Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. a Nussbaumer Hinterauer sowie Hofrätin Dr. Holzinger und Hofrätin Mag. Dr. Pieler als Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Strasser, über die Revision des Bundesministers für Finanzen gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes Wien vom 2. September 2024, VGW 002/011/14828/2023 16, betreffend Übertretungen nach dem Glücksspielgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landespolizeidirektion Wien; mitbeteiligte Partei: S F, vertreten durch die Mag. Simon Wallner Rechtsanwalt GmbH in 1010 Wien, Dominikanerbastei 17/11), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
1Mit Straferkenntnis vom 12. Oktober 2023 erkannte die Landespolizeidirektion Wien den Mitbeteiligten einer Übertretung des Glücksspielgesetzes (GSpG) schuldig und verhängte über ihn eine Geldstrafe von € 1.000,(sowie eine Ersatzfreiheitsstrafe von einem Tag und neun Stunden), weil er es zu verantworten habe, dass in einer näher bezeichneten Wohnung in der Zeit vom 1. Oktober bis 1. November 2022, 15:00 Uhr, durch näher beschriebene Vorgänge zur Teilnahme vom Inland aus verbotene Ausspielungen im Sinne des § 2 Abs. 4 GSpG ermöglicht worden seien. Dadurch seien näher bezeichnete Rechtsvorschriften verletzt worden. Der Mitbeteiligte wurde zur Zahlung eines Beitrags zu den Kosten des Strafverfahrens gemäß § 64 VStG in der Höhe von € 100, verpflichtet.
2 Einer gegen dieses Straferkenntnis erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten gab das Verwaltungsgericht Wien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlungmit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis gemäß § 50 Abs. 1 VwGVG iVm § 45 Abs. 1 Z 1 VStG statt und es sprach aus, das Verwaltungsstrafverfahren werde „wegen Unmöglichkeit der Vorladung des vom VwGH am 10.4.2024 in Ra 2022/12/0138 als unabdingbar beurteilten Zeugen M und somit drohender Verfolgungsverjährung nach § 31 Abs. 1 VStG zur Einstellung gebracht“ (Anonymisierung durch den Verwaltungsgerichtshof). Weiters sprach das Verwaltungsgericht aus, dass gemäß § 52 Abs. 8 VwGVG für den Mitbeteiligten keine Kosten anfielen. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
3 In seiner Entscheidungsbegründung stellte das Verwaltungsgericht fest, der für das Verfahren erforderliche Belastungszeuge M habe nicht vorgeladen werden können. Somit könne der gegen den Mitbeteiligten erhobene Tatvorwurf nicht mit der für das Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit festgestellt werden.
4 Beweiswürdigend wies das Verwaltungsgericht darauf hin, es sei versucht worden, den Belastungszeugen zur mündlichen Verhandlung am 3. Juni 2024 zu laden. Der an diesen gerichtete Ladungsbeschluss vom 7. März 2024 sei mit dem Vermerk „nicht behoben“ zurückgekommen. Eine ZMR Auskunft vom 5. April 2024 habe als letzten Unterkunftgeber die Justizanstalt Josefstadt ergeben. Von dieser sei der Zeuge M am 24. November 2022 „nach unbekannt“ abgemeldet worden.
5 Die „strafantragstellende Finanzbehörde“ habe am 7. Juli 2024 mitgeteilt, dass eine neue Anberaumung einer Verhandlung nicht zielführend erscheine.
6 Im Rahmen seiner rechtlichen Beurteilung verwies das Verwaltungsgericht soweit erkennbar darauf, dass es bereits in anderen Verfahren „aus denselben Erwägungen“ die Einstellung des Verwaltungsstrafverfahrens verfügt habe.
7In einem weiteren „Parallelverfahren“ sei „die Beschwerde zum Verwaltungsstrafverfahren als unbegründet abgewiesen“ worden. Sämtlichen Verfahren sei „die Einvernahme der Finanzpolizei des unauffindbaren Hauptzeugen“ zugrunde gelegen, der jedoch im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht nicht greifbar gewesen sei. Deshalb sei in dem genannten Parallelverfahren die niederschriftliche Einvernahme des Zeugen verlesen worden. Dies habe der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom 10. April 2024, Ra 2022/12/0138, als rechtswidrig beurteilt, die unmittelbare Einvernahme des Belastungszeugen vor dem Verwaltungsgericht sei unabdingbar.
8So verhalte es sich auch mit dem nunmehr unauffindbaren Zeugen M. Der Zeuge sei weder auffindbar noch sei sein Aufenthalt feststellbar. Weder die belangte Behörde noch die Finanzpolizei hätten nähere Angaben zu einem etwaigen Verbleib des Zeugen bekannt zu geben vermocht. Es sei daher mit hoher Wahrscheinlichkeit innerhalb der aus § 43 VwGVG erfließenden Frist „mit einem Erscheinen und Feststellung des Aufenthaltsortes des Belastungszeugen nicht zu rechnen“. Auf Basis des vorliegenden Beweisergebnisses könne unter Bindung an die Rechtsauslegung des Verwaltungsgerichtshofes gemäß § 63 VwGG der dem Mitbeteiligten zur Last gelegte Sachverhalt nicht mit der für das Verwaltungsstrafverfahren erforderlichen Sicherheit festgestellt werden, weil der Belastungszeuge nicht vorgeladen und einvernommen werden könne.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision. Der Verwaltungsgerichtshof führte ein Vorverfahren durch, in dessen Rahmen der Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung erstattete.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revision macht der Amtsrevisionswerber unter anderem einen Verstoß gegen das Amtswegigkeitsprinzip und den Untersuchungsgrundsatz geltend und bringt vor, das Verwaltungsgericht habe entgegen der näher zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, den Zeugen M, der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung über eine aufrechte Meldeadresse im Inland verfügt habe, zum Erscheinen und zur Aussage vor dem Verwaltungsgericht zu zwingen.
11 Schon aufgrund dieses Vorbringens erweist sich die vorliegende Revision als zulässig; sie ist auch berechtigt.
12Eingangs ist das Verwaltungsgericht Wien darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seinem im angefochtenen Erkenntnis mehrfach angesprochenen Erkenntnis vom 10. April 2024, Ra 2022/12/0138, vor dem Hintergrund des § 46 Abs. 3 VwGVG, wonach Niederschriften über die Vernehmung von Zeugen (unter anderem) nur verlesen werden dürfen, wenn der Aufenthalt des Vernommenen unbekannt ist, davon ausgegangen ist, dass diese Voraussetzung im konkreten Fall nicht vorgelegen hatte, weshalb die Verlesung der Niederschrift einer Zeugeneinvernahme gegen den in § 44 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsgrundsatz verstoßen hatte.
13Aus welchem Grund das Verwaltungsgericht annimmt, der Verwaltungsgerichtshof habe die unmittelbare Einvernahme eines Zeugen vor dem Verwaltungsgericht als „unabdingbar“ angesehen, kann nicht nachvollzogen werden, zumal § 46 Abs. 3 VwGVG bei Vorliegen der dort normierten Voraussetzungen die Verlesung von Niederschriften über die Vernehmung von Zeugen zulässt.
14Auch die Annahme des Verwaltungsgerichtes, es sei in dem gegenständlichen Verfahren aufgrund des § 63 VwGG zu einer bestimmten Vorgangsweise verpflichtet gewesen, kann nicht nachvollzogen werden. Nach seinem unmissverständlichen Wortlaut verpflichtet § 63 Abs. 1 VwGG die Verwaltungsgerichte dazu, nachdem der Verwaltungsgerichtshof einer Revision stattgegeben hat, „in der betreffenden Rechtssache“ mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Da das vom Verwaltungsgericht ins Treffen geführte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 10. April 2024, Ra 2022/12/0138, eine andere Rechtssache betroffen hat, erweist sich § 63 VwGG als nicht einschlägig.
15Gemäß § 38 VwGVG gelten in Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gemäß § 130 Abs. 4 erster Satz BVG (siehe auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst zu entscheiden hat, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem Verwaltungsgericht in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt (vgl VwGH 18.11.2024, Ra 2023/12/0074, Rn 12, mwN).
16 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht seiner aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst soweit das möglich istfür die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl neuerlich VwGH 18.11.2024, Ra 2023/12/0074, Rn 13, mwN).
17Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes darf die Behörde (und nichts Anderes gilt für das Verwaltungsgericht) die Einvernahme eines Zeugen nicht allein deshalb unterlassen, weil dieser trotz Ladung nicht erscheint. Vielmehr ist es Pflicht der Behörde (bzw des Verwaltungsgerichts), einen allenfalls unwilligen Zeugen zum Erscheinen und zur Aussage zu zwingen (vgl VwGH 10.4.2024, Ra 2022/12/0138, Rn 11, mwN).
18 Fallbezogen beruft sich das Verwaltungsgericht in dem angefochtenen Erkenntnis ausschließlich darauf, dass es versucht habe, den Zeugen M zur mündlichen Verhandlung zu laden, diese Ladung jedoch mit dem Vermerk „nicht behoben“ zurückgekommen sei. Dass das Verwaltungsgericht versucht hätte, den unwilligen Zeugen zum Erscheinen und zur Aussage zu zwingen, ist nicht ersichtlich. Schon deshalb war das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge der Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
19 Dabei kommt es entgegen der vom Verwaltungsgericht im angefochtenen Erkenntnis offenbar vertretenen Ansicht auch nicht darauf an, ob die „strafantragstellende Finanzbehörde“ nachdem ihr mitgeteilt worden sei, dass der Zeuge M „nicht zur Verfügung stehe“, mitteilte, dass ihr eine neuerliche Anberaumung einer Verhandlung nicht zielführend erscheine und der Beschwerde stattzugeben sein werde. Wie dargetan ergibt sich aus dem auch im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten geltenden Amtswegigkeitsprinzip und dem Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, dass das Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und anträgen den wahren Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln hat.
20Da nicht ausgeschlossen werden kann, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensvorschriften zu einem anderen Ergebnis hätte gelangen können, ist das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
21Bei diesem Ergebnis war dem Mitbeteiligten gemäß § 47 Abs. 3 VwGG kein Aufwandersatz für die Erstattung der Revisionsbeantwortung zuzusprechen.
Wien, am 21. Juli 2025