JudikaturVwGH

Ra 2021/19/0416 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
23. Dezember 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Andrés, über die Revision 1. des Z S, 2. der D S, 3. des O S, 4. der A S, und 5. des Z S, alle vertreten durch Mag. Stefan Harg, Rechtsanwalt in 6900 Bregenz, Belruptstraße 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. September 2021, 1. W155 2211857 1/23E, 2. W155 2211853 1/20E, 3. W155 2211855 1/18E, 4. W155 2211851 1/18E und 5. W155 22286601/17E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind miteinander verheiratet und die Eltern der minderjährigen Dritt bis Fünftrevisionswerber. Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin stellten für sich am 17. Dezember 2015, für den Drittrevisionswerber am 13. Oktober 2016, für die Viertrevisionswerberin am 5. April 2018 und für den Fünftrevisionswerber am 28. August 2019 Anträge auf internationalen Schutz.

2 Mit Bescheiden jeweils vom 15. November 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der Erstbis Viertrevisionswerber zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

3Mit Bescheid vom 21. Jänner 2020 wies das BFA den Antrag des Fünftrevisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die dagegen erhobenen Beschwerden der Revisionswerber nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten als unbegründet ab, gab den Beschwerden im Übrigen statt, erkannte den Revisionswerbern den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu, erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Das Bundesverwaltungsgericht legte die gegen die Abweisung der Beschwerden hinsichtlich der Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten gerichtete Revision dem Verwaltungsgerichtshof samt den Akten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor. Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein; Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

6 Die Revision rügt hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin einerseits ein Abweichen des Bundesverwaltungsgerichts von näher genannter Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Voraussetzungen für die Asylgewährung an Frauen aus Afghanistan und macht andererseits Begründungsmängel geltend.

7 Mit Beschluss vom 3. November 2022, Ra 2022/19/0416 bis 0420, wurde das zulässige Revisionsverfahren bis zur Vorabentscheidung durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen C 608/22 und C609/22 über die mit Beschlüssen des Verwaltungsgerichtshofes vom 14. September 2022, EU 2022/0016 (Ra 2021/20/0425) und EU 2022/0017 (Ra 2022/20/0028), vorgelegten Fragen ausgesetzt.

8 Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 4. Oktober 2024, C 608/22 und C 609/22, diese Fragen beantwortet.

9Der Verwaltungsgerichtshof hat sich nach Erlassung des genannten Urteils in den Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024, zu Ra 2021/20/0425 und zu Ra 2022/20/0028, mit einem Vorbringen befasst, wie es auch im Revisionsfall erstattet wurde. Es wird daher gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe dieser Erkenntnisse verwiesen.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat in diesen Erkenntnissen festgehalten, dass entsprechend der Ausführungen des EuGH im zitierten Urteil vom 4. Oktober 2024, im Fall einer Situation, wie sie im Spruchpunkt 1. des Urteilstenors geschildert wird, bereits deshalb von Verfolgungshandlungen gegen afghanische Frauen auszugehen ist, weil diese Maßnahmen aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu führen, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden, und diese Maßnahmen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation zeugen, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird.

11 Es ist nicht erforderlich zu prüfen, ob die Asylwerberin eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ aufweist, weil es angesichts dessen, dass im Herkunftsstaat eine Situation gegeben ist, die in ihrer Gesamtheit Frauen zwingt, dort ein Leben führen zu müssen, das mit der Menschenwürde unvereinbar ist, darauf nicht ankommt. Es ist vielmehr zur Bejahung einer Verfolgungshandlung im Einzelfall grundsätzlich bereits ausreichend, dass es eine Frau ablehnt, in einer Gesellschaft leben und sich Einschränkungen beugen zu müssen, in der die die Staatsgewalt ausübenden Akteure solche sanktionsbewehrten Regelungen aufstellen und Maßnahmen ergreifen (wie die im Spruchpunkt 1. des genannten Urteils des EuGH geschilderten), die in ihrer Gesamtheit die Menschenwürde durch die Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in Afghanistan verwehrt wird, massiv beeinträchtigen. Vor diesem Hintergrund kommt es auch nicht darauf an, ob eine Asylwerberin diesen Regelungen im Fall eines Aufenthaltes im Herkunftsstaat tatsächlich zuwiderhandeln oder sie sich angesichts der ihr im Fall des Zuwiderhandelns drohenden Konsequenzen diesen Regelungen fügen würde.

12 Es ist mithin grundsätzlich für die Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ausreichend, im Rahmen der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin, die es ablehnt, sich einer solchen wie der hier in Rede stehenden Situation auszusetzen, und die daher um die Gewährung von Flüchtlingsschutz ansucht, festzustellen, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland, in dem solche Verhältnisse herrschen, tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, wenn die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage, die ihre Staatsangehörigkeit und ihr Geschlecht betreffen, erwiesen sind.

13 Entgegen dieser Rechtslage ist das Bundesverwaltungsgericht im Revisionsfall tragend davon ausgegangen, dass es für den Anspruch der Zweitrevisionswerberin auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten auf eine „verinnerlichte westliche Orientierung“ der Zweitrevisionswerberin ankomme und in ihrem Herkunftsstaat aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt sei, weil die Frauen in Afghanistan auferlegten Einschränkungen keine asylrelevante Intensität erreichten.

14Somit ist aus den in den oben erwähnten Erkenntnissen vom 23. Oktober 2024 genannten Gründen auch hier die angefochtene Entscheidung hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb sie gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG im angefochtenen Umfang aufzuheben war.

15Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. VwGH 20.4.2023, Ra 2022/19/0028, mwN), weshalb auch das Erkenntnis über die Beschwerde des Erstrevisionswerbers sowie der minderjährigen Drittbis Fünftrevisionswerber im angefochtenen Umfang der Abweisung des Antrags auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status eines Asylberechtigten gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

16Von der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.

17Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 23. Dezember 2024