Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Chvosta und Mag. Schartner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Wagner, über die Revision der E C, vertreten durch Mag. Constantin Adrian Nitu, Rechtsanwalt in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Oktober 2024, G308 2290730 1/12E, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die 1990 geborene Revisionswerberin, eine rumänische Staatsangehörige, reiste nach langjährigem Aufenthalt in Deutschland im Laufe des Jahres 2015 in das österreichische Bundesgebiet, wo ihr im August 2015 eine Anmeldebescheinigung ausgestellt wurde. Sie ist seit ihrer Einreise mit Unterbrechungen unselbständig erwerbstätig und lebt mit ihren Eltern, ihrem Lebensgefährten und dem gemeinsamen, im Mai 2017 in Österreich geborenen Sohn, der ebenso wie sein Vater rumänischer Staatsangehöriger ist, in einem Haushalt. Drei weitere Kinder der Revisionswerberin aus erster Ehe, die 2004, 2007 und 2009 geboren wurden, leben bei ihrem Vater in Deutschland.
2Nachdem über die Revisionswerberin bereits in Deutschland im November 2014 wegen Diebstahls eine Geldstrafe verhängt worden war, wurde die Revisionswerberin auch im Laufe ihres Aufenthalts in Österreich wiederholt rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt, nämlich zunächst mit Urteilen des Bezirksgerichts Josefstadt vom 25. März 2016 und vom 19. September 2018 (erneut) jeweils wegen Diebstahls nach § 127 StGB zu einer Geldstrafe. Dann wurde sie mit Urteil des Landesgerichts Korneuburg vom 8. Oktober 2019 wegen gewerbsmäßigen Diebstahls nach §§ 127, 130 Abs. 1 erster Fall StGB (Ladendiebstahl von Waren im Wert von zirka € 600,-- gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten in einem Supermarkt) zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten verurteilt.
3Schließlich wurde die Revisionswerberin mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 31. Mai 2023 wegen gewerbsmäßigen Diebstahls, teils im Rahmen einer kriminellen Vereinigung nach §§ 127, 128 Abs. 1 Z 5, 130 Abs. 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 erster Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten, davon zwölf Monate bedingt, verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, die Revisionswerberin habe im Zeitraum von Anfang 2022 bis Februar 2023 im Rahmen einer auf die gewerbsmäßige Begehung schwerer Diebstähle ausgerichteten kriminellen Vereinigung wiederholt im bewussten und gewollten Zusammenwirken mit anderen Personen Waren in einem insgesamt € 5.000,-- übersteigenden Wert aus Kaufhäusern gestohlen. Die Revisionswerberin befand sich im Zeitraum von Februar 2023 bis Juli 2023 zunächst in Untersuchungs- und anschließend in Strafhaft.
4Daraufhin erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheid vom 18. März 2024 gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG über die Revisionswerberin ein auf die Dauer von sechs Jahren befristetes Aufenthaltsverbot und erteilte ihr gemäß § 70 Abs. 3 FPG einen Durchsetzungsaufschub von einem Monat.
5Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 21. Oktober 2024 teilweise Folge, indem es die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf ein Jahr herabsetzte; im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde und ihrer Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 11.12.2024, E 4510/2024 5)fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
7 Die Revision, die sich nicht konkret gegen die Gefährdungsprognose des BVwG wendet, macht im Wesentlichen geltend, dass bei der vom BVwG gemäß § 9 BFA VG vorgenommenen Interessenabwägung dem Kindeswohl nicht die gebotene Bedeutung eingeräumt worden sei. Sie erweist sich aus diesem Grundentgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
8 Das BVwG, das die Fortsetzung des Familienlebens außerhalb des Bundesgebiets nicht näher in Betracht zog, konzedierte zwar im Rahmen der Interessenabwägung, dass mit dem Aufenthaltsverbot gegen die Revisionswerberin auch in das Kindeswohl ihres Sohnes „eingegriffen“ werde. Es ging jedoch davon aus, dass die Beziehung der Revisionswerberin zu ihrem Sohn eine „Relativierung“ erfahren habe, weil die Revisionswerberin während ihrer Haft von Februar 2023 bis Juli 2023 kein einziges Mal ihren Sohn gesehen habe. Während der haftbedingten Abwesenheit der Revisionswerberin habe sich ihr Lebensgefährte nach Auskunft der zuständigen Kinder- und Jugendhilfe liebevoll um den gemeinsamen Sohn gekümmert, wobei auch die Möglichkeit der Unterstützung durch die im selben Haushalt lebenden Eltern der Revisionswerberin bestehe und die finanzielle Situation insgesamt gesichert sei. Es sei so das BVwG weiter auch zu berücksichtigen, dass die Revisionswerberin ihr strafrechtliches Fehlverhalten trotz der Geburt ihres Sohnes und trotz ihrer Sorgepflichten fortgesetzt habe, obwohl das BFA der Revisionswerberin bereits im April 2020 angekündigt habe, sie werde bei nochmaliger Straffälligkeit mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen müssen. Die Bewertung des Familienlebens erfahre auch dadurch eine gewichtige Minderung, dass die Revisionswerberin durch die Begehung strafbarer Handlungen angesichts der daraus resultierenden fremdenrechtlichen Konsequenzen eine Trennung von ihrem Sohn und ihrem Lebensgefährten bewusst in Kauf genommen habe. Im Übrigen könne der Kontakt der Revisionswerberin zu ihrem Sohn durch moderne Kommunikationsmittel und durch Besuche in Rumänien oder in einem anderen Staat aufrechterhalten werden.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass bei der nach § 9 BFAVG vorzunehmenden Interessenabwägung der Aspekt des Kindeswohls „gebührend“ zu berücksichtigen ist, wobei in diesem Zusammenhang zu beachten ist, dass ein Kind grundsätzlich Anspruch auf „verlässliche Kontakte“ zu beiden Elternteilen hat. Wird es durch die Rückkehrentscheidung gegen den Vater gezwungen, ohne diesen aufzuwachsen, so bedarf diese Konsequenz einer besonderen Rechtfertigung (vgl. VwGH 22.2.2024, Ro 2022/21/0010, Rn. 12, mwN), was etwa bei der Begehung von (gravierenden) Straftaten der Fall wäre (vgl. dazu VwGH 24.10.2024, Ra 2023/21/0118, Rn. 12, mwN).
10 Diese Grundsätze ändern nichts daran, dass die konkrete Gewichtung des Kindeswohls im Rahmen der nach § 9 BFAVG vorzunehmenden Gesamtbetrachtung nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes freilich von den Umständen des jeweiligen Einzelfalles abhängt (vgl. VwGH 26.7.2022, Ra 2022/21/0093, Rn. 16, mwN, und darauf Bezug nehmend VwGH 18.1.2024, Ra 2023/21/0112, Rn. 18). Demnach treffen die in der Rechtsprechung getroffenen Aussagen bei typisierender Betrachtungsweise zwar regelmäßig zu. Dies schließt aber nicht aus, dass nach Maßgabe der Umstände des konkreten Einzelfalles eine Beeinträchtigung des Kindeswohls durch eine gegen einen Elternteil erlassene Rückkehrentscheidung zu verneinen sein könnte (vgl. nochmals VwGH 22.2.2024, Ro 2022/21/0010, Rn. 13, mwN).
11 Dass ein solcher Fall hier vorläge, zeigt das BVwG im angefochtenen Erkenntnis jedoch nicht nachvollziehbar auf: Soweit das BVwG ins Treffen führte, dass die Revisionswerberin während ihrer Haft im Frühjahr 2023 kein einziges Mal ihren Sohn gesehen habe, lässt sich daraus keine Relativierung der Beziehung der Revisionswerberin zu ihrem Kind ableiten. Überdies hatte die Revisionswerberin in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG angegeben, bewusst davon Abstand genommen zu haben, ihren in diesem Zeitraum erst sechs Jahre alt gewordenen Sohn mit ihrer Haft zu konfrontieren. Nachdem die Revisionswerberin in der Verhandlung auch erklärt hatte, dass ihr Sohn in diesem Zeitraum unter der Trennung sehr gelitten habe und ihr Lebensgefährte auch krank geworden sei, genügt es zur Befassung mit den Konsequenzen des Aufenthaltsverbots für das Kind nicht, lediglich darauf zu verweisen, dass sich der Lebensgefährte der Revisionswerberin liebevoll um das gemeinsame Kind gekümmert habe. Diesem Erfordernis wird auch nicht mit dem Hinweis, dass die familiäre Situation die Revisionswerberin nicht von ihrer Straffälligkeit abgehalten habe, Rechnung getragen.
12 Was die vom BVwG relativierend in den Raum gestellte Möglichkeit der Aufrechterhaltung bestehender Bindungen durch diverse Kommunikationsmittel anbelangt, widerspricht diese Ansicht der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, wonach Kontakte über (Video )Telefonate oder EMail nicht die durch die Trennung von Mutter oder Vater verursachte maßgebliche Beeinträchtigung des Kindeswohls wettmachen können (vgl. hinsichtlich eines im vergleichbaren Alter befindlichen Kindes erneut VwGH 22.2.2024, Ro 2022/21/0010, Rn. 20, mwN). In Bezug auf den bloßen Hinweis des BVwG auf Besuchsmöglichkeiten außerhalb Österreichs fehlt eine Auseinandersetzung mit deren tatsächlich möglicher Häufigkeit, um nachvollziehbar eine Beeinträchtigung des Kindeswohls ausschließen zu können (vgl. ebenso bereits VwGH 10.7.2025, Ra 2023/21/0074, Rn. 13, mwN).
13 Vor diesem Hintergrund fällt maßgeblich ins Gewicht, dass das BVwG selbst die Dauer des Aufenthaltsverbotes auf ein Jahr herabsetzte, weil es diesen Zeitraum für die Herbeiführung eines Gesinnungswandels bei der Revisionswerberin, die nach der letzten Straftat erstmals das „Haftübel“ verspürte, als ausreichend erachtete.
14 In Anbetracht dieser Umstände in ihrer Gesamtheit erweist sich die Interessenabwägung des BVwG daher fallbezogen im Ergebnis als unvertretbar (zum Maßstab für die Prüfung der Interessenabwägung nach § 9 BFAVG als Einzelfallentscheidung vgl. etwa VwGH 27.2.2025, Ra 2024/21/0085, Rn. 14, mwN).
15Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen (vorrangig wahrzunehmender) Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. Juli 2025