Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Novak sowie die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Bayer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des Stadtsenates der Landeshauptstadt Graz, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark vom 25. Oktober 2022, LVwG 50.32 549/2022 30, betreffend Versagung der Baubewilligung (mitbeteiligte Partei: DI B E; weitere Partei: Steiermärkische Landesregierung), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Mit Eingabe vom 5. Mai 2021 beantragten die G. GmbH und die P. GmbH (im Folgenden: Bauwerber) die Erteilung der Baubewilligung für den Umbau von Wohneinheiten, den Einbau eines Aufzuges sowie die Vergrößerung von Balkonen betreffend das auf einer näher bezeichneten Liegenschaft der KG J. befindliche Gebäude.
2 In der in der Folge durchgeführten Bauverhandlung erhob der Mitbeteiligte Einwendungen gegen das Bauvorhaben und führte aus, dass der Abstand bzw. die Tiefe der neu zu errichtenden Balkone, gerechnet vom bestehenden Mauerwerk (ohne Vollwärmeschutz-System) auf maximal 1,50 m zu reduzieren sei.
3 Mit Bescheid der revisionswerbenden Partei wurde den Bauwerbern die beantragte Baubewilligung gemäß § 29 Steiermärkisches Baugesetz (Stmk. BauG) erteilt.
4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Steiermark (Verwaltungsgericht) wurde der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten Folge gegeben, der angefochtene Bescheid ersatzlos behoben und das Bauansuchen der Bauwerber vom 5. Mai 2021 gemäß § 29 Abs. 1 Stmk. BauG abgewiesen. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass gegen dieses Erkenntnis eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig sei.
5 Begründend stellte das Verwaltungsgericht nach Darstellung des Verfahrensganges im Wesentlichen fest, dass die Balkone am viergeschossigen Gründerzeithaus mit ausgebautem Dachgeschoss hofseitig vergrößert werden sollen. Die projektierten Balkone würden nicht mehr als 1,50 m vor die Gebäudefront springen und das Verhältnis der Ansichtsfläche der vorspringenden Bauteile zur dahinterliegenden Gebäudefront betrage unter der Annahme eines geschlossenen Flächenanteiles von 20 % rund 6 % bzw. unter der Annahme einer völlig geschlossenen Brüstung maximal 18 %. Die Traufenhöhe des Bestandsgebäudes über dem hofseitigen Gelände betrage 16,50 m, wodurch sich fünf fiktive, abstandsrelevante Geschosse ergäben. Die nordseitige Hauptgebäudefront des Bestandsgebäudes weise einen Grenzabstand von rund 6,65 m bis 6,75 m, die südseitige Gebäudefront einen Grenzabstand von 6,50 m bis rund 6,60 m auf, wodurch bezogen auf das 3. Obergeschoss der erforderliche Mindestgrenzabstand von 7 m bereits unterschritten werde.
6 In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht zum projektierten Vollwärmeschutz aus, dass der im 3. Obergeschoss bereits zu geringe Grenzabstand dadurch um weitere 0,13 m unterschritten werde, was aber in der Bestimmung des § 13 Abs. 14 Stmk. BauG rechtlich seine Deckung finde, weshalb sich dieser als zulässig erweise.
7 Die projektierten Balkone würden eine Tiefe von 1,50 m aufweisen und das gesetzlich gebotene Verhältnismäßigkeitskriterium erfüllen, weshalb diese Zubauten keine „neue“ Gebäudefront im Sinn des § 13 Abs. 2 Stmk. BauG darstellten und damit rechtlich nicht abstandsrelevant seien. Faktisch dürften diese Balkone mit 1,50 m in den gesetzlich gebotenen Grenzabstand ragen. Im Revisionsfall würden die Balkone im 3. Obergeschoss allerdings im Ausmaß zwischen 1,88 m und 2,13 m faktisch in den Grenzabstand ragen, da die Gebäudefront des Bestandsgebäudes den Mindestgrenzabstand bereits unterschreite. Es sei daher zu prüfen, ob ein Zubau von nicht abstandsrelevanten Balkonen im Sinn des § 4 Z 64 in Verbindung mit § 13 Abs. 2 Stmk. BauG in einem solchen Fall per se zulässig sei. Der Gesetzgeber habe in § 13 Abs. 14 Stmk. BauG vorgesehen, dass die nachträgliche Anbringung eines Wärmeschutzes auch dann zulässig sein soll, wenn damit der Grenzabstand nicht eingehalten werde, und in § 13 Abs. 8 Stmk. BauG die Möglichkeit zur Zulassung geringerer Abstände unter anderem im Fall der nachträglichen Errichtung von Außenaufzugsanlagen vorgesehen; eine explizite Ausnahmeregelung im Hinblick auf den nachträglichen Zubau von (nicht abstandsrelevanten) Balkonen an grenzabstandsunterschreitenden Bestandsgebäuden finde sich in der Bestimmung des § 13 Stmk. BauG nicht. Obwohl sich die bestehende Gebäudefront durch den Zubau von nicht abstandsrelevanten Balkonen nicht ändere, gehe das Verwaltungsgericht davon aus, dass hervorspringende Bauteile den Grenzabstand nur um maximal 1,50 m verkürzen dürften. Eine gegenteilige Rechtsansicht würde dazu führen, dass nachträglich errichtete, nicht abstandsrelevante Balkone bis an die Nachbargrenze herauskragen dürften. Mangels entsprechender Ausnahmebestimmung in § 13 Stmk. BauG erweise sich das gegenständliche Bauvorhaben im Hinblick auf den Zubau (Erweiterung der Balkone) im 3. Obergeschoss als nicht genehmigungsfähig, da der Grenzabstand faktisch in einem Ausmaß verkürzt werde (1,88 m bis 2,13 m), welches gesetzlich keine Deckung (mehr) finde.
8 Die Zulässigkeit der Revision begründete das Verwaltungsgericht mit dem Fehlen von Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Zulässigkeit von Zubauten in Form von nicht abstandsrelevanten Balkonen bei grenzabstandsunterschreitenden Gebäuden.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision mit dem Antrag, dieses wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, in eventu eine Sachentscheidung zu treffen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision erweist sich angesichts des in der Zulässigkeitsbegründung der vorliegenden Revision aufgezeigten Abweichens des Verwaltungsgerichtes von der näher zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Zulässigkeit von nicht abstandsrelevanten baulichen Maßnahmen an rechtskräftig bewilligten, den gesetzlich gebotenen Abstand unterschreitenden Gebäuden, als zulässig.
11 Die im Revisionsfall maßgeblichen Bestimmungen des Stmk. BauG, LGBl. Nr. 59/1995 - § 4 in der Fassung LGBl. Nr. 45/2022 und § 13 in der Fassung LGBl. Nr. 11/2020 - lauten auszugsweise:
„§ 4
Begriffsbestimmungen
Die nachstehenden Begriffe haben in diesem Gesetz folgende Bedeutung:
...
30 Gebäudefront: Außenwandfläche eines Gebäudes, wobei Bauteile wie z. B. Balkone, Erker, Vordächer, offene Treppenläufe jeweils bis maximal 1,5 m vorspringen dürfen und bei Bauteilen ohne Gebäudeeigenschaft die Ansichtsfläche des vorspringenden Bauteils im Verhältnis zur jeweils dahinterliegenden Außenwandfläche je Geschoß höchstens 30% beträgt; an Gebäudeseiten ohne Außenwände gilt die Vertikalebene entlang des Dachsaumes als Gebäudefront, wobei Dachüberstände des jeweiligen Hauptdaches bis maximal 1,5 m außer Betracht bleiben können;
... “
„§ 13
Abstände
...
(2) Jede Gebäudefront, die nicht unmittelbar an einer Nachbargrenze errichtet wird, muß von dieser mindestens so viele Meter entfernt sein, wie die Anzahl der Geschosse, vermehrt um 2, ergibt (Grenzabstand).
...
(14) Bei bestehenden Gebäuden dürfen ungeachtet der Abs. 1 bis 12 bauphysikalische Maßnahmen (z. B. Wärmedämmmaßnahmen) durchgeführt werden. Bei nachträglichen Bebauungen von Nachbargrundstücken sind bei Ermittlung des Gebäudeabstandes (Abs. 1) die bauphysikalischen Maßnahmen nicht zu berücksichtigen. Ein Überbauen der Nachbargrenze ist nur mit Zustimmung des Nachbarn zulässig.
... “
12 Die revisionswerbende Partei bringt in ihrer Revisionsbegründung im Wesentlichen vor, der Rechtsmeinung des Verwaltungsgerichtes, wonach es für einen Zubau von nicht abstandsrelevanten Balkonen in jenen Fällen, in denen das Bestandsgebäude den gesetzlich gebotenen Grenzabstand nicht einhalte, einer Ausnahmebestimmung in § 13 Stmk. BauG bedürfe, könne nicht gefolgt werden. Tatsächlich sei in § 4 Z 30 Stmk. BauG genau jene Ausnahmebestimmung zu finden, die das Verwaltungsgericht in § 13 Stmk. BauG zu vermissen scheine. Bereits in der Vergangenheit habe der Verwaltungsgerichtshof mehrfach ausgesprochen, dass nicht abstandsrelevante bauliche Maßnahmen - auch in jenen Fällen, in denen das Bestandsgebäude den gesetzlichen Mindestgrenzabstand unterschritten habegesetzt werden dürften und folglich zulässig seien (Hinweis auf VwGH 23.9.1999, 98/06/0140, 4.4.2003, 2000/06/0165, 1.4.2008, 2007/06/0303, 18.9.2003, 2001/06/0171, und 4.8.2015, Ro 2014/06/0022). Es sei Aufgabe des Gesetzgebers, die vom Verwaltungsgericht befürchtete Folge einer gegenteiligen Rechtsansicht hintanzuhalten und festzulegen, dass nicht abstandsrelevante Maßnahmen nur unter der Voraussetzung gesetzt werden dürften, dass der Mindestgrenzabstand nicht unterschritten werde; eine derartige Regelung sei dem Gesetz jedoch nicht zu entnehmen.
Mit diesem Vorbringen zeigt die revisionswerbende Partei eine Rechtswidrigkeit des angefochtenen Erkenntnisses auf.
13 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Stmk. BauG sind im Fall der Änderung eines rechtskräftig bewilligten Bestandes im Zusammenhang mit § 13 Stmk. BauG nur solche Änderungen, die sich auf die Berechnung des Seitenabstandes auswirken, zu berücksichtigen (vgl. etwa VwGH 31.3.2004, 2002/06/0060, und 8.5.2008, 2004/06/0123, jeweils mwN). Im Fall eines Verfahrens betreffend die Änderung eines rechtskräftig bewilligten Bestandes könnten nämlich nur solche baulichen Änderungen, die gemäß § 13 Stmk. BauG zu einem anderen Abstand führen müssten, zu einer Durchbrechung der Rechtskraft der Bewilligung für den Bestand führen (vgl. etwa VwGH 4.4.2003, 2000/06/0165, und 23.9.1999, 98/06/0140, jeweils mwN). Als nicht abstandsrelevante Änderungen wurden bauliche Maßnahmen angesehen, durch welche weder die Gebäudefront des bestehenden Altbaus noch die Geschossanzahl verändert wird (vgl. etwa VwGH 18.9.2003, 2001/06/0171, und 1.4.2008, 2007/06/0303).
14 Diese Rechtsprechung ist auf die im Revisionsfall anzuwendende Rechtslage nach dem Stmk. BauG zu übertragen, zumal sich diese - worauf die revisionswerbende Partei zu Recht hinweist - durch die Neuformulierung des Begriffs „Gebäudefront“ (§ 4 Z 30 Stmk. BauG) durch die Baugesetznovelle 2019, LGBl. Nr. 11/2020, insofern nicht entscheidend geändert hat. Bereits § 4 Z 29 Stmk. BauG in der vor der besagten Novelle geltenden Fassung sah vor, dass bei der Ermittlung der Gebäudefront vorspringende Bauteile, wie Balkone nicht zu berücksichtigen waren, sofern sie ein gewöhnliches Ausmaß aufwiesen. Auch § 4 Z 30 Stmk. BauG in der Fassung der Novelle LGBl. Nr. 11/2020 normiert, dass bei der Ermittlung der Gebäudefront vorspringende Bauteile, wie Balkone nicht zu berücksichtigen sind, sofern sie die in dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen erfüllen. In diesem Sinn hält der dem selbständigen Ausschussantrag zugrunde liegende Bericht zur Baugesetznovelle 2019 fest, dass mit der betreffenden Änderung lediglich der Begriff „Gebäudefront“ konkretisiert werden soll, indem das genaue Ausmaß für Bauteile, die von der Außenwandfläche eines Gebäudes vorspringen dürfen, normiert werde. Mit dieser Konkretisierung solle eine Erleichterung für den Vollzug und damit auch Rechtssicherheit durch Beseitigung von Interpretationsmöglichkeiten geschaffen werden (vgl. XVII. GPStLT AB EZ 3308/9).
15 Abgesehen davon, dass es sich bei § 4 Z 30 Stmk. BauG nicht um eine Abstandsregelung (vgl. dazu § 13 Stmk. BauG) handelt, sondern um eine Begriffsbestimmung, in welcher lediglich festgelegt wird, welche Bauteile bei der Bestimmung der Gebäudefront nicht zu berücksichtigen sind, finden sich in den oben zitierten Materialien auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass der Landesgesetzgeber mit der in Rede stehenden Novelle die Frage der Abstandsrelevanz vorspringender Bauteile, welche nachträglich an bereits abstandsunterschreitenden Gebäuden zugebaut werden, einer Neuregelung unterziehen und deren Zulässigkeit einschränken wollte.
16 Da die im Revisionsfall projektierten Balkone nach den unbestrittenen Feststellungen des Verwaltungsgerichtes die in § 4 Z 30 Stmk. BauG festgelegten Voraussetzungen erfüllen, wird durch den geplanten Zubau keine Änderung der Gebäudefront des Bestandes bewirkt, sodass die Frage der Einhaltung des gesetzlich gebotenen Mindestabstandes - entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichtes - nicht neuerlich zu prüfen war (vgl. wiederum etwa VwGH 8.5.2008, 2004/06/0123, mwN). Indem das Verwaltungsgericht die gegenständlichen Balkone trotz Erfüllung der in § 4 Z 30 Stmk. BauG festgelegten Voraussetzungen als abstandsrelevant gewertet und das gegenständliche Bauansuchen infolgedessen wegen Unterschreitung des Grenzabstandes abgewiesen hat, belastete es sein Erkenntnis mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit.
17Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war. Im Hinblick auf die Gestaltung des Spruches des angefochtenen Erkenntnisses wird zur Klarstellung allerdings darauf hingewiesen, dass die abändernde Entscheidung eines Verwaltungsgerichtes über die Sache des Verwaltungsverfahrens (hier: Ansuchen um Erteilung der Baubewilligung) an die Stelle des Bescheides der belangten Behörde tritt. Einer vorherigen Aufhebung (oder wie im Revisionsfall gar: ersatzlosen Behebung) des angefochtenen Bescheides bedarf es dazu nicht (vgl. etwa VwGH 17.12.2024, Ra 2024/09/0064, mwN); eine ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides würde für sich bereits eine Entscheidung in der Sache darstellen und eine neuerliche Entscheidung über den Verfahrensgegenstand grundsätzlich ausschließen (vgl. VwGH 20.9.2021, Ro 2020/08/0008, mwN, sowie 25.3.2015, Ro 2015/12/0003).
Wien, am 4. November 2025