JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0343 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
27. August 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Juli 2023, W121 22662597E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S H), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seine Inhaltes aufgehoben.

1 Die Mitbeteiligte, eine syrische Staatsangehörige, stellte am 25. April 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen auf die allgemeine Bürgerkriegssituation in Syrien stützte.

2 Mit Bescheid vom 7. Dezember 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag der Mitbeteiligten auf Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlungder gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichteten Beschwerde Folge, erkannte der Mitbeteiligten den Status der Asylberechtigten zu und stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass ihr kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme. Unter einem sprach das Verwaltungsgericht aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Das Bundesverwaltungsgericht stellte soweit hier relevant fest, die Mitbeteiligte stamme aus Idlib im Westen Syriens. Sie sei verlobt und habe keine Kinder; ihr Verlobter lebe in Salzburg. Vier Brüder und der Vater der Mitbeteiligten lebten in Syrien. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien bestehe für die Mitbeteiligte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen verfolgt zu werden. Hinzu trete eine Gefährdung wegen ihrer persönlichen Situation als alleinstehende, bisher unverheiratete Frau und es sei mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Mitbeteiligte einer darauf beruhenden Verfolgung, sowie Gewalt ausgesetzt wäre.

5 Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht zu diesen Feststellungen aus, die Mitbeteiligte habe in der mündlichen Verhandlung angegeben, dass Frauen in Syrien im Allgemeinen weder eine Ausbildung erhielten, noch einer Arbeit nachgingen. Frauen hätten kaum Rechte und in ihrer Herkunftsregion Idlib sei die Situation besonders schwer. Die Mitbeteiligte habe nachvollziehbar dargelegt, dass sie aufgrund ihrer persönlichen Situation als unverheiratete Frau, die eine mehrjährige Schulbildung erhalten habe und einen Beruf erlernen wolle, in der überwiegend traditionell-islamischen Gesellschaft Syriens in besonderem Ausmaß von Verfolgung betroffen sei. Den Länderinformationen sei zu entnehmen, dass die syrische Gesellschaft eine konservative patriarchale Gesellschaft mit strengen Normen für Frauen sei. Auch wenn es keine offizielle staatliche Kleiderordnung gebe, bestünden dennoch bestimmte Erwartungen gegenüber Frauen im Hinblick auf ihre Kleidung. Geschiedene und alleinstehende Frauen seien dabei von einem besonderen gesellschaftlichen Stigma betroffen und häufig Opfer von Belästigungen und Gewalt.

6 Die Situation der sozialen Gruppe der Frauen in der syrischen Gesellschaft sei in den letzten Jahren zunehmend schwieriger geworden und Frauen in Gebieten mit aktivem Kriegsgeschehen seien besonders betroffen. Zudem seien Frauen bereits vor 2011 aufgrund des autoritären politischen Systems und der patriarchalischen Werte in der Gesellschaft geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt. Die Grundrechte der syrischen Frauen hätten sich während des Konflikts auf allen Ebenen verschlechtert, sei es in Bezug auf ihre Sicherheit, Bildungschancen oder soziale, wirtschaftliche, gesundheitliche oder psychologische Faktoren. Im Hinblick auf die getroffenen Länderfeststellungen sowie den Angaben der Mitbeteiligten erwiesen sich ihre Rückkehrbefürchtungen als plausibel.

7 In der rechtlichen Beurteilung führte das Bundesverwaltungsgericht soweit hier wesentlich aus, der Mitbeteiligten drohe bei einer Rückkehr nach Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Verfolgung aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen.

8 Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision, die zur Zulässigkeit und in der Sache im Wesentlichen geltend macht, dass es an konkreten Feststellungen fehle, um beurteilen zu können, ob die vom Bundesverwaltungsgericht identifizierten Gefahren tatsächlich mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohten und jene erhebliche Intensität erreichten, bei der sie als Verfolgung zu qualifizieren seien. Eine nachprüfende Kontrolle sei daher nicht möglich. Zudem habe sich das Bundesverwaltungsgericht nicht mit der Andersartigkeit von Frauen als soziale Gruppe in Syrien auseinandergesetzt.

9 Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein; die Mitbeteiligte erstattete keine Revisionsbeantwortung.

10 Mit Beschluss vom 12. Juni 2024 setzte der Verwaltungsgerichtshof das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in der Rechtssache C217/23 über die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. März 2023, EU 2023/0001 (Ra 2022/20/0289), vorgelegten Fragen aus.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof gemäß § 41 VwGG, soweit nicht Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes oder infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften vorliegt, das angefochtene Erkenntnis oder den angefochtenen Beschluss auf Grund des vom Verwaltungsgericht angenommenen Sachverhalts im Rahmen der geltend gemachten Revisionspunkte bzw. der Erklärung über den Umfang der Anfechtung zu überprüfen hat. Somit sind Änderungen der Sachund Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben und daher vom Verwaltungsgericht nicht berücksichtigt werden konnten, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren entzogen (vgl. etwa VwGH 17.4.2025, Ra 2025/19/0021).

12 Die Revision ist zulässig und begründet.

13Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

14 Zur Auslegung des Begriffs der „sozialen Gruppe“ hat sich der Verwaltungsgerichtshof bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung auf Art. 10 Abs. 1 lit. d der StatusRL und die dazu ergangene Rechtsprechung des EuGH bezogen. Damit das Vorliegen einer „sozialen Gruppe“ im Sinn dieser Bestimmung festgestellt werden kann, müssen nach der Rechtsprechung des EuGH zwei kumulative Voraussetzungen erfüllt sein. Zum einen müssen die Mitglieder der Gruppe „angeborene Merkmale“ oder einen „Hintergrund, der nicht verändert werden kann“, gemein haben, oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, „die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten“. Zum anderen muss diese Gruppe in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgegrenzte Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (vgl. etwa VwGH 11.12.2023, Ra 2022/19/0209, mwN).

15 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) hat mit Urteil vom 27. März 2025, C217/23, unter anderem die mit Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom 28. März 2023, EU 2023/0001 (Ra 2022/20/0289), vorgelegten Fragen, nach welchen Kriterien das Vorliegen einer „deutlich abgegrenzten Identität“ im Sinne des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU zu prüfen sei und nach welchen Kriterien sich die Beurteilung, ob im Sinne des Art. 10 Abs. 1 lit. d Richtlinie 2011/95/EU eine Gruppe als „andersartig“ betrachtet werde, beantwortet.

16 Je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen, insbesondere den sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen, können sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen etwa den Umstand, dass Frauen sich einer Zwangsehe entzogen haben oder verheiratete Frauen ihre Haushalte verlassen haben oder auch den Umstand, sich tatsächlich mit dem Grundwert der Gleichheit von Frauen und Männern zu identifizieren , als „einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Sinne von Art. 10 Abs. 1 lit. d Statusrichtlinie zugehörig angesehen werden (vgl. EuGH 27.3.2025, C 217/23, Rn 34).

17Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils mit Erkenntnis vom 12. Mai 2025, Ra 2022/20/0289, mit den Ausführungen des EuGH zur Frage, wann eine Gruppe als eine „bestimmte soziale Gruppe“ gilt, auseinandergesetzt. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieses Erkenntnisses verwiesen.

18 Im vorliegenden Fall ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass die Mitbeteiligte der sozialen Gruppe der Frauen in Syrien angehöre und ihr deshalb im Herkunftsstaat Verfolgung drohe. Es setzte sich jedoch nicht mit den einzelnen Voraussetzungen der Richtlinie 2011/95/EU für die Annahme einer sozialen Gruppe nach den Kriterien der Rechtsprechung des EuGH auseinander.

19 Folglich fehlen im angefochtenen Erkenntnis Feststellungen zu den Merkmalen, zur deutlich abgegrenzten Identität einer solchen Gruppe und deren Andersartigkeit, sowie zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung, die eine Beurteilung zulassen würden, ob der Mitbeteiligten mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung von asylrelevanter Intensität drohe und ihr aus diesem Grund der Status einer Asylberechtigten zuzuerkennen sei.

20Auch die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Mitbeteiligte aufgrund ihrer Situation als alleinstehende, bisher unverheiratete Frau im Fall einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung und Gewalt ausgesetzt sei, trägt die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten an die Mitbeteiligte nicht (vgl. zu den Anforderungen an die Begründung der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte aus der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes etwa VwGH 19.12.2023, Ra 2023/19/0073, mwN).

21 Nach den Länderinformationen hängt das Ausmaß des Risikos alleinstehender Frauen vom sozialen Status und der Stellung der Frau oder ihrer Familie ab. Es ist schon im Hinblick auf die Feststellung des Bundesverwaltungsgerichts, dass in Syrien vier Brüder und der Vater der Mitbeteiligten lebten, und die Ausführungen in der Beweiswürdigung, die Mitbeteiligte stamme aus einer für die syrische Gesellschaft relativ offenen Familie, nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund das Bundesverwaltungsgericht von einer Verfolgungsgefahr der Mitbeteiligten als alleinstehende Frau im Sinne der GFK ausgeht. Eine nähere Prüfung der individuellen Umstände der Mitbeteiligten im Fall der Rückkehr hat das BVwG nicht vorgenommen. Die allgemeinen Ausführungen, dass die Mitbeteiligte nach ihren Angaben in der überwiegend traditionell islamischen Gesellschaft Syriens in besonderem Ausmaß von Verfolgung betroffen gewesen sei, vermögen diese Prüfung nicht zu ersetzten.

22Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 27. August 2025