Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel sowie Senatspräsidentin Mag. a Nussbaumer Hinterauer und Hofrätin Dr. Holzinger als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Strasser, über die Revision des Bundesministers für Finanzen in Wien, gegen den am 13. Februar 2023 mündlich verkündeten und mit 10. März 2023 schriftlich ausgefertigten Beschluss des Verwaltungsgerichts Wien, VGW 002/011/5095/2022 13, betreffend Übertretung des Glücksspielgesetzes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien, mitbeteiligte Partei: Mag. P B in W, vertreten durch Mag. Michael Binder, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Julius Raab Platz 4), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1 Mit Straferkenntnis vom 7. März 2022 erkannte die Landespolizeidirektion Wien (LPD Wien) den Mitbeteiligten der Übertretung des Glücksspielgesetzes durch Veranstalten von Pokerspielen an einem Pokertisch am 26. März 2021 um 21:08 Uhr in einem näher genannten Palais schuldig und verhängte über ihn eine Geldstrafe von € 1.000, und eine Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag und neun Stunden. Weiters wurden dem Mitbeteiligten Kosten zum Strafverfahren vorgeschrieben. Erkennbar stützte die Behörde dieses Straferkenntnis im Wesentlichen auf die Aussage des Zeugen T.
2 Dagegen erhob der Mitbeteiligte Beschwerde.
3 Mit dem angefochtenen Beschluss stellte das Verwaltungsgericht Wien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung das Verwaltungsstrafverfahren „mangels ausreichendem Nachweis des Tatvorwurfes“ ein. Die Revision erklärte es für nicht zulässig.
4 Zur mündlichen Verhandlung hatte das Verwaltungsgericht den Zeugen T geladen, der aber unentschuldigt nicht erschienen war. Vernommen wurden der Mitbeteiligte und der Zeuge P. Begründend führte das Verwaltungsgericht aus, die vorliegende Beweislage lasse einen Schuldspruch gegen den Mitbeteiligten nicht zu. Weder sei seine Mitwirkung als Veranstalter im Sinne des Spruches des bekämpften Straferkenntnisses noch als „Zugänglichmacher“ im Sinne der Begründung desselben Erkenntnisses oder auch nur seine Intention der Mitwirkung am Glücksspielbetrieb erweislich. Geschweige denn sei der im bekämpften Straferkenntnis unbegründet behauptete nachhaltig erzielte wirtschaftliche Gewinn aus dem illegalen Spielbetrieb erwiesen.
5 Weder die Finanzpolizei noch die LPD Wien hätten für die von der Zeugin B aufgestellten Behauptungen noch für die im Straferkenntnis getroffenen Feststellungen den dazu erforderlichen Nachweis geführt. Hingegen sei es durchaus als im Bereich der Lebenserfahrung liegend anzusehen, dass die Zeugin B namens ihres Arbeitgebers durch die unbewiesenen Anschuldigungen einen Kündigungsgrund betreffend den Mietvertrag mit dem vom Mitbeteiligten als Präsident vertretenen Kulturverein habe schaffen wollen. Die LPD Wien sei schuldig geblieben zu begründen, weshalb sie den Behauptungen des Zeugen T Glauben geschenkt habe.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, hilfsweise wegen Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben. Der Mitbeteiligte beantragte, die Revision zurück , in eventu abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
7 In der Zulässigkeitsbegründung der Revision wird zusammengefasst vorgebracht, das Verwaltungsgericht hätte gemäß näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes den Zeugen T zur Vernehmung vorführen lassen müssen und wäre auf Grund des Amtswegigkeitsgrundsatzes verpflichtet gewesen, Frau B und Herrn B als Zeugen zu laden und einzuvernehmen.
8 Die Revision ist zulässig und berechtigt.
9Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf das Verwaltungsgericht die Einvernahme eines Zeugen nicht allein deshalb unterlassen, weil dieser trotz Ladung nicht erscheint. Vielmehr ist es Pflicht des Verwaltungsgerichts, einen allenfalls unwilligen Zeugen zum Erscheinen und zur Aussage zu zwingen (vgl. VwGH 10.4.2024, Ra 2022/12/0138, mwN).
10Zweck der mündlichen Verhandlung ist es (und zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts gehört es), im Fall zu klärender bzw. einander widersprechender prozessrelevanter Behauptungen, dem auch im § 44 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in der mündlichen Verhandlung die Vorschrift des § 46 Abs. 1 VwGVG zu beachten, wonach in der Verhandlung die zur Entscheidung der Rechtssache erforderlichen Beweise aufzunehmen sind. Das Verwaltungsgericht darf sich demnach nicht mit einem mittelbaren Beweis zufriedengeben, wenn der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegensteht (vgl. ein weiteres Mal VwGH 10.4.2024, Ra 2022/12/0138, mwN).
11 Dass der Einvernahme des Zeugen T ein Hindernis entgegengestanden wäre, hat das Verwaltungsgericht nicht ausgeführt und ist dem Verwaltungsakt auch nicht zu entnehmen.
12Betreffend die weiters vermissten Zeugenbeweise ist festzuhalten, dass gemäß § 38 VwGVG in Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit gelten, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gemäß § 130 Abs. 4 erster Satz BVG (siehe auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst zu entscheiden hat, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem Verwaltungsgericht in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu einfallserforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt (vgl. etwa VwGH 29.1.2024, Ra 2021/17/0095).
13 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht seiner aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst soweit das möglich istfür die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. etwa VwGH 5.7.2021, Ra 2021/17/0060, mwN).
14 Gemäß dieser Rechtsprechung hätte das Verwaltungsgericht aufgrund des geltenden Unmittelbarkeitsgrundsatzes und des Grundsatzes der materiellen Wahrheitsforschung die Zeugin B zu laden und zu vernehmen gehabt. Um alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen, wäre auch der Zeuge B vor dem Verwaltungsgericht einzuvernehmen gewesen, was sich aus dem im Verwaltungsakt erliegenden Aktenvermerk der LPD Wien vom 9. Juni 2021 betreffend das mit diesem geführten Telefonat ergibt.
15Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können, ist das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
16Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 18. November 2024