JudikaturVwGH

Ro 2022/13/0007 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
02. September 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident MMag. Maislinger sowie die Hofrätinnen Dr. Reinbacher und Dr. inLachmayer als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Karger, LL.M., MA, über die Revision des Zollamts Österreich gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 5. Oktober 2021, Zl. RV/5200001/2019, betreffend Haftung gemäß §§ 9 iVm 80 BAO (mitbeteiligte Partei: Y F, vertreten durch Mag. Rene Bauer, Rechtsanwalt in Wels), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid des Zollamts Linz Wels (nunmehr Zollamt Österreich) vom 8. August 2018 wurde der Mitbeteiligte als (ehemals) handelsrechtlicher Geschäftsführer der G GmbH (Primärschuldnerin) für aushaftende Abgabenschuldigkeiten (Einfuhrumsatzsteuer und Abgabenerhöhung) iHv insgesamt 447.592,33 € in Anspruch genommen.

2 Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesfinanzgericht nach Ergehen einer abweisenden Beschwerdevorentscheidung durch das Finanzamt und der Stellung eines Vorlageantrags durch den Mitbeteiligten Folge und hob den Haftungsbescheid ersatzlos auf.

3In der Begründung führte das Bundesfinanzgericht zusammengefasst aus, die Primärschuldnerin habe mit insgesamt 23 Zollanmeldungen im Zeitraum vom 30. Oktober 2009 bis zum 6. April 2010 die Überführung verschiedener Waren (überwiegend Textilien) in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr und die Befreiung der Waren von der Einfuhrumsatzsteuer nach Art. 6 Abs. 3 UStG 1994 beantragt, indem sie im Feld 37 der Zollanmeldungen den Verfahrenscode „4200“ eingetragen habe.

4 Im Feld 2 der Anmeldungen seien als „Versender/Ausführer“ verschiedene in der Türkei ansässige Unternehmen angegeben worden. Die Primärschuldnerin sei als indirekte Vertreterin der in den Zollanmeldungen angegebenen Empfänger in Frankreich, Belgien und Dänemark unter Verwendung ihrer Sonder UID aufgetreten. Die Aufträge zur Vornahme der Zollabfertigungen im „Verfahren 4200“ seien der Primärschuldnerin von der in Deutschland ansässigen GL GmbH erteilt worden, die als Vermittlerin zwischen den türkischen Versendern, den Frächtern bzw. Warenempfängern und der Primärschuldnerin aufgetreten sei. Das abgabenrechtliche Ermittlungsverfahren habe ergeben, dass die in den Zollanmeldungen als Warenempfänger angeführten Unternehmen missbräuchlich benutzt worden seien (Identitätsdiebstahl).

5 Mit Bescheid vom 1. Juni 2012 habe das Zollamt der Primärschuldnerin als Anmelderin der Waren gemäß Art. 201 Abs. 1 Buchst. a ZK iVm § 2 Abs. 1 ZollR DG für diese Geschäftsfälle eine Eingangsabgabenschuld iHv 416.961,54 € (Einfuhrumsatzsteuer) sowie gemäß § 108 Abs. 1 ZollR DG eine Abgabenerhöhung iHv 30.630,79 € vorgeschrieben, weil die Versendungsbelege für den Nachweis der an die Einfuhr unmittelbar anschließenden innergemeinschaftlichen Lieferung nicht vorgelegen seien.

6 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde sei mit (rechtskräftiger) Beschwerdevorentscheidung des Finanzamts vom 21. Oktober 2015 abgewiesen worden.

7 Der Mitbeteiligte sei vom 13. März 2003 bis zum 28. Jänner 2011 als handelsrechtlicher Geschäftsführer der Primärschuldnerin im Firmenbuch eingetragen gewesen. Ihm sei als selbständig vertretungsbefugtem Geschäftsführer der Primärschuldnerin bis zu seinem Ausscheiden aus dieser Funktion mit Gesellschafterbeschluss vom 25. Jänner 2011 die Erfüllung der abgabenrechtlichen Pflichten der Gesellschaft oblegen.

8Mit dem angefochtenen Bescheid vom 8. August 2018 sei der Mitbeteiligte gemäß §§ 9 und 80 BAO als Haftungspflichtiger für aushaftende Abgabenschulden der Primärschuldnerin im Ausmaß von 447.592,33 € herangezogen worden. Dieser Betrag sei im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Haftungsbescheids neben weiteren Abgabenschuldigkeiten am Abgabenkonto der Primärschuldnerin ausgehaftet. Die Uneinbringlichkeit der Abgabenforderung sei zu diesem Zeitpunkt aufgrund der im Firmenbuch gemäß § 40 FBG eingetragenen amtswegigen Löschung der Primärschuldnerin infolge Vermögenslosigkeit festgestanden.

9Voraussetzung für die Inanspruchnahme als Haftender nach §§ 9 und 80 BAO sei u.a. eine Abgabenforderung gegen den Vertretenen, deren Zahlungstermin in die Zeit der Vertretertätigkeit falle. Lege ein Abgabepflichtiger seine Funktion als Geschäftsführer einer GmbH zurück, könne er hinsichtlich jener Abgaben, die nach dem Tag der wirksamen Zurücklegung der Geschäftsführerbefugnis fällig geworden seien, nicht zur Haftung herangezogen werden. Der Mitbeteiligte sei mit Gesellschafterbeschluss vom 25. Jänner 2011 als Geschäftsführer ausgeschieden; damit habe der für ihn haftungsrelevante Zeitraum geendet. Mit der Erlassung des Abgabenbescheids vom 1. Juni 2012 sei eine Abgabenforderung gegen die Primärschuldnerin vorgelegen, deren Zahlungstermin nicht mehr in die Zeit der Vertretertätigkeit des Mitbeteiligten gefallen sei. Das Finanzamt vertrete im Wesentlichen die Auffassung, dass im Bereich der Eingangsabgaben eine Haftungsinanspruchnahme eines Geschäftsführers auch dann zulässig sei, wenn die Abgabenschuld gegenüber der Primärschuldnerin mit einem „Nacherhebungsbescheid“ zwar nach dem Ausscheiden des Geschäftsführers aus seiner Funktion festgesetzt worden sei, der Geschäftsführer aber seine Vertreterstellung iSd § 80 BAO im Einfuhrzeitpunkt noch inngehabt habe.

10 Mit dem angefochtenen Bescheid sei der Mitbeteiligte für die mit Abgabenbescheid vom 1. Juni 2012 gegenüber der Primärschuldnerin nachträglich buchmäßig erfassten und mitgeteilten Abgaben zur Haftung herangezogen worden. Art. 222 ZK („Frist zur Entrichtung der Abgaben“) setze voraus, dass der Abgabenbetrag dem Zollschuldner nach Art. 221 ZK mitgeteilt worden sei. § 73 ZollR DG (idF vor dem AbgÄG 2015), wonach Einfuhr- und Ausfuhrabgaben mit Beginn des Tages, an dem sie nach dem Zollrecht spätestens zu entrichten seien, im Sinn der abgabenrechtlichen Vorschriften fällig würden, sei gemäß § 2 Abs. 1 ZollRDG auch auf die sonstigen Eingangsabgaben anzuwenden. Eine Fälligkeit geschuldeter Eingangsabgaben ohne vorherige bescheidmäßige Festsetzung („Mitteilung“) sei nicht vorgesehen. Mit dem Abgabenbescheid vom 1. Juni 2012 sei der Primärschuldnerin der in Rede stehende Abgabenbetrag zu einem Zeitpunkt mitgeteilt worden, als der Mitbeteiligte nicht mehr Vertreter iSd § 80 BAO gewesen sei. Da der haftungsrelevante Zeitraum für den Mitbeteiligten bereits im Jänner 2011 geendet habe, könne er bei dieser Sachlage für den in Rede stehenden Abgabenbetrag nicht mehr zur Haftung herangezogen werden. Damit könne ein Eingehen auf die Frage, ob dem Mitbeteiligten eine haftungsrelevante Pflichtverletzung vorzuwerfen sei, unterbleiben.

11Eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof erklärte das Bundesfinanzgericht für zulässig, weil Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Haftung des Geschäftsführers bei Unregelmäßigkeiten im Zusammenhang mit der Überführung von Waren in den zoll- und steuerrechtlich freien Verkehr unter Inanspruchnahme der Steuerbefreiung nach Art. 6 Abs. 3 UStG 1994 fehle, insbesondere zur Frage, ob ein Geschäftsführer einer GmbH auch für Einfuhrumsatzsteuerbeträge zur Haftung herangezogen werden könne, die erst nach der wirksamen Zurücklegung der Geschäftsführerbefugnis fällig geworden seien.

12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende ordentliche Revision des Zollamts. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hatin einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Revision ist zulässig und begründet.

14Gemäß § 9 Abs. 1 BAO haften die in den §§ 80 ff BAO bezeichneten Vertreter neben den durch sie vertretenen Abgabepflichtigen für die diese treffenden Abgaben insoweit, als die Abgaben infolge schuldhafter Verletzung der den Vertretern auferlegten Pflichten nicht eingebracht werden können.

15 Der maßgebliche Bezugsrahmen für die Geltendmachung der Haftung von Abgaben ist der Zeitraum des aufrechten Bestehens der Vertreterfunktion. Dieser Zeitraum beginnt mit dem Zeitpunkt, zu dem die Vertreterbestellung wirksam wird, und endet, wenn die Vertreterfunktion erlischt (vgl. Predota/Rzeszut in Rzeszut/Tanzer/Unger , StollBAO², § 9 Tz 58). Die ordnungsgemäße Bestellung und Abberufung des Geschäftsführers einer GmbH ist sofort wirksam und von der Eintragung im Firmenbuch unabhängig (vgl. etwa VwGH 20.5.2015, Ra 2015/09/0018; 20.12.1991, 90/17/0112, mwN).

16 Nach den unbestrittenen Feststellungen des Bundesfinanzgerichts ist der Revisionswerber mit Gesellschafterbeschluss vom 25. Jänner 2011 als Geschäftsführer der Primärschuldnerin ausgeschieden, sodass seine Vertreterfunktion zu diesem Zeitpunkt geendet hat.

17 Dem Bundesfinanzgericht ist allerdings nicht zu folgen, wenn es die Ansicht vertritt, dass eine Haftung des Mitbeteiligten für die nach diesem Zeitpunkt bescheidmäßig festgesetzten (bzw. mitgeteilten) und fälligen Abgabenschuldigkeiten der Primärschuldnerin von vornherein ausscheidet.

18Zu den dem Vertreter „auferlegten Pflichten“ im Zusammenhang mit der Abgabenerhebung, deren Verletzung Haftungsfolgen auslösen, zählt nicht nur die Verpflichtung zur Abgabenentrichtung (vgl. etwa VwGH 15.6.2023, Ra 2021/13/0156, mwN; sowie die vom Bundesfinanzgericht ins Treffen geführten Erkenntnisse vom 22.2.1993, 91/15/0123 und vom 13.9.1988, 85/14/0161), sondern auch Offenlegungs-, Wahrheits-, Buchführungs- und Erklärungspflichten (vgl. z.B. VwGH 17.1.2024, Ro 2021/13/0019) im Interesse der Abgabenfestsetzung. Erfolgt eine Verletzung abgabenrechtlicher Pflichten durch den Vertreter innerhalb seiner „Funktionsperiode“, so fallen ihm die mit der Pflichtverletzung zu verbindenden Haftungsfolgen nach § 9 BAO zur Last. Der Vertreter haftet somit auch für Abgabenausfälle, die nach Beendigung der Vertretertätigkeit eintreten, soweit diese auf vom Vertreter zu verantwortende Pflichtverletzungen während seiner Funktionsperiode zurückzuführen sind (vgl. Predota/Rzeszut in Rzeszut/Tanzer/Unger , StollBAO², § 9 Tz 59; sowie VwGH 20.9.1995, 95/13/0076).

19Da sich das Bundesfinanzgericht nicht mit der Frage, ob dem Mitbeteiligten eine haftungsrelevante Pflichtverletzung während seiner Vertretertätigkeit vorzuwerfen ist, auseinandergesetzt hat, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 2. September 2025