JudikaturVwGH

Ra 2023/20/0090 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
19. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie den Hofrat Mag. Eder und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Stüger, über die Revisionen 1. der D Q und 2. des R Q, beide vertreten durch Mag. Roman Taudes, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Bauernmarkt 24/15, dieser vertreten durch Dr. Eva Jana Messerschmidt, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Freyung 6/7/2, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes je vom 20. Jänner 2023, 1. W200 2262625 1/7E und 2. W200 22626271/6E, jeweils betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des im Jahr 2019 geborenen Zweitrevisionswerbers. Beide sind Staatsangehörige Afghanistans. Die Erstrevisionswerberin stellte am 25. Februar 2022 für sich und den Zweitrevisionswerber jeweils einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005.

2 Mit den Bescheiden je vom 17. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diese Anträge hinsichtlich der Begehren auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten ab. Unter einem wurde den revisionswerbenden Parteien der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen infolgedessen jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt.

3 Die revisionswerbenden Parteien erhoben gegen die Versagung des Status von Asylberechtigten Beschwerden, in denen u.a. vorgebracht wurde, die Erstrevisionswerberin sei im Herkunftsstaat allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt.

4 Mit den angefochtenen Erkenntnissen wies das Bundesverwaltungsgericht nach Durchführung einer Verhandlung die Beschwerden als unbegründet ab. Unter einem sprach es aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG jeweils nicht zulässig sei.

5 Die Entscheidung begründete das Bundesverwaltungsgericht, soweit hier von Bedeutung, damit, den herangezogenen Länderberichten sei nicht zu entnehmen, dass in Afghanistan alle Frauen gleichermaßen alleine aufgrund ihrer Geschlechtszugehörigkeit einer asylrelevanten Gruppenverfolgung ausgesetzt seien. Daher habe die Erstrevisionswerberin im Fall ihrer Rückkehr keine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt allein aufgrund ihres Geschlechts zu befürchten. Die Erstrevisionswerberin pflege auch keine Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den in Afghanistan allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten darstelle und sie im Fall ihrer Rückkehr der konkreten und individuellen Gefahr aussetze, mit physischer oder psychischer Gewalt bedroht zu werden.

6 Die dagegen erhobenen Revisionen wurden von Bundesverwaltungsgericht samt den Verfahrensakten dem Verwaltungsgerichtshof vorgelegt. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionen das Vorverfahren eingeleitet. Es wurden keine Revisionsbeantwortungen erstattet.

7 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revisionenin einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

8 In den Revisionen wird u.a. geltend gemacht, die Einschätzung der aktuellen Situation von Frauen in Afghanistan durch das Bundesverwaltungsgericht sei unvertretbar. Aus aktuellen Länderberichten ergebe sich, dass Frauen schon für ihr Überleben männlichen Schutz benötigten und insbesondere alleinstehenden Frauen Einschränkungen, körperliche Gewalt und Diskriminierung drohten. Das Bundesverwaltungsgericht habe zudem zahlreiche Berichte, die eine „katastrophale Lage der Frauen, nämlich deren systematische Unterdrückung und Verbannung aus dem öffentlichen Leben in Afghanistan“ seit der Machtübernahme der Taliban aufzeigten, nicht beachtet. Unter Bezugnahme auf die im Zeitpunkt der Einbringung der Revision beim Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) unter den Zlen. C 608/22 und C 609/22 anhängig gewesenen (über Antrag des Verwaltungsgerichtshofes eingeleiteten) Verfahren über die Ersuchen um Vorabentscheidung machen die revisionswerbenden Parteien zudem geltend, das Bundesverwaltungsgericht habe nicht begründet, weshalb es das Beschwerdeverfahren nicht bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union über diese Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt habe.

9 Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Beschluss vom 24. August 2023 die gegenständlichen zulässigen Revisionsverfahren bis zur Entscheidung des EuGH in den dort zu den Zlen. C 608/22 und C 609/22 anhängigen Rechtssachen ausgesetzt.

10 Mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, hat der EuGH diese Fragen beantwortet.

11Nach Erlassung dieses Urteils hat sich der Verwaltungsgerichtshof im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2021/20/0425, und im Erkenntnis vom 23. Oktober 2024, Ra 2022/20/0028, ausführlich mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im hier gegenständlichen Fall erstattet wurde. Gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG wird auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend der Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024, im Fall einer Situation, wie sie im Tenor dieses Urteils geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

13 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im genannten Urteil des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

14 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

15 In Verkennung dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall davon ausgegangen, es sei aus der Berichtslage zur Situation in Afghanistan nicht abzuleiten, dass die Erstrevisionswerberin im Fall ihrer Rückkehr eine konkrete und individuelle physische oder psychische Gewalt allein aufgrund ihres Geschlechts zu befürchten habe.

16Somit erweist sich aus den in den oben erwähnten Erkenntnisses vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes über die Beschwerde der Erstrevisionswerberin gegen die Abweisung ihres Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als inhaltlich rechtswidrig und war gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

17Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen durch den Verwaltungsgerichtshof aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 9.5.2023, Ra 2022/20/0273), weshalb auch das Erkenntnis über die Beschwerde des Zweitrevisionswerbers gegen die Abweisung seines Antrages auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

18Von der in der Revision beantragten Durchführung einer Verhandlung konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

19Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff, insbesondere § 52 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 19. Dezember 2024