JudikaturJustiz7Ob78/16w

7Ob78/16w – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Mai 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofräte Dr. Höllwerth, Mag. Dr. Wurdinger, Mag. Malesich und Dr. Singer als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei G***** G*****, vertreten durch Dr. Gert Weiler, Rechtsanwalt in Feldbach, gegen die beklagte Partei U***** AG, *****, vertreten durch Lippitsch.Neumann Rechtsanwälte GmbH in Graz, wegen 6.993,25 EUR sA, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 4. Februar 2016, GZ 1 R 2/16i 50, mit dem das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 27. Oktober 2015, GZ 12 C 343/14z 43, aufgehoben wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Berufungsgerichts wird aufgehoben und diesem die neuerliche Entscheidung über die Berufung aufgetragen.

Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Der Kläger hatte bei der Beklagten einen Unfall-Versicherungsvertrag abgeschlossen, welchem die Klipp Klar Bedingungen der Beklagten für die Unfallversicherung 2012 UB00 (fortan: AUVB 2012) zu Grunde liegen. Diese haben auszugsweise folgenden Inhalt:

Was ist ein Unfall? – Artikel 6

1. Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis (Unfallereignis) unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet.

Begrenzung des Versicherungsschutzes

In welchen Fällen zahlen wir nicht? – Artikel 20 und 21 Ausschlüsse – Artikel 20

Ausgeschlossen von der Versicherung sind Unfälle:

8. die die versicherte Person infolge einer wesentlichen Beeinträchtigung ihrer psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit durch Alkohol, Suchtgifte oder Medikamente erleidet.

...

Der Kläger feierte in der Nacht von 7. 9. auf 8. 9. 2013 mit Freunden zunächst auf einer Veranstaltung am Flughafen in F*****. Gegen 03:00 Uhr früh ließ sich der Kläger gemeinsam mit zwei Freunden zu einem Lokal in G***** bringen. Bis dahin hatte der Kläger zumindest eine halbe Flasche Bier sowie – ab 22:45 Uhr – 6 bis 7 Wodka Red Bull in einem nicht feststellbaren Mischverhältnis und 2 Gin Tonic konsumiert.

Um 03:23 Uhr wollten die Brüder M***** und P***** K***** gemeinsam mit zwei weiteren Personen das Lokal betreten. Im Windfang vor dem Eingang zum Lokal wurde P***** K***** ohne Grund von dem ihm bis dahin unbekannten Kläger in den Würgegriff genommen. M***** K***** ging – von seiner Freundin auf die Situation seines Bruders aufmerksam gemacht – dazwischen. Es entwickelte sich eine „Schubserei“ zwischen dem Kläger einerseits und den Brüdern K***** sowie einem Freund der beiden andererseits. In der Folge versuchte ein Security die Streitenden auseinander zu drängen, wonach die Brüder K***** und ihr Freund nun vor diesem, der Kläger hinter diesem standen. Der Zusammenstoß war dadurch bereits beendet, als der Kläger M***** K***** plötzlich eine Ohrfeige versetzte, sich umdrehte und aus dem Windfang in Richtung Stiegenabgang lief. M***** K***** und seine Begleiter folgten dem Kläger. Noch im Lauf stieß M***** K***** den Kläger mit beiden Händen gegen den Rücken, sodass dieser gegen eine Wand aus Sicherheitsglas prallte, nach hinten fiel und mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. „Zu diesem Zeitpunkt war seit dem Betreten des Stiegenaufgangs durch M***** K***** (03:23:26 Uhr) nicht einmal eine Minute vergangen.“

Der Kläger begehrte von der Beklagten für den am 8. 9. 2013 erlittenen Unfall eine Versicherungsleistung von 6.993,25 EUR sA .

Die Beklagte beantragte die Abweisung des Klagebegehrens und wandte ein, dass der zur Verletzung des Klägers führende Vorgang kein Unfall im Sinn des Art 6 AUVB 2012 gewesen sei. Sollte das Vorliegen eines Unfalls zu bejahen sein, greife der Ausschluss nach Art 20.8 AUVB 2012, sei doch der Kläger aufgrund seines Alkoholkonsums in seiner psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt gewesen.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Es stellte über den eingangs zusammengefassten Sachverhalt hinaus fest, dass der Angriff des Klägers gegen P***** K***** sowie der Schlag gegen M***** K***** mit der daran anschließenden Flucht, – zumindest teilweise – auf dessen starke Alkoholisierung zurückzuführen gewesen sei, welche seine psychische und physische Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt habe. Rechtlich kam das Erstgericht zum Schluss, dass der Kläger gerade den Eingangsbereich des Lokals habe verlassen wollen, als er aufgrund eines von einem Dritten geführten Schlags zu Sturz gekommen sei und sich dabei schwer verletzt habe. Dieser Vorfall erfülle den Unfallbegriff, weil der Kläger durch ein unerwartetes von außen kommendes Ereignis die Beherrschung über einen zunächst gewollten Geschehnisablauf verloren habe . Der Kläger habe aber nach Art 20.8 AUVB 2012 der Versicherungsbedingungen seinen Leistungsanspruch verwirkt, weil er unter Einfluss seiner starken Alkoholisierung einen Raufhandel mit einer unbekannten Person angezettelt habe, was dann ursächlich für die Gegenwehr und die eigene Verletzung des Klägers gewesen sei.

Das Berufungsgericht gab der Berufung des Klägers dahin Folge, dass es das Urteil des Erstgerichts aufhob und diesem die neuerliche Entscheidung nach Verfahrensergänzung auftrug. Es führte rechtlich aus, dass das Erstgericht lediglich festgestellt habe, der tätliche Angriff des Klägers mit der anschließenden Flucht sei zumindest teilweise auf dessen starke Alkoholisierung zurückzuführen, die seine psychische und physische Leistungsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt habe. Nach der Judikatur (7 Ob 30/01i) reiche zwar bereits Mitkausalität aus, doch entspreche deren weite Auslegung durch das Erstgericht nicht mehr dem einem durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmer erkennbaren Zweck des hier vereinbarten Risikoausschlusses. Das alkoholbedingt aggressive Verhalten des Klägers gegenüber anderen Gästen vor dem Unfall sei für ein „Erleiden“ des Unfalls „infolge einer wesentlichen Beeinträchtigung der psychischen oder physischen Leistungsfähigkeit durch Alkohol“ nicht ausreichend. Maßgeblich sei vielmehr die allfällige Kausalität der Alkoholisierung des Klägers in Bezug auf den Anprall an die Wand aus Sicherheitsglas und dem daran anschließenden Aufschlagen auf dem Boden mit dem Hinterkopf. Da das Erstgericht dazu keine Feststellungen getroffen habe, liege ein sekundärer Feststellungsmangel vor, der vom Erstgericht im fortgesetzten Verfahren zu beheben sei.

Der Aufhebungsbeschluss enthält den Ausspruch, dass der Rekurs an den Obersten Gerichtshof zulässig sei, weil das Berufungsgericht teilweise von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Kausalität der Alkoholisierung für einen Unfall abgewichen sei.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der Rekurs der Beklagten wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Entscheidung des Erstgerichts zu bestätigen. Hilfsweise stellt die Beklagte auch einen Aufhebungsantrag.

Der Kläger erstattete eine Rekursbeantwortung mit dem Antrag den Rekurs der Beklagten zurückzuweisen, hilfsweise diesem nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und in seinem Aufhebungsantrag auch berechtigt.

1. Ein Unfall ist ein plötzlich von außen auf den Körper mit mechanischer Kraft einwirkendes Ereignis (RIS Justiz RS0058130; RS0058077; vgl auch RS0084348). Für den Versicherten muss die Lage so sein, dass er sich bei normalem Geschehensablauf den Folgen des Ereignisses im Augenblick ihres Einwirkens auf seine Person nicht mehr entziehen kann (RIS Justiz RS0082022 [T1]). Dass eigenes Verhalten zum Unfall beitragen, ihn sogar herbeiführen kann, ist in der Unfallversicherung nicht zweifelhaft. Dabei wird zwar ein gewolltes und gesteuertes Verhalten des Versicherungsnehmers nicht als Unfallereignis angesehen werden können; dagegen liegt aber ein Unfall bei einem Vorgang vor, der vom Versicherten bewusst und gewollt begonnen und beherrscht wurde, sich dieser Beherrschung aber durch einen unerwarteten Ablauf entzogen und nunmehr schädigend auf den Versicherten eingewirkt hat (RIS Justiz RS0082008). Eine solche Situation lag auch hier vor: Der Kläger lief aus dem Windfang in Richtung Stiegenabgang und prallte dann – aufgrund eines unerwarteten, weil gegen seinen Rücken geführten – Stoßes gegen eine Wand aus Sicherheitsglas, worauf er nach hinten fiel und mit dem Hinterkopf auf dem Boden aufschlug. Das Erstgericht hat demnach zutreffend das Vorliegen eines Unfalls im Sinn des Art 6 AUVB 2012 bejaht.

2. Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach Vertragsauslegungsgrundsätzen (§§ 914 f ABGB) ausgehend vom Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers auszulegen (RIS Justiz RS0050063; RS0112256). Nach objektiven Gesichtspunkten als unklar aufzufassende Klauseln müssen daher so ausgelegt werden, wie sie ein durchschnittlich verständiger Versicherungsnehmer verstehen musste, wobei Unklarheiten im Sinn des § 915 ABGB zulasten des Verwenders der AGB, also des Versicherers gehen (RIS Justiz RS0017960). Die einzelnen Klauseln sind, wenn sie nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf ihren Wortlaut auszulegen (RIS-Justiz RS0008901). In allen Fällen ist der einem objektiven Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen zu berücksichtigen (RIS Justiz RS0008901 [T5, T7, T87]). Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommenen Gefahren einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zwecks und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungs-zusammenhangs erfordert (RIS Justiz RS0107031):

3. Zunächst wird hier die Frage nach einer wesentlichen Beeinträchtigung der psychischen Leistungsfähigkeit durch Alkohol im Allgemeinen daran zu messen sein, ob der Versicherte noch in der Lage ist, mit der jeweiligen Situation, in der er sich zur Zeit des Unfalls befindet, einigermaßen zurechtzukommen (7 Ob 11/95; vgl RIS Justiz RS0082099). Die Bewusstseinsstörung muss dabei, um einen Ausschluss von der Versicherung zu begründen, den Unfall verursacht haben, zumindest aber mitursächlich gewesen sein (RIS Justiz RS0082132 [T1]). Der – einem verständigen Versicherungsnehmer ohne weiteres erkennbare – Sinn der hier zu beurteilenden Ausschlussklausel liegt darin, solche Unfälle vom Versicherungsschutz auszunehmen, die sich als Folge einer schon vor dem Unfall vorhandenen – gefahrerhöhenden – Beeinträchtigung beim Versicherten darstellen. Dabei muss diese Beeinträchtigung so beschaffen sein, dass sie eine den Unfall vermeidende Reaktion des Versicherten nicht zulässt (7 Ob 79/07d; RIS Justiz RS0122121).

4. Das Verhalten des Klägers, das seiner „Flucht“ Richtung Stiegenabgang unmittelbar vorausging, zeichnete sich durch das gänzliche Fehlen sozialadäquater Selbstkritikfähigkeit und anlasslose Aggression gegen Unbeteiligte aus. Dies muss zweifellos als wesentliche Beeinträchtigung der psychischen Leistungsfähigkeit gelten und war adäquat ursächlich für das Verhalten des „Gegners“. Nach der maßgeblichen – in der Berufung des Klägers allerdings bekämpften – Feststellung des Erstgerichts war der Angriff des Klägers auf P***** K***** sowie der Schlag gegen M***** K***** mit der daran anschließenden Flucht, – zumindest teilweise – auf dessen starke Alkoholisierung zurückzuführen. Trifft dies in tatsächlicher Hinsicht zu, ist der Risikoausschluss nach Art 20.8 AUVB 2012 verwirklicht.

5. Das Berufungsgericht hat sich infolge abweichender Rechtsansicht nicht mit der die zuvor wiedergegebene Feststellung betreffenden Beweis- und Verfahrensrüge des Klägers befasst, was im Rahmen seiner neuerlichen Entscheidung nachzuholen sein wird. Hat die bekämpfte Feststellung des Erstgerichts Bestand, muss dies zur Abweisung des Klagebegehrens führen. Auf die vom Berufungsgericht relevierte Kausalität der Alkoholisierung des Klägers in Bezug auf den Anprall an die Wand aus Sicherheitsglas und dem daran anschließenden Aufschlagen auf dem Boden mit dem Hinterkopf kommt es dagegen nicht an.

6. Im Ergebnis folgt:

6.1. War eine starke Alkoholisierung zumindest mitursächlich für den gänzlichen Wegfall sozialadäquaten Verhaltens und für anlasslose Aggression des Versicherten gegen unbeteiligte Dritte, dann ist damit der Risikoausschluss nach Art 20.8 AUVB 2012 verwirklicht und führt zum Verlust des Versicherungsschutzes für einen Unfall, den der Versicherte bei der unmittelbar anschließenden Flucht infolge eines Stoßes eines zuvor Angegriffenen in den Rücken erleidet.

6.2. Die zur insoweit strittigen Tatfrage vom Kläger in seiner Berufung erhobene Beweis und Verfahrensrüge wird das Berufungsgericht bei seiner neuerlichen Entscheidung zu erledigen haben. Erweist sich die Berufung des Klägers insoweit als nicht berechtigt, wird die Entscheidung des Erstgerichts zu bestätigen sein, ohne dass es weiterer Beweisaufnahmen bedarf.

6.3. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
12
  • RS0112256OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Auslegung von AVB's hat sich am Verständnis eines verständigen durchschnittlichen Versicherungsnehmers zu orientieren, ein Maßstab, der den Kriterien der §§ 914 f ABGB weitgehend entspricht. Unklarheiten sind zu Lasten des Versicherers auszulegen, weil dies die Interessen des Vertrauensschutzes erfordern, der "erkennbare Zweck einer Bestimmung der Allgemeinen Geschäftsbedingungen" muss aber stets beachtet werden. Risikoeinschränkende Klauseln besitzen in dem Maße keine Vertragskraft, als deren Verständnis von einem Versicherungsnehmer ohne juristische Vorbildung nicht erwartet werden kann.

  • RS0107031OGH Rechtssatz

    11. Dezember 2023·3 Entscheidungen

    Als Ausnahmetatbestände, die die vom Versicherer übernommene Gefahr einschränken oder ausschließen, dürfen Ausschlüsse nicht weiter ausgelegt werden, als es ihr Sinn unter Betrachtung ihres wirtschaftlichen Zweckes und der gewählten Ausdrucksweise sowie des Regelungszusammenhanges erfordert. Den Beweis für das Vorliegen eines Risikoausschlusses als Ausnahmetatbestand hat der Versicherer zu führen.

  • RS0050063OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Allgemeine Versicherungsbedingungen sind nach Vertragsauslegungsgrundsätzen auszulegen. Die Auslegung hat sich daher am Maßstab des durchschnittlich verständigen Versicherungsnehmers zu orientieren (vgl VR 1992/277; VR 1992/284).

  • RS0017960OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Die nach objektivem Gesichtspunkt als unklar aufzufassenden allgemeinen Versicherungsbedingungen müssen so ausgelegt werden, wie dies der durchschnittlich verständige Versicherungsnehmer verstehen musste, wobei Unklarheiten zu Lasten des Versicherers gehen. Zu berücksichtigen wäre allerdings in allen Fällen der einem objekten Betrachter erkennbare Zweck einer Bestimmung der allgemeinen Geschäftsbedingungen (Prölls - Martin VVG 24. Auflage, 24 f).

  • RS0008901OGH Rechtssatz

    06. März 2024·3 Entscheidungen

    Allgemeine Vertragsbedingungen sind so auszulegen, wie sie sich einem durchschnittlichen Angehörigen aus dem angesprochenen Adressatenkreis erschließen. Ihre Klauseln sind, wenn sie nicht auch Gegenstand und Ergebnis von Vertragsverhandlungen waren, objektiv unter Beschränkung auf den Wortlaut auszulegen.