwar

A./ * Bu* und * L* durch die Äußerung: „Schleicht‘s euch von da, sonst werdet ihr den Abend nicht mehr erleben!“, und dadurch, dass er mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von circa 15 cm in der Hand vor das Haus trat und auf Bu* zulief, zur Beendigung ihrer Tätigkeit und zum Verlassen der Örtlichkeit, wobei er die Nötigung beging, indem er mit dem Tod drohte;

B./ im Anschluss an die zu 1./A./ angeführte Handlung Bu* durch die eine Verletzung am Körper ankündigende Äußerung: „Wenn du nicht das Foto löschst, dann wirst du den Abend nicht überleben!“ zum Löschen des von ihm gemachten Fotos;

2./ von 10. bis 11. Juli 2022 in der Justizanstalt W* die Justizwachebeamten * H* und * K* durch gefährliche Drohung „zu einer Handlung“ zu nötigen versucht, indem er sie aufforderte, ihm Psychopax zu bringen, andernfalls er den anderen in seinem Haftraum befindlichen Insassen Gewalt zufügen werde, wobei er seiner Forderung dadurch Nachdruck verlieh, dass er mit seinen Fäusten lautstark gegen die Haftraumtür schlug und gegen diese trat.

Rechtliche Beurteilung

[3] Dagegen richtet sich die auf § 281 Abs 1 Z 3 StPO gestützte Nichtigkeitsbeschwerde des Betroffenen, der keine Berechtigung zukommt.

[4] Der Verfahrensrüge (Z 3) zuwider begründet der Umstand, dass der psychiatrische Sachverständige unmittelbar nach Schluss der Verhandlung (§ 257 StPO) entlassen wurde (ON 122.1, 45), keine Verletzung des § 434d Abs 2 StPO:

[5] Nach § 439 Abs 2 StPO in der Fassung vor Inkrafttreten des Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetzes 2022 (BGBl I 2022/223) durfte die Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 2 StGB (bei sonstiger Nichtigkeit) nur nach Beiziehung (zumindest) eines psychiatrischen Sachverständigen angeordnet werden. Aufgrund der durch das Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz 2022 neu eingeführten Bestimmung des § 434d Abs 2 StPO ist nunmehr im Verfahren zur Unterbringung (nach der neuen Terminologie) in einem forensisch-therapeutischen Zentrum (auch) nach § 21 Abs 2 StGB „der Hauptverhandlung für die gesamte Dauer“ ein Sachverständiger beizuziehen.

[6] Die Beiziehung eines Sachverständigen zur Hauptverhandlung erfolgt durch dessen Vernehmung oder durch Verlesung von Befund und Gutachten nach Maßgabe des § 252 Abs 1 Z 2 und 4 StPO (15 Os 30/22h, 14 Os 25/21i; vgl auch Ratz , Verfahrensführung und Rechtsschutz² Rz 663 f). Aus der Wendung „für die gesamte Dauer“ ergibt sich bei logisch systematischer Auslegung (vgl RIS-Justiz RS0008787), dass eine Beiziehung durch Verlesung von Befund und Gutachten im Regelungsbereich des § 434d Abs 2 StPO nicht mehr in Betracht kommt (vgl zur alten Rechtslage RIS-Justiz RS0101664, RS0101782 [T3]; Danek/Mann , WK StPO § 241 Rz 7; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 260; Hinterhofer/Oshidari , Strafverfahren Rz 10.126; krit zur Beiziehung durch Verlesen von Befund und Gutachten Murschetz , WK-StPO § 430 Rz 8 und § 439 Rz 5 f; Stiebellehner in LiK StPO § 430 Rz 22 und § 439 Rz 11; Bertel/Venier , StPO² § 430 Rz 3 und § 439 Rz 1; Schwaighofer , Zur Sachverständigenbestellung im Unterbringungsverfahren [Teil I], RZ 2022, 219 [224]; vgl demgegenüber die ErläutRV 1789 BlgNR XXVII. GP 19, wonach § 434d StPO den Bestimmungen des § 430 [unter anderem] Abs 4 StPO idF vor BGBl I 2022/223 entspreche).

[7] Da sich die Hauptverhandlung aber ebenfalls nicht in der Vernehmung des Sachverständigen erschöpfen kann, liegt § 434d Abs 2 StPO ein erweitertes Verständnis des Begriffs „bei[...]ziehen“ zugrunde. Damit ist nicht nur die Vernehmung des Sachverständigen (maW die Aufnahme des Sachverständigenbeweises), sondern auch dessen Anwesenheit in der Hauptverhandlung gemeint. Der Sachverständige soll in die Lage versetzt sein, die für die Erstattung von Befund und Gutachten notwendigen Informationen zu erhalten (vgl § 127 Abs 1 zweiter Satz StPO; Murschetz , WK-StPO § 430 Rz 8 [„Beobachtung des Betroffenen in der Hauptverhandlung“]; zum Recht des Sachverständigen auf Akteneinsicht Hinterhofer , WK-StPO § 127 Rz 75). Das Erfordernis der Anwesenheit entkleidet ihn also nicht seiner Funktion als Beweismittel (vgl dazu RIS-Justiz RS0040641; Hinterhofer , WK-StPO § 126 Rz 10 und 15; zum anders gelagerten Fall des gemäß § 165 Abs 3 zweiter Satz StPO mit der Befragung beauftragten Sachverständigen Ratz , Verfahrensführung und Rechtsschutz² Rz 136).

[8] Die Hauptverhandlung beginnt mit dem Aufruf der Sache (§§ 239, 304 StPO) und dauert jedenfalls bis zum Schluss der Verhandlung (§§ 257, 319 StPO; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 149). Nach §§ 268, 341 StPO erfolgt die Urteilsverkündung „in öffentlicher Sitzung“, sodass das Gesetz grundsätzlich zwischen den Begriffen „Verhandlung“ und „Sitzung“ unterscheidet (anders hingegen die synonyme Verwendung in § 234 StPO). In einzelnen Regelungsbereichen der StPO wird aber der Zeitraum vom Schluss der Verhandlung bis zur Rechtsmittelbelehrung als Teil der Hauptverhandlung gesehen, so etwa bei der Anwesenheit des Verteidigers „während der ganzen Hauptverhandlung“ (§ 281 Abs 1a StPO; vgl RIS-Justiz RS0098019; zur Vorgängerbestimmung des § 434d Abs 1 StPO Murschetz , WK-StPO § 433 Rz 7) oder der „Öffentlichkeit der Hauptverhandlung“ (vgl Danek/Mann , WK-StPO Vor §§ 228–279 Rz 2/2 mit weiteren Beispielen für das engere und weitere Begriffsverständnis; ohne diese Differenzierung für letzteres RIS Justiz RS0098214 und Lendl , WK StPO § 257 Rz 1).

[9] Ausgehend vom zuvor geschilderten, in der Information des Sachverständigen liegenden Schutzzweck zeigt sich, dass § 434d Abs 2 StPO die Anwesenheit des Sachverständigen nach Schluss der Verhandlung (§§ 257, 319 StPO; vgl zur Zulässigkeit von Anträgen im Schlussvortrag Danek/Mann , WK-StPO § 238 Rz 4 mit Judikaturnachweis) nicht vorschreibt, der Begriff „Hauptverhandlung“ also nicht auch die Urteilsverkündung und die Rechtsmittelbelehrung einbezieht (ebenso im Ergebnis Guggenbichler , Sachverständige 2023, 98).

[10] Mit Blick auf die Stellungnahme der Generalprokuratur sei der Vollständigkeit halber bemerkt, dass § 434d Abs 1 StPO das Erfordernis der Anwesenheit des Verteidigers bis zur Rechtsmittelbelehrung mit der Wendung „während der gesamten Hauptverhandlung“ zum Ausdruck bringt. Da diese Bestimmung aber das Recht des Betroffenen auf Verteidigerbeistand „in jeder Lage des Verfahrens“ (§ 7 Abs 1 zweiter Halbsatz iVm § 429 StPO [vgl Haslwanter , WK-StPO § 7 Rz 22 und 24]) sicherstellen soll, ihr somit ein zu § 434d Abs 2 StPO anderer Schutzzweck zugrunde liegt, bedeutet der in beiden Regelungen verwendete Begriff „Hauptverhandlung“ nicht dasselbe (vgl zu aufgrund des unterschiedlichen Regelungszwecks hier nicht vorliegenden Zweifelsfällen RIS-Justiz RS0008797).

[11] Die Nichtigkeitsbeschwerde war daher bei der nichtöffentlichen Beratung gemäß § 285d Abs 1 StPO sofort zurückzuweisen.

[12] Auf diese Weise war auch mit der von der Erklärung, „volle Berufung“ zu erheben (ON 122.1, 48), umfassten, im kollegialgerichtlichen Verfahren aber nicht vorgesehenen (§ 283 Abs 1 StPO) Berufung wegen des Ausspruchs über die Schuld zu verfahren (§ 296 Abs 2 iVm § 294 Abs 4 StPO).

[13] Aus Anlass der Nichtigkeitsbeschwerde überzeugte sich der Oberste Gerichtshof davon, dass das angefochtene Urteil im Schuldspruch zu 2. mit nicht geltend gemachter materieller Nichtigkeit (Z 9 lit a) behaftet ist, die dem Betroffenen zum Nachteil gereicht und daher von Amts wegen wahrzunehmen war (§ 290 Abs 1 zweiter Satz erster Fall StPO). Denn mangels Feststellungen zum Bedeutungsinhalt der inkriminierten Äußerung (US 6: „den weiteren im Haftraum befindlichen Insassen Gewalt zuzufügen“) lässt sich nicht verlässlich beurteilen, ob diese Formulierung als (tatbildliche) Drohung mit einer Verletzung am Körper oder bloß als Ankündigung von Misshandlungen aufzufassen ist (vgl RIS-Justiz RS0092373 [T10]).

[14] Dieser Rechtsfehler mangels Feststellungen erforderte die Aufhebung des Urteils und des Beschlusses gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO im aus dem Spruch ersichtlichen Umfang (zur Aufhebung auch des Ausspruchs nach § 21 Abs 2 StGB vgl RIS-Justiz RS0115054 [T4, T5]) schon bei der nichtöffentlichen Beratung (§§ 285e, 290 StPO).

[15] Mit seiner Berufung war der Betroffene auf diese Entscheidung zu verweisen.

[16] Die Kostenentscheidung, die sich nicht auf die amtswegige Maßnahme bezieht (RIS-Justiz RS0101558), gründet sich auf § 390a Abs 1 StPO.

Rechtssätze
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