Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Schmied, LL.M., über die Revision der S S, vertreten durch Mag. Clemens Lahner, Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. März 2025, I423 22983881/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.446,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine türkische Staatsangehörige und Angehörige der Volksgruppe der Kurden, stellte am 9. Juni 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte sie im Wesentlichen vor, ihre Familie sei aufgrund ihrer politischen Aktivitäten in der Türkei zahlreichen Bedrohungen ausgesetzt gewesen. Zwei ihrer Brüder seien hingerichtet worden. Die Revisionswerberin selbst sei Mitglied der Halkların Demokratik Partisi (HDP) und habe an Demonstrationen teilgenommen.
2Mit Bescheid vom 19. Juli 2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Revisionswerberin auf internationalen Schutz ab, erteilte ihr keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin wies das Bundesverwaltungsgericht mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte soweit für das Revisionsverfahren von Bedeutung fest, die Revisionswerberin sei im Falle einer Rückkehr keiner Verfolgungsgefahr aufgrund ihrer Familienangehörigen in der Türkei ausgesetzt. Ein Aufenthalt im Flüchtlingslager Machmur könne nicht festgestellt werden.
5 In seiner Beweiswürdigung stützte sich das Bundesverwaltungsgericht soweit hier relevant zunächst auf Unstimmigkeiten in den Angaben der Revisionswerberin und eines von der Revisionswerberin vorgelegten Gutachtens dazu, seit wann sich die Revisionswerberin im Flüchtlingslager Machmur aufgehalten habe. Die Revisionswerberin habe zudem die Umstände des Verlassens ihres Heimatortes sowie den Zeitpunkt ihrer Ausreise aus dem Flüchtlingslager nicht stringent schildern können. Ferner befasste sich das Bundesverwaltungsgericht mit einer durch die Revisionswerberin vorgelegten Aufenthaltsbestätigung des Flüchtlingslagers und sprach dieser mit näherer Begründung den Beweiswert ab.
6 Im Zusammenhang mit der vorgebrachten Verfolgung der Revisionswerberin aufgrund ihrer Familienangehörigeneigenschaft verwies das Bundesverwaltungsgericht unter anderem auf Steigerungen im Vorbringen der Revisionswerberin sowie auf Divergenzen in ihren Angaben zu den vermeintlichen Verfolgern und der Inhaftierung ihres Vaters. Es sei nicht plausibel, dass der Vater der Revisionswerberin stünde er tatsächlich im Visier der türkischen Behörden über Jahrzehnte hinweg auf legalem Wege zwischen der Türkei und dem Irak hätte reisen können. Ebenso würden zahlreiche Familienangehörige weiterhin unbehelligt in der Türkei leben. Dass sich die Kernfamilie der Revisionswerberin seit Generationen oppositionell in der Türkei betätige, sei vor dem Hintergrund, dass die Revisionswerberin angegeben habe, ihre Brüder seien nicht politisch aktiv gewesen und auch ihr Vater sei zwar früher Mitglied der Halkın Emek Partisi (HEP) gewesen, nunmehr aber nicht mehr politisch tätig, nicht überzeugend.
7 In rechtlicher Hinsicht folgerte das Bundesverwaltungsgericht, dass der Revisionswerberin in ihrem Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung drohe.
8 Gegen dieses Erkenntnis erhob die Revisionswerberin zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom 5. Juni 2025, E 1038/2025 10, ablehnte und über nachträglichen Antrag dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
9 In der Folge wurde die vorliegende außerordentliche Revision eingebracht, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe die Anträge auf zeugenschaftliche Einvernahme der beiden Brüder der Revisionswerberin unter Vornahme einer vorgreifenden Beweiswürdigung abgelehnt. Zudem habe es das Bundesverwaltungsgericht unterlassen, sich mit einem bereits im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgelegten Video auseinanderzusetzen.
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattetin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
11 Die Revision ist zulässig und begründet.
12Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen. Auch hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier: iVm § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 12.3.2025, Ra 2023/19/0455, mwN; vgl. auch etwa VwGH 25.7.2024, Ra 2023/01/0318, mwN).
13Beweisanträgen ist grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Aufnahme des darin begehrten Beweises im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Dementsprechend dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen (vgl. VwGH 26.2.2025, Ra 2023/19/0006, mwN).
14 Das Bundesverwaltungsgericht begründete die Ablehnung der beantragten Einvernahme eines Bruders der Revisionswerberin als Zeugen damit, dass dem Beweisantrag aufgrund der in der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts dargelegten Vielzahl an Widersprüchen und Unstimmigkeiten in der Aussage der Revisionswerberin nicht zu folgen sei. Die Revisionswerberin habe selbst angegeben, alleine aus der Türkei ausgereist zu sein, weshalb ihr Bruder diesbezüglich keine eigenen Wahrnehmungen haben könne. Der Bruder sei selbst nach Schweden ausgereist, sodass er allenfalls Angaben darüber machen könne, dass die Revisionswerberin 1993 gegebenenfalls kurzzeitig tatsächlich nicht in der Türkei aufhältig gewesen sei. Eigene Wahrnehmungen zu ihrem Verbleib würden jedoch fehlen.
15 Die Ablehnung des Antrages auf Einvernahme eines weiteren Bruders begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass das Beweisthema ein Vorfall im Jahr 2016 gewesen sei, bei welchem der Bruder nach der Revisionswerberin gefragt und dieser unterstellt worden sei, Mitglied der PKK zu sein. Die Einvernahme des Bruders erübrige sich, weil bereits nicht glaubhaft sei, dass sich die Revisionswerberin im Flüchtlingslager Machmur aufgehalten habe und die Unterstellung der Mitgliedschaft bei der PKK auf diesem Vorbringen aufbaue.
16 Soweit sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Begründung zur Ablehnung der Beweisanträge darauf stützte, dass der Bruder der Revisionswerberin keine eigenen Wahrnehmungen zu ihrem Aufenthalt nach ihrer Ausreise aus der Türkei haben könne, erweist sich dies für sich genommen als nicht tragfähig, zumal der in Rede stehende Beweisantrag nicht bloß zum Beweis für den Aufenthalt der Revisionswerberin im Flüchtlingslager Machmur, sondern auch zum Beweis für die vorgebrachten Bedrohungen der Familie der Revisionswerberin durch türkische Sicherheitskräfte gestellt wurde. Weder wurden in diesem Zusammenhang Beweistatsachen als wahr unterstellt, noch ist anhand der Begründung des Bundesverwaltungsgerichts erkennbar, dass es auf die Einvernahme des Bruders nicht ankomme oder diese an sich ungeeignet wäre, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen.
17 Die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts, der Beweisantrag sei aufgrund der näher dargestellten „Vielzahl an Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten“ im Vorbringen der Revisionswerberin abzulehnen, stellt außerdem im Zusammenhang mit dem als unglaubhaft beurteilten Aufenthalt der Revisionswerberin im Flüchtlingslager Machmur dem zentralen Fluchtvorbringen der Revisionswerberin eine vorgreifende Beweiswürdigung dar und vermag das Absehen von der beantragten Einvernahme nicht zu tragen. Da die Begründung für das Absehen von der Einvernahme des anderen Bruders der Revisionswerberin auf der Annahme der Unglaubhaftigkeit des Vorbringens zum Aufenthalt der Revisionswerberin im Flüchtlingslager aufbaut, trägt diese Begründung ebenfalls nicht.
18 Die Revisionswerberin macht zudem zutreffend geltend, dass es das Bundesverwaltungsgericht ohne jegliche Begründung unterließ, sich mit einem bereits im Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl als Beweismittel vorgelegten Video auseinanderzusetzen. Die Revisionswerberin brachte vor, dass einer der Brüder in diesem Video die Verfolgungsgeschichte der Familie schildere und ihren Aufenthalt im Flüchtlingslager Machmur bestätige. Demnach konnte auch dem Inhalt dieses Videos nicht ohne Weiteres die Bedeutung für die Feststellung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes abgesprochen werden.
19Das angefochtene Erkenntnis ist schon aus diesen Gründen mit für den Verfahrensausgang relevanten Verfahrensmängeln behaftet (vgl. etwa VwGH 30.9.2025, Ra 2025/19/0052, mwN).
20Da das Bundesverwaltungsgericht im Falle eines mängelfreien Verfahrens zu einem anderen Ergebnis hätte kommen können, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Vorbringen in der Revision einzugehen war.
21Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
22Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. November 2025
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