JudikaturVwGH

Ra 2025/02/0066 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Juni 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter und die Hofrätinnen Mag. Dr. Maurer Kober und Mag. Schindler als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Urfahr Umgebung gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom 23. Jänner 2025, LVwG 607169/3/MK, betreffend Übertretung der StVO (mitbeteiligte Partei: M in H, vertreten durch Mag. Robert Stadler, Rechtsanwalt in 4210 Gallneukirchen, Hauptstraße 47, City Center), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

1 Mit Straferkenntnis der Bezirkshauptmannschaft Urfahr Umgebung vom 21. November 2024 wurde die Mitbeteiligte wegen einer Übertretung des § 99 Abs. 1 lit. a iVm § 5 Abs. 1 StVO schuldig erkannt und es wurden über sie eine Geldstrafe sowie eine Ersatzfreiheitsstrafe verhängt sowie ein Beitrag zu den Kosten des Verwaltungsstrafverfahrens festgesetzt. Die Mitbeteiligte habe am 3. August 2024 zwischen 04:25 Uhr und 04:35 Uhr ein dem Kennzeichen nach bestimmtes Fahrzeug in einem durch Alkohol beeinträchtigten Zustand gelenkt. Die Messung sei um 05:36 Uhr erfolgt und habe einen Alkoholgehalt der Atemluft von 0,84 mg/l ergeben; gerechnet auf den Lenkzeitpunkt sei ein Alkoholgehalt von 0,89 mg/l vorgelegen.

2 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich (Verwaltungsgericht) wurde der dagegen erhobenen Beschwerde der Mitbeteiligten ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung Folge gegeben, das angefochtene Straferkenntnis behoben und das Verfahren eingestellt. Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das Verwaltungsgericht für unzulässig.

3 Begründend führte das Verwaltungsgericht zusammengefasst aus, nach Einsicht in den vorgelegten Verwaltungsstrafakt und unter Berücksichtigung der ergänzend vorgelegten Unterlagen stehe fest, dass die Mitbeteiligte zur Tatzeit gemeinsam mit drei weiteren Männern mit dem in Rede stehenden Fahrzeug unterwegs gewesen sei. Das Fahrzeug sei am Kontrollort abgestellt worden. Ein in der Nähe wohnendes Ehepaar sowie deren Nachbarin seien aufgrund des mehrfachen Auf und Zumachens der Fahrzeugtüren aufmerksam geworden und hätten beobachtet, wie sich die drei Männer in der Folge zu Fuß entfernt hätten. Bei einer darauffolgenden Nachschau durch die Nachbarn sei die Mitbeteiligte auf dem Rücksitz liegend zugedeckt und schlafend vorgefunden worden. Wer das Fahrzeug zum Kontrollort gelenkt habe, hätten die Nachbarn nicht feststellen können. Im Zuge der Befragung der verständigten Exekutivbeamten zum Fahrzeuglenker habe die Mitbeteiligte zunächst ihren Ehegatten bzw. eine weitere Person S angegeben. Schließlich habe die Mitbeteiligte angegeben: „Dann bin ich selber gefahren“. Die Mitbeteiligte habe die Fahrzeugschlüssel in ihrer hinteren Hosentasche bei sich gehabt. Daran anschließend hielt das Verwaltungsgericht fest, dass auf Grundlage dieses Beweisergebnisses nicht festgestellt werden könne, wer das Fahrzeug gelenkt habe.

4 Im Rahmen der Beweiswürdigung wies das Verwaltungsgericht darauf hin, dass die Angaben des Zeugen S widersprüchlich gewesen seien, weil dieser zunächst angegeben habe, dass die Mitbeteiligte das Fahrzeug gelenkt habe, dann allerdings ausgeführt habe, keinerlei Angaben machen zu können. Die Argumentation im behördlichen Straferkenntnis im Zusammenhang mit der besonderen Glaubwürdigkeit von Erstaussagen sei nicht nachzuvollziehen, habe die Mitbeteiligte doch zunächst andere Personen als Lenker angeführt, was sich aus der Aussage der Polizistin ergebe. Die Mitbeteiligte habe aufgrund ihres Zustandes offenkundig über keine eigene Erinnerung an das Geschehene verfügt. Auch aus den übrigen zeugenschaftlichen Angaben vor der Behörde seien keine validen Anhaltspunkte dafür abzuleiten, dass die Mitbeteiligte das Fahrzeug tatsächlich gelenkt habe. Ferner begründete das Verwaltungsgericht, warum das Auffinden der Fahrzeugschlüssel in der hinteren Hosentasche der Mitbeteiligten kein stichhaltiges Argument für die Annahme ihrer Lenkereigenschaft liefere.

5 Das Absehen von der mündlichen Verhandlung begründete das Verwaltungsgericht damit, dass „im Rahmen des Feststellbaren keine relevanten Sachverhaltselemente offen geblieben sind und eine Neubeurteilung der Schlüssigkeit der bereits aufgenommenen Beweise durch deren bloße Wiederholung nicht anzunehmen ist“, weshalb keine weitere Aufklärung des Sachverhalts zu erwarten sei.

6 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision der vor dem Verwaltungsgericht belangten Behörde.

7 In dem vom Verwaltungsgerichtshof eingeleiteten Vorverfahren erstattete die Mitbeteiligte eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

8 Die revisionswerbende Partei bringt zur Zulässigkeit ihrer Revision unter anderem vor, das Verwaltungsgericht sei insofern von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es die Durchführung einer mündlichen Verhandlung unterlassen habe.

9 Die Revision ist bereits aufgrund dieses Vorbringens zulässig; sie ist auch begründet.

10 Das Verwaltungsgericht hat gemäß § 44 Abs. 1 VwGVG in Verwaltungsstrafsachen grundsätzlich eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. In den Abs. 2 bis 5 leg. cit. finden sich zulässige Ausnahmen von der Verhandlungspflicht.

11 Gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG entfällt die Verhandlung, wenn der Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben ist.

12 Das Verwaltungsgericht war im vorliegenden Fall der Auffassung, die von der Mitbeteiligten beantragte Verhandlung könne entfallen, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststehe, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben sei, weil die Beweisergebnisse keine validen Anhaltspunkte dafür böten, dass die Mitbeteiligte das Fahrzeug tatsächlich gelenkt habe und eine weitere Klärung des Sachverhalts zu erwarten sei. Die beweiswürdigenden Erwägungen im behördlichen Straferkenntnis seien nicht nachvollziehbar.

13 Gemäß der Verweisungsbestimmung des § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteienvorbringen und anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist dem AVG (vgl. zur Anwendbarkeit im vorliegenden Fall § 38 VwGVG in Verbindung mit § 24 VStG und § 45 Abs. 2 AVG) eine antizipierende Beweiswürdigung fremd (vgl. VwGH 28.2.2025, Ra 2024/02/0012, mwN).

14 Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen. In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht seiner aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst - soweit das möglich ist - für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. etwa VwGH 27.1.2025, Ra 2024/02/0234, mwN).

15 Zweck der mündlichen Verhandlung ist es (und zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichts gehört es), im Fall zu klärender bzw. einander widersprechender prozessrelevanter Behauptungen, dem auch im § 44 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsgrundsatz Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist in der mündlichen Verhandlung die Vorschrift des § 46 Abs. 1 VwGVG zu beachten, wonach in der Verhandlung die zur Entscheidung der Rechtssache erforderlichen Beweise aufzunehmen sind. Das Verwaltungsgericht darf sich demnach nicht mit einem mittelbaren Beweis zufriedengeben, wenn der Aufnahme eines unmittelbaren Beweises kein tatsächliches Hindernis entgegensteht (vgl. etwa VwGH 18.11.2024, Ra 2023/12/0074, mwN).

16 Das Verwaltungsgericht hat in seinen beweiswürdigenden Erwägungen selbst auf Widersprüchlichkeiten in den Angaben der vor der Behörde einvernommenen Zeugen zu den Geschehnissen hingewiesen. Aus den vorgelegten Akten ergibt sich, dass die damals vor Ort anwesende Polizistin in ihrer behördlichen Einvernahme ein Telefonat mit dem Zeugen S schilderte, in dem dieser angegeben habe, dass er gemeinsam mit der Mitbeteiligten und deren Ehegatten unterwegs gewesen sei und die Mitbeteiligte das Fahrzeug gelenkt habe. Ein weiterer Polizist wies in seiner Einvernahme darauf hin, dass der Fahrersitz auf die Größe der Mitbeteiligten eingestellt gewesen sei.

17 Ausgehend davon kann nicht davon ausgegangen werden, dass bereits aus der Aktenlage feststand, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben war. Das Verwaltungsgericht war aufgrund der zahlreichen Widersprüche und unterschiedlichen Angaben der Zeugen und der Mitbeteiligten zur entscheidungswesentlichen Frage, wer das Fahrzeug im fraglichen Zeitraum gelenkt habe, vielmehr gehalten ein Ermittlungsverfahren durchzuführen und nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, seine Entscheidung auf Basis des gewonnenen persönlichen Eindrucks zu treffen.

18 Das Verwaltungsgericht konnte somit nicht davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung gemäß § 44 Abs. 2 VwGVG erfüllt waren.

19 Zudem hat der Verwaltungsgerichtshof bereits zu § 51e Abs. 2 Z 1 VStG, der insoweit § 44 Abs. 2 VwGVG entspricht, ausgesprochen, dass die Berufungsbehörde (nunmehr: das Verwaltungsgericht) ihre Entscheidung, mit der sie die verhängte Geldstrafe in eine Verfahrenseinstellung umwandelt, nicht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung hätte treffen dürfen, wenn dies - so wie im Revisionsfall - auf einer geänderten Beweiswürdigung beruht. Der Fall darf ausschließlich aufgrund von Ergebnissen beurteilt werden, die in einer (unmittelbar) durchgeführten mündlichen Verhandlung vorgekommen sind. Dies gilt auch dann, wenn die Beweisergebnisse zugunsten des Beschuldigten anders gewürdigt werden. Zudem darf die Beweiswürdigung erst nach einer vollständigen Beweiserhebung einsetzen (vgl. etwa neuerlich VwGH 28.2.2025, Ra 2024/02/0012, mwN).

20 Das angefochtene Erkenntnis war somit schon aufgrund des Absehens von der mündlichen Verhandlung gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21 Das Verwaltungsgericht wird im fortzusetzenden Verfahren eine mündliche Verhandlung durchzuführen haben, in der die in Betracht kommenden Zeugen einzuvernehmen und mit den Widersprüchlichkeiten der getätigten Aussagen zu konfrontieren sind. Im Hinblick auf die im Akt erliegende Aussage der Zeugin D, die als Anrainerin die Polizei verständigt hatte, wonach sie drei Männer gesehen und mit diesen gesprochen habe, erscheint auch eine Gegenüberstellung zweckmäßig.

Wien, am 26. Juni 2025

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