Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Samm sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Marzi als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision der L A, vertreten durch Mag. Thomas Pfaller, Rechtsanwalt in 2340 Mödling, Hauptstraße 47/23, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Niederösterreich vom 2. Februar 2022, LVwG AV 2194/0022021, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde samt Verfahrenshilfeantrag in einer Angelegenheit nach dem NAG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Mödling), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1.1. Die Revisionswerberin, eine syrische Staatsangehörige, ging im Jahr 1996 die Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger ein. Sie hält sich seitdem im Bundesgebiet auf, wobei ihr wiederholt Aufenthaltstitel erteilt wurden. Zuletzt wurde ihr der Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ mit Gültigkeit von 21. März 2018 bis 21. März 2021 erteilt.
1.2. Am 18. März 2021 stellte die Revisionswerberin zunächst einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt-EU“. Mit Eingabe vom 24. Mai 2021 änderte sie ihr Begehren dahingehend ab, dass sie nunmehr die „Erteilung der fünfjährigen Aufenthaltsbewilligung, so wie erfolgt am 16.07.2001“ beantragte und zudem noch weitere Anträge (unter anderem auf „Wiedereinsetzung in den rechtskonformen Stand vor dem 15.07.2006“) stellte.
1.3. Über diese Anträge sprach die Bezirkshauptmannschaft Mödling (im Folgenden: Behörde) mit Bescheid vom 5. November 2021 ab. Eine Ausfertigung dieses Bescheids wurde - laut dem im Verwaltungsakt einliegenden Zustellnachweis (Rückschein) - am 11. November 2021 von einem Mitbewohner an der Wohnanschrift der Revisionswerberin übernommen.
1.4. In der Folge erhob die Revisionswerberin mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2021 gegen den Bescheid Beschwerde (verbunden mit einem Verfahrenshilfeantrag). Wie aus einer im Verwaltungsakt einliegenden diesbezüglichen E-Mail-Sendebestätigung hervorgeht, wurde die Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) am 9. Dezember 2021 per E-Mail an die Behörde, und zwar im Wege der persönlichen E-Mail-Adresse der mit der Angelegenheit befassten Sachbearbeiterin, gesendet. Am 10. Dezember 2021 (Datum der Postaufgabe) wurde der Schriftsatz zusätzlich postalisch an die Behörde übermittelt.
2.1. Mit dem angefochtenen Beschluss vom 2. Februar 2022 wies das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (im Folgenden: Verwaltungsgericht) die Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) als verspätet zurück. Ferner sprach es aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
2.2. Das Verwaltungsgericht führte begründend soweit im Revisionsverfahren von Bedeutung aus, der Bescheid sei der Revisionswerberin am 11. November 2021 rechtswirksam durch Ersatzzustellung ein Zustellmangel sei nicht behauptet worden und auch nicht zu sehenzugestellt worden, die vierwöchige Beschwerdefrist (§ 7 Abs. 4 VwGVG) habe daher mit Ablauf des 9. Dezember 2021 geendet. Die Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) sei erst am 10. Dezember 2021 (Datum der Postaufgabe) und somit verspätet erhoben worden.
3.1. Gegen diesen Beschluss wendet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, in der insbesondere geltend gemacht wird, die Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) sei bereits am 9. Dezember 2021 per E-Mail an die Behörde übermittelt und daher fristgerecht eingebracht worden. Das Verwaltungsgericht habe aktenwidrig eine verspätete Erhebung der Beschwerde erst am 10. Dezember 2021 angenommen.
3.2. Die Behörde erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Angaben der Revisionswerberin über die bereits am 9. Dezember 2021 erfolgte Einbringung der Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) per E-Mail bestätigte. Weiters hob sie hervor, dass sie von der Möglichkeit einer organisatorischen Beschränkung des elektronischen Verkehrs gemäß § 13 Abs. 2 AVG keinen Gebrauch gemacht habe.
4. Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
Die Revision ist zulässig und auch begründet.
5. Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung können nicht nur solche des materiellen Rechts, sondern auch solche des Verfahrensrechts sein, so etwa, wenn eine vom Verwaltungsgericht getroffene Annahme in unvertretbarer Weise nicht mit den vorgelegten Akten übereinstimmt, also Aktenwidrigkeit vorliegt (vgl. etwa VwGH 17.11.2015, Ra 2015/22/0021, Pkt. 3.2., mwN).
Aktenwidrigkeit ist gegeben, wenn die Entscheidung in ihrer Begründung von einem Sachverhalt ausgeht, der sich aus dem Akt überhaupt nicht oder nicht in der angenommenen Weise ergibt, wenn also die Feststellung jener tatsächlichen Umstände unrichtig ist, die für den Spruch der Entscheidung ausschlaggebend sind (vgl. etwa VwGH 5.10.2023, Ra 2023/02/0119, Rn. 5, mwN).
6.1. Ein solcher Fall liegt hier vor:
Nach der bereits oben (Pkt. 1.4.) dargestellten Aktenlage wurde die Beschwerde (samt Verfahrenshilfeantrag) der Revisionswerberin jedenfalls bereits am 9. Dezember 2021 bei der Behörde durch E-Mail-Sendung an die mit der Angelegenheit befasste Sachbearbeiterin eingebracht. Soweit das Verwaltungsgericht diese als rechtswirksam und fristwahrend zu erachtende Einbringung außer Acht ließ und davon ausging, dass die Erhebung der Beschwerde erstmals am 10. Dezember 2021 - und damit verspätet nach Ablauf der vierwöchigen Beschwerdefrist - erfolgt sei, hat es den angefochtenen Beschluss mit Aktenwidrigkeit belastet. Dem diesbezüglichen - auch in der Revisionsbeantwortung als zutreffend bestätigten - Revisionsvorbringen kommt daher Berechtigung zu.
6.2. Demnach war der angefochtene Beschluss gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften (vgl. etwa VwGH 10.12.2013, 2013/22/0229) aufzuheben.
7. Der Ausspruch über den Kostenersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Dezember 2024