Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Dr. Pürgy und die Hofrätin Mag. Dr. Pieler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision des M B, vertreten durch Mag. Petra Trauntschnig, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Hegelgasse 13/4/21, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober 2023, W192 2278172 1/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Afghanistan, stellte am 8. Oktober 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, für eine von den Amerikanern unterstützte Organisation namens „COA“ gearbeitet zu haben und nach dem Sturz der Regierung von Verwandten, welche Mitglieder der Taliban seien, erpresst und verfolgt worden zu sein. Der Leiter der Organisation sei „von den Taliban mitgenommen“ worden und nun fürchte auch er um sein Leben.
2 Mit Bescheid vom 16. August 2023 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers hinsichtlich des Status des Asylberechtigten ab, erkannte ihm jedoch den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihm eine auf ein Jahr befristete Aufenthaltsberechtigung.
3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
5 In der Revision wird zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vorgebracht, es liege ein Abweichen von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes vor, weil die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Unrecht unterblieben sei.
6 Die Revision erweist sich in Hinblick auf dieses Vorbringen als zulässig und berechtigt.
7 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 20214/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung zuletzt etwa VwGH 24.10.2024, Ra 2024/19/0222, mwN).
8 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall nicht entsprochen:
9 In der Beschwerde erstattete der Revisionswerber ein neues Tatsachenvorbringen und gab an, dass im Juli 2023, somit nach seiner Einvernahme vor dem BFA, die Taliban sein Haus durchsucht und zwei seiner Brüder mitgenommen hätten. Zudem legte der Revisionswerber mit der Beschwerde seinen Dienstausweis der Organisation „COA“ und einen Haftbefehl der Taliban in Kopie als neue Beweismittel vor. Von einem unsubstantiierten Vorbringen des Revisionswerbers ist vor diesem Hintergrund somit nicht auszugehen.
10 Soweit das BVwG nämlich ausführt, es sei eine notorische Tatsache, dass in Afghanistan Dokumente jeden Inhalts käuflich zu erwerben seien, weshalb die mit der Beschwerde vorgelegten Dokumente die Glaubhaftigkeit der Fluchtgeschichte nicht zu belegen vermögen, ist dem entgegenzuhalten, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht hat, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen. Auch hat der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen, dass ein bloß allgemeiner Verdacht nicht genügt, um im Verfahren vorgelegten Urkunden generell den Beweiswert abzusprechen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die freie Beweiswürdigung gemäß § 45 Abs. 2 AVG (hier: iVm § 17 VwGVG) erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen; eine vorgreifende (antizipierende) Beweiswürdigung, die darin besteht, dass der Wert eines Beweises abstrakt (im Vorhinein) beurteilt wird, ist unzulässig (vgl. VwGH 8.10.2024, Ra 2023/14/0376, mwN). Allein der Umstand, dass das Verwaltungsgericht einen bestimmten Sachverhalt insbesondere die Lage im Herkunftsstaat eines Asylwerbers als „notorisch“ erachtet, genügt daher den Anforderungen an ein mängelfreies Verfahren nicht (VwGH 28.11.2019, Ra 2019/19/0085, mwN).
11 Folglich lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung im gegenständlichen Fall nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des (wie hier gegeben) Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. erneut VwGH Ra 2024/19/0222, mwN).
12 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
13 Die Kostenentscheidung stützt sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. März 2025
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