JudikaturVwGH

Ra 2023/17/0078 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
18. März 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofräte Dr. Schwarz und Dr. Terlitza als Richterin und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des J A E in W, vertreten durch Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. April 2023, W215 22252812/11E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein usbekischer Staatsangehöriger, stellte am 20. November 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, ihm drohe private Verfolgung durch einen Polizisten, welcher ihn auch auf eine Fahndungsliste gesetzt habe, bzw. behördliche Verfolgung aufgrund der Asylantragstellung im Ausland.

2Mit Bescheid vom 4. Oktober 2019 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Usbekistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3 Mit Erkenntnis vom 6. Juli 2021 wies das Bundesverwaltungsgericht (Verwaltungsgericht) die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers mit einer hier nicht relevanten Maßgabe als unbegründet ab.

4Die gegen dieses Erkenntnis erhobene Revision wies der Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. September 2021, Ra 2021/19/0315, zurück.

5 Das BFA wies mit Bescheid vom 17. Oktober 2022 den Antrag des Revisionswerbers auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus besonders berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 56 AsylG gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG als unzulässig zurück (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFAVG wurde gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt II.) und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Usbekistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Es wurde weiters ausgesprochen, dass gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.) und dass der Antrag auf Mängelheilung vom 14. Oktober 2021 gemäß § 4 Abs. 1 Z „Zusatz“ (gemeint: Z „3“) iVm § 8 AsylG DV 2005 abgewiesen werde (Spruchpunkt V.).

6 Wie sich aus einem im Verwaltungsakt einliegenden E Mail einer Mitarbeiterin des BFA vom 25. Februar 2022 ergibt, erschien der Revisionswerber am selben Tag zu einem „Termin bei der Botschaft Usbekistan“. Es sei seitens der Botschaft mitgeteilt worden, dass die Überprüfung noch dauern werde.

7 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er im Wesentlichen ausführte, dass er sich nicht erklären könne, warum in seinem Antrag gemäß § 4 AsylG DV formuliert worden sei, dass ihm die nigerianische Botschaft die Ausstellung eines Reisepasses verweigere. Es könne sich nur um ein offenkundiges Versehen handeln. Das BFA habe ihn mit Bescheid vom 16. Februar 2022 verpflichtet, an der Beschaffung eines Passersatzdokumentes mitzuwirken. Am 25. Februar 2022 habe der Revisionswerber ladungsgemäß die Konsularabteilung der usbekischen Botschaft aufgesucht und auftragsgemäß an der Ausstellung eines usbekischen Reisedokuments mitgewirkt. Damit habe der Revisionswerber alle ihm möglichen Schritte der Mitwirkung im Verfahren erfüllt.

8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 23. März 2023 die Beschwerde „gemäß § 56 Abs. 1 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG), in der Fassung BGBl. I Nr. 68/2017, § 58 Abs. 11 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, § 10 Abs. 3 AsylG, in der Fassung BGBl. I Nr. 86/2013, § 9 BFA Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFAVG), in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, § 52 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG), in der Fassung BGBl. I Nr. 110/2019, § 55 FPG, in der Fassung BGBl I Nr. 68/2013, und § 4 Abs. 1 Z 3 Asylgesetz Durchführungsverordnung 2005 (AsylG DV), BGBl. II Nr. 448/2005, in der Fassung BGBl. II Nr. 492/2013, iVm § 8 AsylG DV, in der in der Fassung BGBl. II Nr. 230/2017,“ ab (Spruchpunkt A) und erklärte die Revision für nicht zulässig (Spruchpunkt B).

9 Begründend stellte das Verwaltungsgericht wenngleich disloziert im Rahmen der rechtlichen Beurteilung (u.a.) fest, der Revisionswerber habe „sich jedoch bei der Botschaft seines Herkunftsstaates immer noch keinen usbekischen Reisepass besorgt und als Begründung angegeben, dass ihm die Botschaft Nigerias keinen ausstelle“.

10 Rechtlich würdigte das Verwaltungsgericht diese Feststellungen ergänzend dahingehend, dass der Revisionswerber „aber immer noch keine ausreichenden Anstrengungen unternommen hat, sich z.B. mit Hilfe seiner nach wie vor in der Republik Usbekistan lebenden Ehegattin und/oder seiner anderen in der Republik Usbekistan lebenden usbekischen Verwandten oder mit Hilfe seines legal in Österreich lebenden Bruders ([...])ein usbekisches Identitätsdokument zu besorgen.“ Zusammengefasst sei das BFA somit zu Recht davon ausgegangen, dass die Voraussetzungen gemäß § 58 Abs. 11 AsylG 2005 vorlägen, weshalb die Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des Bescheides abzuweisen sei.

11 Sodann erhob der Revisionswerber die vorliegende außerordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof. Die belangte Behörde erstattete im vom Verwaltungsgerichtshof durchgeführten Vorverfahren keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

12 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, der Revisionswerber habe zu keinem Zeitpunkt eine nigerianische Identität behauptet. Das Verwaltungsgericht habe erstmals und konträr zur Aktenlage festgestellt, dass der Revisionswerber zu einem näher bezeichneten Ladungstermin unentschuldigt nicht erschienen sei. Er habe sehr wohl an einem näher genannten Tag über schriftlichen Auftrag des BFA die usbekische Botschaft zwecks Erlangung eines Heimreisedokuments aufgesucht. Das Verwaltungsgericht vermeine außerdem, der Revisionswerber müsse lediglich seine Verwandten ersuchen, „ihm [gemeint: in Usbekistan] einen Reisepass zu organisieren“, es stelle jedoch keine Überlegungen an, wie es konkret gelingen solle.

13 Damit erweist sich die Revision als zulässig. Sie ist auch begründet.

14 Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung können nicht nur solche des materiellen Rechts, sondern auch solche des Verfahrensrechts sein, so etwa, wenn eine vom Verwaltungsgericht getroffene Annahme in unvertretbarer Weise nicht mit den vorgelegten Akten übereinstimmt, also Aktenwidrigkeit vorliegt.

15Aktenwidrigkeit ist gegeben, wenn die Entscheidung in ihrer Begründung von einem Sachverhalt ausgeht, der sich aus dem Akt überhaupt nicht oder nicht in der angenommenen Weise ergibt, wenn also die Feststellung jener tatsächlichen Umstände unrichtig ist, die für den Spruch der Entscheidung ausschlaggebend sind (vgl. zum Ganzen etwa VwGH 19.12.2024, Ra 2022/22/0024, mwN; s. auch VwGH 10.11.2023, Ra 2021/17/0016).

16 Ein solcher Fall liegt hier vor:

Nach der bereits oben dargestellten Aktenlage (vgl. Rn. 6) nahm der Revisionswerber im Rahmen der ihn nach § 58 Abs. 11 AsylG 2005 treffenden Mitwirkungspflicht jedenfalls am 25. Februar 2022 einen Termin bei der Botschaft von Usbekistan wahr. Dem diesbezüglichen Revisionsvorbringen kommt daher Berechtigung zu.

17 Im Übrigen hat sich das Verwaltungsgericht auch ohne nachvollziehbare Begründung über das nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs plausible Beschwerdevorbringen des Revisionswerbers hinweggesetzt (vgl. oben Rn. 7), dass es sich um ein offenkundiges Versehen handle, wenn er im verfahrenseinleitenden Antrag behauptet habe, dass ihm die nigerianische Botschaft die Ausstellung eines Reisepasses verweigere.

18Der Verwaltungsgerichtshof kann zudem (auch) anhand der im angefochtenen Erkenntnis festgestellten Länderfeststellungen, die zu dieser Frage soweit für den Verwaltungsgerichtshof überblickbar nichts enthalten, die nicht näher begründete, sondern bloß pauschale Annahme des Verwaltungsgerichts nicht nachvollziehen, dass es dem Revisionswerber mit Hilfe von Verwandten möglich gewesen wäre (oben Rn. 10), sich „ein usbekisches Reisedokument zu besorgen“ (vgl. zum Schutz im Herkunftsstaat verbliebener Personen im Übrigen z.B. erneut VwGH 23.9.2021, Ra 2021/19/0315, mwN).

19Deshalb liegt zudem keine schlüssige Beweiswürdigung vor (vgl. etwa VwGH 3.6.2024, Ra 2023/17/0022, mwN [ebenfalls zur Frage der Verletzung der Mitwirkungspflicht]).

20Demnach war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben (vgl. wiederum VwGH 19.12.2024, Ra 2022/22/0024, mwN).

21 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

22Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 18. März 2025