JudikaturVwGH

Ra 2023/18/0087 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Oktober 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed und den Hofrat Mag. Tolar als Richter sowie die Hofrätin Dr. Kronegger als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des A A, vertreten durch Mag. Wissam Barbar, Rechtsanwalt in 1110 Wien, Simmeringer Hauptstraße 99/2/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 1. Februar 2023, W158 2264697 1/2E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der damals zehnjährige Revisionswerber, ein syrischer Staatsangehöriger, stellte am 23. März 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheid vom 10. April 2017 erkannte ihm das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Familienverfahren den Status des Asylberechtigten zu und stellte fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme.

2Das Landesgericht für Strafsachen Wien erkannte den Revisionswerber mit Urteil vom 13. Juni 2022 für schuldig durch drei näher umschriebene Tathandlungen im Dezember 2021 und im Jänner 2022 die Verbrechen des Raubes nach § 142 Abs. 1 StGB, durch vier näher umschriebene Tathandlungen im Zeitraum von Dezember 2021 bis April 2022 die Verbrechen des schweren Raubes nach § 142 Abs. 1, § 143 Abs. 1 und § 15 StGB sowie durch weitere nähere umschriebene Tathandlungen die Vergehen der Entfremdung unbarer Zahlungsmittel nach § 241e Abs. 1 StGB und das Vergehen der Nötigung nach § 105 Abs. 1 und § 15 StGB begangen zu haben. Unter Anwendung des § 5 Z 4 JGG wurde der Revisionswerber zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten verurteilt, wobei ein Teil der Strafe von zwölf Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.

3Mit Bescheid vom 22. November 2022 erkannte das BFA dem Revisionswerber gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) den Status des Asylberechtigten ab und stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Es erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zu (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass die Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Syrien unzulässig sei (Spruchpunkt V.), legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.), und erließ gegen den Revisionswerber ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VII.).

4 Gegen die Spruchpunkte I. bis IV. sowie VI. bis VII. dieses Bescheides erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er insbesondere vorbrachte, das BFA habe im Zusammenhang mit der Aberkennung des Status eines Asylberechtigten das Vorliegen der Gemeingefährlichkeit nicht ordnungsgemäß geprüft. Es habe weder die privaten Bindungen des Revisionswerbers in Österreich noch die in der Einvernahme vorgebrachten Zukunftspläne berücksichtigt. Auch damit, dass der Revisionswerber noch minderjährig sei und das Ausmaß seiner Taten nicht habe abschätzen können, habe sich das BFA nicht auseinandergesetzt. Der Revisionswerber spreche perfekt Deutsch und wolle eine Ausbildung zum Installateur machen. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung wurde beantragt.

5Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Spruchpunkte I. bis III. des Bescheides des BFA als unbegründet ab. Hinsichtlich der Spruchpunkte IV., VI. und VII. des Bescheides des BFA setzte das BVwG das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union in der Rechtssache C 663/21 über die zweite der ihm vom Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 20. Oktober 2021, Ra 2021/20/0246, zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen aus. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

6 Zur Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung führte das BVwG aus, das BFA habe ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und seine tragende Beweiswürdigung offengelegt, die auch vom BVwG geteilt werde. Die Sachverhaltsfeststellungen seien in der Beschwerde nicht (substantiiert) bestritten worden; auch die gebotene Aktualität sei gegeben. Es liege ein eindeutiger Fall vor.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

8 Zur Begründung ihrer Zulässigkeit bringt die Revision insbesondere vor, das BVwG sei von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es eine Gefährdungsprognose ohne mündliche Verhandlung durchgeführt habe.

9 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig und begründet.

12Die Aberkennung des dem Revisionswerber mit Bescheid vom 10. April 2017 zuerkannten Status des Asylberechtigten stützten sowohl das BFA als auch das BVwG auf § 7 Abs. 1 Z 1 iVm § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005.

13Der Verwaltungsgerichtshof hat sich im Erkenntnis vom 25. Juli 2023, Ra 2021/20/0246, eingehend mit dem mittlerweile über sein Vorabentscheidungsersuchen ergangenen Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 6. Juli 2023, C-663/21, auseinandergesetzt und dargelegt, welche Prüfschritte bei der Aberkennung des Asylstatus unter Heranziehung der genannten Normen (und unter Bedachtnahme auf die unionsrechtlichen Vorgaben) durchzuführen sind. Insbesondere wurde ausgeführt, es müsse beurteilt werden, ob vom Fremden eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft in Österreich berührt (vgl. Rn. 79 des zitierten Erkenntnisses; zu den dabei zu berücksichtigenden Kriterien vgl. Rn. 80 ff). Gemäß § 43 Abs. 2 VwGG wird auf die nähere Begründung dieses Erkenntnisses verwiesen.

14Im gegenständlichen Fall hat das BVwG die Gemeingefährlichkeit des Revisionswerbers bejaht, ohne eine mündliche Verhandlung durchgeführt zu haben. Zu Recht weist die Revision darauf hin, dass es damit von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht in Asylangelegenheiten abgewichen ist (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, mwN; zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bei Gefährdungsprognosen etwa VwGH 2.3.2023, Ra 2021/18/0006, mwN).

15 So hatte das BFA in seiner Entscheidung keine ordnungsgemäße Gefährdungsprognose im Sinne des bisher Gesagten vorgenommen. Überdies hatte der Revisionswerber in seiner Beschwerde an das BVwG auf persönliche Entwicklungsschritte (seit Begehung der Straftaten im Jugendalter) und auf Umstände seines Privatlebens hingewiesen, die für die Gefährdungsprognose von Bedeutung seien.

16 Bei dieser Ausgangslage durfte das BVwG den Sachverhalt nicht als geklärt ansehen und hätte von einer mündlichen Verhandlung nicht Abstand nehmen dürfen.

17Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und des wie hier gegebenArt. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 18.9.2024, Ra 2024/18/0073, mwN).

18Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

19Von einer Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

20Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Oktober 2024