JudikaturVwGH

Ra 2024/18/0073 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
18. September 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Rieder, über die Revision des S A, vertreten durch Mag. Mona Holzgruber als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch die RIHS Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Kramergasse 9/3/13, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Dezember 2023, W192 2277855 1/2E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der minderjährige Revisionswerber ist Staatsangehöriger Afghanistans und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Er stellte am 18. November 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, Afghanistan wegen der Taliban und des Krieges verlassen zu haben, weil die Taliban ihn und seine Familie mangels Kooperationsbereitschaft verfolgen würden.

2 Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 9. August 2023 wurde der Antrag hinsichtlich des Status des Asylberechtigten abgewiesen, dem Revisionswerber jedoch der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und eine befristete Aufenthaltsberechtigung erteilt. Beweiswürdigend führte das BFA zur Abweisung des Asylantrags lediglich aus, den glaubhaften Angaben des Revisionswerbers sei zu entnehmen gewesen, dass er in Afghanistan zu keiner Zeit persönlich bedroht worden sei. Deshalb könne keine individuelle, gegen ihn gerichtete asylrelevante Bedrohung festgestellt werden.

3 Dagegen erhob der Revisionswerber, vertreten durch den Magistrat der Stadt Wien, Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG), in der er u.a. geltend machte, es sei nicht nachvollziehbar, wenn das BFA davon ausgehe, der Revisionswerber habe nie eine Verfolgung seiner Person vorgebracht. Er habe sich auf die Gefährdung seiner Familie bezogen und damit auch zum Ausdruck gebracht, dass dies ihn miteinschließe. Der Onkel des Revisionswerbers, ein Kommandant bei den Taliban, habe den Vater des Revisionswerbers dazu gedrängt, seine Söhne sollten sich dem Kampf der Taliban anschließen, was dieser abgelehnt habe. Dem Revisionswerber drohe bei Rückkehr, von den Taliban zwangsweise rekrutiert zu werden.

4 Das BVwG wies diese Beschwerde mit dem angefochtenen Erkenntnis ohne Durchführung einer solchen mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe eine gegen ihn individuell gerichtete erfolgte oder drohende asylrelevante Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft machen können. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA habe er sein Vorbringen zu einer Bedrohung durch die Taliban im Vergleich zu seiner Erstbefragung erkennbar gesteigert. Erst im Zuge der Einvernahme habe er ausgesagt, dass sein Onkel ein großer Talibankommandant wäre und vom Vater des Revisionswerbers gefordert habe, dass dessen Söhne mit den Taliban zusammenarbeiten sollten. Zudem seien die Asylanträge der beiden in Österreich lebenden Brüder des Revisionswerbers, die sich letztlich auf dieselbe Bedrohungssituation gestützt hätten, rechtskräftig abgewiesen worden. Sein Vorbringen könne daher nicht als glaubhaft angesehen werden, dies auch unter Berücksichtigung der Minderjährigkeit des Revisionswerbers.

6 Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe unterbleiben können, weil sich das BVwG für seine Feststellungen zur Person des Revisionswerbers und zur Lage in Afghanistan „auf jene der angefochtenen Bescheide gestützt“ habe. Die Beschwerde sei der Richtigkeit dieser Feststellungen und der zutreffenden Beweiswürdigung der Behörde nicht substantiiert entgegengetreten und habe keine neuen Tatsachen vorgebracht. Das BVwG habe daher von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen können.

7 Die vorliegende außerordentliche Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit insbesondere vor, das BVwG habe gegen die Verhandlungspflicht verstoßen.

8 Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision ist zulässig und begründet.

10 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 erster Fall BFA VG nur dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. dazu grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017, 0018, sowie jüngst etwa VwGH 7.5.2024, Ra 2023/18/0003 bis 0010, mwN).

11 Diesen Grundsätzen hat das BVwG im vorliegenden Fall wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird nicht entsprochen:

12 Der Revisionswerber hat in der Beschwerde insbesondere durch Präzisierung seines Vorbringens hinsichtlich der von ihm durch die Taliban drohende Verfolgungsgefahr den durch die Verwaltungsbehörde erhobenen Sachverhalt nicht bloß unsubstantiiert bestritten.

13 Angesichts des Beschwerdevorbringens durfte das BVwG unter Berücksichtigung der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen und hätte eine mündliche Verhandlung durchführen müssen.

14 Hinzu kommt, dass sich das BFA in seiner Beweiswürdigung mit den Angaben des Revisionswerbers zu einer Bedrohung durch die Taliban überhaupt nicht auseinandergesetzt hatte. Das BVwG argumentiert in seiner Beweiswürdigung hingegen mit einem gesteigerten Vorbringen des Revisionswerbers, einer negativen Asylentscheidung über die Anträge seiner Brüder und unter Hinweis auf seine Einvernahme vor dem BFA damit, dass sein Onkel ihm und seinen Brüdern nur „über seinen Vater“ gedroht habe. Es hat somit zu einem wesentlichen Aspekt des Fluchtvorbringens erstmals eine Beweiswürdigung vorgenommen und die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Würdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. etwa VwGH 23.4.2024, Ra 2023/18/0150, mwN).

15 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes im Anwendungsbereich des wie hier gegeben Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa wiederum VwGH 7.5.2024, Ra 2023/18/0003 bis 0010, mwN).

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.

17 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

18 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. September 2024

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