JudikaturJustiz10ObS374/97s

10ObS374/97s – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. Februar 1998

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr.Bauer als Vorsitzenden und die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr.Ehmayr und Dr.Steinbauer sowie durch die fachkundigen Laienrichter OSR Dr.Friedrich Weinke (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Walter Benesch (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei mj.Florian W*****, geboren am 22.August 1991, vertreten durch seine Mutter Marion W*****, beide *****, vertreten durch Dr.Hans Schwarz, Rechtsanwalt in Wien wider die beklagte Partei Land WIEN, Magistrat der Stadt Wien, Magistratsabteilung 12 - Sozialamt, 1010 Wien, Gonzagagasse 23, vor dem Obersten Gerichtshof nicht vertreten, wegen Pflegegeld, infolge Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgerichtes in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 9.Juli 1997, GZ 9 Rs 102/97d-25, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Arbeits- und Sozialgerichtes Wien vom 30.Jänner 1997, GZ 30 Cgs 140/96i-20, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird teilweise Folge gegeben.

Die Urteile der Vorinstanzen werden dahin abgeändert, daß sie lauten:

Die beklagte Partei ist schuldig, dem Kläger ab 1.9.1995 ein Pflegegeld in Höhe der Stufe 3 nach dem Wiener Pflegegeldgesetz von S

5.690 monatlich, unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe für erheblich behinderte Kinder S 4.865 monatlich zu zahlen. Das Mehrbegehren auf Zahlung eines höheren Pflegegeldes ab 1.9.1995, insbesondere eines solchen in Höhe der Stufe 6, wird abgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 3.623,04 bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten S 603,84 Umsatzsteuer) binnen 14 Tagen bei Exekution zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Der am 22.8.1991 geborene Kläger bezieht sei 1.8.1994 vom beklagten Land auf Grund eines Bescheides vom 31.1.1995 (hinsichtlich der Stufe 2) sowie einer Mitteilung vom selben Tag (hinsichtlich der Stufe 3) ein Pflegegeld nach dem WPGG in Höhe der Stufe 3.

Mit Bescheid der beklagten Partei vom 29.1.1996 wurde der Antrag auf Erhöhung des Pflegegeldes ab 1.9.1995 abgewiesen und ausgesprochen, daß dem Kläger ab 1.9.1995 ein Pflegegeld der Stufe 3 von monatlich S 5.690, unter Anrechnung des halben Erhöhungsbetrages der Familienbeihilfe von monatlich S 4.865 gebührt.

Das Erstgericht gab dem dagegen erhobenen Klagebegehren teilweise statt und erkannte die beklagte Partei schuldig, dem Kläger ab 1.9.1995 ein Pflegegeld der Stufe 4 und ab 1.9.1996 ein solches der Stufe 6 nach dem WPGG zu zahlen. Das Mehrbegehren wurde (rechtskräftig) abgewiesen. Es gelangte zu dem Ergebnis, daß der Pflegebedarf des Klägers durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich betrage (betragen habe) und daß ab 1.9.1996 noch das Erfordernis einer dauernden Beaufsichtigung hinzugekommen sei.

Das Berufungsgericht gab der nur von der beklagten Partei erhobenen Berufung Folge und wies das gesamte Klagebegehren ab. Zu den noch strittigen Fragen führte es aus, allfällige Wutausbrüche des Kindes im Zusammenhang mit seiner Entwicklung seien durch die im Rahmen der Pflege und Erziehung übliche Beaufsichtigung zu bewältigen. Die vom Erstgericht vorgenommene zusätzliche Anrechnung von 25 Stunden wegen der Agressionsneigung des Klägers sei aus rechtlichen Gründen verfehlt. Eine Inkontinenzreinigung sei nicht dreimal, sondern nur zweimal täglich zu veranschlagen, da auch bei einem gesunden 4-jährigen Kind ein nächtliches Einnässen noch durchaus vorkommen könne. Der gesamte Pflegebedarf des Klägers liege damit deutlich unter 180 Stunden monatlich.

Die Revision der klagenden Partei aus dem Grund der unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache ist nicht berechtigt.

Rechtliche Beurteilung

Zunächst führt der Revisionswerber aus, die Aggressionsneigung des Klägers sei der Grund dafür, daß ihn die Mutter auch nicht für nur kurze Zeit unbeaufsichtigt lassen könne. Die für die Gerichte unverbindliche Empfehlung des BMAS vom 13.5.1996, Zl 48.100/25-9/96, veröffentlicht in ARD 4765/36/96, sehe unter "Maßnahmen zur Verhinderung ernsthafter körperlicher Gefahr" bei einer dauernd starken Antriebs- und Stimmungsstörung einen Richtwert von 45 Stunden pro Monat frühestens ab dem 18.Lebensmonat vor. Da es sich beim Kläger um keine dauernde, sondern um eine rezidivierende Aggressionsneigung handle, dabei jedoch durchaus ernsthafte körperliche Gefahr für ihn und auch andere Personen bestehe, sei der vom Erstgericht angenommene Zeitwert von 25 Stunden pro Monat angemessen. Eine Bewältigung auftretender Wutausbrüche durch die im Rahmen der Pflege und Erziehung übliche Beaufsichtigung sei sicherlich unmöglich.

Diesen Überlegungen ist zunächst entgegenzuhalten, daß der zitierte Erlaß des BMAS (zum sogenannten "Kinderbogen") einerseits, wie der Revisionswerber selbst einräumt, nur intern für die Bundessozialämter, nicht aber für die Gericht verbindlich ist, andererseits aber nur für Kinder unter drei Jahren gelten soll, nämlich bei der Abstandnahme von der Altersgrenze des dritten Lebensjahres in besonderen Härtefällen (§ 4 Abs 1 letzter Satz BPGG idF des Art 21 Z 1 Strukturanpassungsgesetz 1996, BGBl 201). Überdies ist nach den Feststellungen davon auszugehen, daß beim Kläger Stimmungsschwankungen mit Neigung zu zeitweiligen Aggressionen insoweit vorliegen, als er sich "wehrt", wenn man von ihm "etwas will" und er in Wut gerät, wenn ihm etwas nicht gelungen ist; dieser Umstand erhöht den Zeitbedarf bei den Verrichtungen des täglichen Lebens, bei denen ihm geholfen werden muß. Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, daß es sich um einen dauernden Zustand handelt, der eine über die notwendige Beaufsichtigung auch von gesunden und normal entwickelten vier- bis fünfjährigen Kindern wesentlich hinausgehende Betreuung erfordert. In diesem Zusammenhang ist auch auf § 3 Abs 3 der WEinstV hinzuweisen, wonach der Pflegebedarf bei Personen zwischen dem dritten und fühnfzehnten Lebensjahr insoweit nicht anzunehmen ist, als die notwendigen Verrichtungen auch von Personen, die sich auf der dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden Entwicklungsstufe befinden, nicht selbständig vorgenommen werden können (vgl SSV-NF 10/96 = SZ 69/210 mwN). Letztlich ist aber ausschlaggebend, daß die Zeit der reinen Beaufsichtigung eines Pflegebedürftigen bei der Ermittlung des Betreuungsaufwandes nach § 1 WEinstV überhaupt nicht in Anschlag zu bringen ist, weil das Erfordernis der dauernden Beaufsichtigung oder eines gleichzuachtenden Pflegeaufwandes nur entscheidend wird, wenn der Pflegebedarf schon ohne diese Beaufsichtigung durchschnittlich mehr als 180 Stunden monatlich beträgt (§ 4 Abs 2 Stufe 6 WPGG, ebenso BPGG) und davon abgesehen nach § 4 WEinstV (ebenso EinstV zum BPGG) die Anleitung und die Beaufsichtigung von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung bei der Durchführung der in den §§ 1 und 2 angeführten Verrichtungen der Betreuung und Hilfe selbst gleichzusetzen, nicht aber darüber hinaus gesondert zu veranschlagen ist (dazu ausführlich 10 ObS 447/97a). Die zuletzt zitierte Bestimmung mit der Anordnung der "Gleichsetzung" zeigt aber auch, daß zwischen Anleitung und Beaufsichtigung auf der einen Seite und Betreuung und Hilfe auf der anderen Seite grundsätzlich ein qualitativer Unterschied besteht. Die Vermeidung der Selbstgefährdung an sich stellt eine "Eigenleistung" jedes - auch behinderten - Menschen dar, die nicht als selbständige Pflegeleistung iSd §§ 1 und 2 EinstV und damit als "pflegebedingte Mehraufwendung" (§ 1 WPGG, ebenso BPGG) durch Pflegegeld abgegolten werden soll.

Ob der Kläger zweimal (wie das Berufungsgericht annahm) oder aber dreimal täglich einer Inkontinenzreinigung bedarf, gehört zum Tatsachenbereich und unterliegt nicht der rechtlichen Prüfung durch den Obersten Gerichtshof. Zu diesen Revisionsausführungen ist daher nicht Stellung zu nehmen.

Berechtigt ist die Revision im Ergebnis nur insoweit, als das Berufungsgericht fälschlich annahm, es habe einer "Wiederherstellung" des angefochtenen Bescheides über ein Pflegegeld der Stufe 3 nicht bedurft. Wie oben dargestellt, wurde der Differenzbetrag zwischen der Stufe 2 und der Stufe 3 des Pflegegeldes seinerzeit nicht mit Bescheid, sondern - im Sinne der damaligen Rechtslage (§ 4 Abs 4 WPGG in seiner Stammfassung) - als privatrechtliche Naturobligation auf Grund einer bloßen Mitteilung ohne Rechtsanspruch und ohne Klagemöglichkeit gewährt (vgl SSV-NF 8/71 zu dem vergleichbaren § 4 Abs 4 BPGG aF; 10 ObS 447/97a). Über den Rechtsanspruch des Klägers auf Pflegegeld der Stufe 3 wurde hingegen erstmals mit dem angefochtenen, durch die Klage jedoch außer Kraft getretenen Bescheid abgesprochen. In teilweiser Stattgebung der Revision war dem Kläger nunmehr das Pflegegeld der Stufe 3 mit Urteil zuzuerkennen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG; der Zuspruch erfolgte in der verzeichneten Höhe.

Rechtssätze
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