JudikaturVwGH

Ra 2023/01/0318 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Juli 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kleiser sowie die Hofräte Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., über die Revision des A H in B, vertreten durch die Lerch Nagel Heinzle Rechtsanwälte GmbH in 6890 Lustenau, Millennium Park 6, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Vorarlberg vom 18. September 2023, Zl. LVwG 2 7/2023 R8, betreffend Maßnahmenbeschwerde in einer Angelegenheit nach dem SPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Bregenz), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Vorarlberg (Verwaltungsgericht) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde des Revisionswerbers wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls und Zwangsgewalt (betreffend die behauptete Rechtswidrigkeit seiner Festnahme durch Organe der belangten Behörde in B. am 10. April 2023) als unbegründet ab, verpflichtete den Revisionswerber zum Kostenersatz, wies seinen Antrag auf Kostenersatz ab und erklärte eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof für unzulässig.

2 Begründend stellte das Verwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst fest, der Revisionswerber und J. H. hätten sich am 10. April 2023 im Bereich einer näher genannten Tankstelle in B. aufgehalten, wo sie mit zwei anderen Personen in einen verbalen und körperlichen Streit geraten seien. Der Revisionswerber und J. H. seien in weiterer Folge in Richtung P Straße gelaufen und von der Polizei angehalten worden. In weiterer Folge habe Insp. K. um 16.20 Uhr gegenüber dem Revisionswerber die Festnahme ausgesprochen. Sodann sei der Revisionswerber zur Polizeiinspektion B. gebracht worden. Um 19.05 Uhr sei er freigelassen worden.

3 Beweiswürdigend hielt das Verwaltungsgericht soweit für den Revisionsfall von Bedeutung fest, die Feststellung des Sachverhaltes sei primär durch die Zeugenaussage des Insp. K. erfolgt. Dieser habe die Situation ausführlich geschildert. Seine Aussage sei umfassend, strukturiert, stringent, widerspruchslos und in Summe absolut glaubwürdig gewesen. Die Aussage des Revisionswerbers habe das Verwaltungsgericht insgesamt nicht überzeugt. Die vom Verwaltungsgericht geladene und auch vom Revisionswerber beantragte Zeugin J. H. habe der Ladung zur mündlichen Verhandlung keine Folge geleistet. Im Zuge der Ladung zur mündlichen Verhandlung seien die Parteien aufgefordert worden, Beweismittel binnen zehn Tagen geltend zu machen. Der Revisionswerber habe außerhalb dieser Frist weitere, näher genannte Personen als Zeugen beantragt. Ein konkretes Beweisthema sei diesbezüglich nicht vorgegeben worden. Es bleibe somit offen, welche konkreten Sachverhaltselemente durch die beantragten Zeugen hätten bewiesen werden sollen. Zu einer als Erkundungsbeweis anzusehenden Einvernahme bzw. Beweisaufnahme sei das Verwaltungsgericht nicht verpflichtet. Im Zuge der mündlichen Verhandlung habe das Verwaltungsgericht das Ermittlungsverfahren für geschlossen erklärt. Ein begründeter Antrag auf Fortsetzung des Ermittlungsverfahrens sei nicht eingebracht worden. Selbst wenn ein solcher eingebracht worden wäre, „liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es der beschwerdeführenden Partei ohne deren Verschulden nicht möglich gewesen wäre, Tatsachen oder Beweismittel zeitgerecht geltend zu machen und durch die beantragte Beweisaufnahme allein oder in Verbindung mit dem sonstigen Ergebnis des Ermittlungsverfahrens voraussichtlich einen im Hauptinhalt des Spruches anders lautenden Bescheid herbeigeführt worden wäre.“ Das Verwaltungsgericht habe sich aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens bereits einen umfassenden Überblick über die Sachlage verschaffen können, weshalb es von der Durchführung einer weiteren Verhandlung abgesehen habe.

4 In rechtlicher Hinsicht führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, die einschreitenden Polizeibeamten hätten den Revisionswerber auf frischer Tat betreten, wobei das Delikt nach § 82 Abs. 1 Sicherheitspolizeigesetz (SPG) in Frage komme. Die Polizeibeamten hätten das Verhalten (aggressives „Benehmen“ während der Amtshandlung) selber wahrgenommen. Der Revisionswerber sei abgemahnt worden. Da er sich weiterhin aggressiv verhalten habe, sei der Festnahmegrund nach § 35 Z 3 VStG gegeben gewesen.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattete in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision bringt in den Ausführungen zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, das Verwaltungsgericht sei durch die unterbliebene Einvernahme der unmittelbaren Tatzeugin J. H. von näher zitierter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur amtswegigen Ermittlungspflicht abgewichen. J. H. hätte sowohl aufgrund des Grundsatzes der amtswegigen Wahrheitsforschung als auch aufgrund des vom Revisionswerber gestellten Beweisantrages einvernommen werden müssen. Dass auch das Verwaltungsgericht ihre Aussage für wesentlich gehalten habe, ergebe sich aus dem Umstand, dass sie zur Verhandlung geladen worden sei. Ihre Einvernahme sei nur deshalb nicht erfolgt, weil sie nicht zum Verhandlungstermin erschienen sei. Die Einvernahme hätte jedenfalls dazu geführt, dass die Gesundheitsschädigung des Revisionswerbers festgestellt und die am 10. April 2023 gegen ihn ausgeübte unmittelbare verwaltungsbehördliche Befehls und Zwangsgewalt für rechtswidrig erklärt worden wäre.

7 Die Revision ist aus diesem Grund zulässig. Sie ist auch begründet.

8 Entsprechend dem Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG iVm § 17 VwGVG ist das Verwaltungsgericht verpflichtet, den zum Zeitpunkt seiner Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt zu ermitteln. Nach dem damit maßgebenden Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit hat das Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig vom Parteivorbringen und von den Parteianträgen den wahren Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise vollständig zu ermitteln (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 26.9.2022, Ra 2021/01/0296, mwN).

9 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist dem AVG eine antizipierende Beweiswürdigung fremd und dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel ohne unzulässige Vorwegnahme der Beweiswürdigung untauglich bzw. an sich nicht geeignet ist, über den beweiserheblichen Gegenstand einen Beweis zu liefern (vgl. etwa VwGH 4.4.2024, Ra 2023/09/0183, mwN).

10 Es ist nicht zulässig, ein vermutetes Ergebnis noch nicht aufgenommener Beweise vorwegzunehmen. Das Vorliegen von nach Meinung des Verwaltungsgerichtes ausreichenden und eindeutigen Beweisergebnissen für die Annahme einer bestimmten Tatsache rechtfertigt nicht die Auffassung, die Vernehmung der zum Beweis des Gegenteils geführten Zeugen sei nicht geeignet, zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen (vgl. VwGH 21.2.2022, Ra 2021/17/0045, mwN).

11 Das Verwaltungsgericht erkannte ursprünglich selbst auch dem Beweisantrag des Revisionswerbers entsprechend die Notwendigkeit einer näheren Abklärung des maßgeblichen Sachverhalts durch Einvernahme der Zeugin J. H.. Eine Begründung, weshalb im Widerspruch dazu von der Einvernahme der beantragten Zeugin letztlich dennoch abgesehen wurde, ist dem angefochtenen Erkenntnis abgesehen vom Hinweis, dass die Zeugin der Ladung keine Folge geleistet habe, nicht zu entnehmen.

12 Das Verwaltungsgericht überging damit einen nicht von vornherein offensichtlich untauglichen Beweisantrag des Revisionswerbers auf Einvernahme einer nach der Aktenlage unmittelbaren Augenzeugin ohne nachvollziehbare Begründung. Wie der Verwaltungsgerichtshof jedoch bereits ausgeführt hat, liegt dem stillschweigenden Übergehen eines beantragten Beweises, solange diesem die grundsätzliche Eignung, zur Feststellung des maßgebenden Sachverhalts beizutragen, nicht abgesprochen werden kann, eine unzulässige vorwegnehmende Beweiswürdigung zu Grunde (vgl. erneut VwGH 21.2.2022, Ra 2021/17/0045; 4.4.2024, Ra 2023/09/0183, jeweils mwN).

13 Dem Umstand, dass die vom Verwaltungsgericht zu ihrer Einvernahme geladene Zeugin J. H. unentschuldigt nicht erschienen ist, wäre allenfalls durch Zwangsmittel im Sinn des § 19 Abs. 3 AVG zu begegnen gewesen. Denn das Absehen von der Einvernahme eines Zeugen, bloß weil dieser nicht erschienen ist, nimmt weder auf die Erforderlichkeit noch die dauerhafte Unmöglichkeit der Beweisaufnahme konkret Bezug und ist daher einem begründungslosen Hinwegsetzen über einen gestellten und nicht von vornherein untauglichen Beweisantrag gleichzuhalten, was sich als unzulässig erweist (vgl. zum Ganzen wiederum VwGH 4.4.2024, Ra 2023/09/0183, mwN).

14 Indem das Verwaltungsgericht ohne nachvollziehbare Begründung von der Einvernahme der zur Verhandlung geladenen, aber nicht erschienenen Zeugin absah und es nicht ausgeschlossen ist, dass es bei Durchführung von deren Einvernahme zu anderen Feststellungen gekommen wäre, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit einem relevanten Verfahrensmangel.

15 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Juli 2024

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