JudikaturJustiz7Ob27/18y

7Ob27/18y – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. März 2018

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und durch die Hofrätinnen und Hofräte Dr. Höllwerth, Dr. E. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache der Minderjährigen S***** U*****, geboren am ***** 2009, *****, Vater M***** U*****, vertreten durch Mag. Klaus Kabelka, Rechtsanwalt in Wien, Mutter S***** Y*****, Tante M***** U*****, vertreten durch Dr. Susanne Schwarzenbacher, Rechtsanwältin in Wien, über den Revisionsrekurs des Vaters gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 6. November 2017, GZ 43 R 510/17v 88, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Innere Stadt Wien vom 4. August 2017, GZ 83 Ps 147/16m 80, bestätigt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der Beschluss des Rekursgerichts wird aufgehoben und die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an das Rekursgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Die Minderjährige ist die Tochter von S***** Y***** und M***** U*****. Die Mutter hat zur Minderjährigen seit etwa deren 1. Lebensjahr keinen Kontakt mehr. Nach der Scheidung der Eltern wurde dem Vater die alleinige Obsorge übertragen, der Mutter wurde ein Kontaktrecht eingeräumt, das diese jedoch nicht ausübt.

Die Schwester des Vaters und Tante der Minderjährigen beantragte, dem Vater die alleinige Obsorge zu entziehen und diese auf sie, zumindest vorläufig, zu übertragen. Sie sei nicht nur die Tante, sondern auch die Pflegemutter der Minderjährigen. Seitdem diese drei Jahre alt sei, lebe sie bei ihr, sie habe die Pflege und Erziehung zur Gänze übernommen und sei die Hauptbezugsperson. Der Vater hingegen gefährde das Kindeswohl durch seine Drohungen, er habe Macht und könne die Minderjährige jederzeit von der Schule abholen und nach Bosnien bringen, wo sie niemand mehr finden werde. Ebenso seien seine Ankündigungen, die Minderjährige müsse bei ihm wohnen und in eine fremde Schule in der Wohngegend des Vaters wechseln, dem Kindeswohl abträglich. Diese vor der Minderjährigen geäußerten Umstände würden diese in einen panischen Angstzustand und unter höchsten psychischen Druck versetzen.

Der Vater sprach sich gegen den Antrag der Tante aus. Unrichtig sei, dass seine Schwester die Minderjährige überwiegend betreue. Auch seine nunmehrige Frau und er würden sehr viel mit der Minderjährigen unternehmen. Er habe auch vor, seine Tochter zu sich zu nehmen und in einer zu seinem Wohnsitz näher gelegenen Schule anzumelden.

Das Erstgericht regelte gemäß § 107 AußStrG die Obsorgeverhältnisse vorläufig dahin, dass es dem Vater die Obsorge entzog und diese der Tante übertrug. Der Vater habe bekanntgegeben, sich zwei Monate und zwar bis 7. 9. 2017 nicht in Wien aufzuhalten. Da die Minderjährige ihre Ferien in Wien verbringe, bedürfe es im Hinblick darauf, dass der Vater sämtliche Vollmachten der Tante betreffend Betreuung und Erziehung gekündigt habe, einer vorläufigen Regelung der Obsorgeverhältnisse.

Das Rekursgericht bestätigte diesen Beschluss. Da der Vater zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch die erste Instanz für längere Zeit ortsabwesend gemeldet gewesen sei, die das Kind betreuende Tante jedoch über keine Vollmachten für die Betreuung mehr verfüge, sei eine vorläufige Obsorgeübertragung an die Tante erforderlich gewesen. Zum Entscheidungszeitpunkt sei zwar bekannt gewesen, dass der Vater die Rückkehr für den 7. 9. 2017 plane. Da diese dennoch ungewiss gewesen sei, sei eine Befristung nicht sinnvoll. Aber auch für die Zeit nach seiner Rückkehr müsse hervorgehoben werden, dass der Vater eine Übersiedlung der Tochter zu ihm und einen Schulwechsel wünsche. Aus dem Akteninhalt ergebe sich, dass die Tante großteils schon seit Jahren, zumindest aber seit Dezember 2016 vereinbarungsgemäß für die Erziehung und Pflege der Minderjährigen, die auch bei ihr lebe, zuständig sei. Dass unter diesen Umständen das Kind eine Fortsetzung der Betreuung im gewohnten Umfeld wünsche, sei nachvollziehbar. Eine Einigung der Tante und des Vaters sei nicht möglich, sodass im Interesse des Kindes vorläufig nur die Tante Kontinuität für das Kind bieten könne.

Das Rekursgericht sprach aus, dass der Revisionsrekurs nicht zulässig sei.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Revisionsrekurs des Vaters mit einem Abänderungsantrag, hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Tante begehrt in der ihr vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsrekursbeantwortung, den Revisionsrekurs zurückzuweisen; hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig, er ist auch im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Nach der Rechtsprechung können die in § 66 Abs 1 Z 1 AußStrG (hier Verletzung des rechtlichen Gehörs nach § 58 Abs 1 Z 1 AußStrG) genannten Verfahrensmängel auch dann im Revisionsrekurs geltend gemacht werden, wenn sie vom Rekursgericht verneint wurden (RIS Justiz RS0030748 [T14]). Rechtliches Gehör der Partei ist aber schon dann gegeben, wenn sie sich – wie hier – schriftlich äußern konnte oder geäußert hat (RIS Justiz RS0006036). Der auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs gegründete Verfahrensmangel wurde damit vom Rekursgericht zutreffend verneint.

2.1 Die Umschreibung des Begriffs „Pflegeeltern“ in § 184 ABGB knüpft an zwei Merkmale an: Die – tatsächliche – ganze oder teilweise Besorgung der Pflege und Erziehung sowie das Bestehen einer dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und Kindern nahekommenden persönlichen Beziehung oder die Absicht, eine solche herzustellen. Nach § 185 Abs 1 ABGB hat das Gericht einem Pflegeelternteil auf seinen Antrag die Obsorge für das Kind ganz oder teilweise zu übertragen, soweit das Pflegeverhältnis nicht nur für kurze Zeit beabsichtigt ist und die Übertragung dem Wohl des Kindes entspricht. Sind die Eltern oder Großeltern mit der Obsorge betraut und stimmen sie der Übertragung nicht zu, darf diese nur verfügt werden, wenn sonst das Wohl des Kindes gefährdet wäre (§ 185 Abs 2 ABGB).

2.2 Maßnahmen des Gerichts nach § 181 ABGB setzen eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit der Änderung des bestehenden Zustands voraus (RIS Justiz RS0085168). Der Obsorge durch leibliche Elternteile ist vor der Betreuung durch Pflegeeltern der Vorzug zu geben, solange beim Elternteil keine Gefährdung des Kindes – verschuldet oder unverschuldet – zu besorgen ist (RIS Justiz RS0048690).

Hier geht es um die vorläufige Maßnahme nach § 107 Abs 2 AußStrG.

3. Entgegen der Ansicht der Vorinstanzen ist – selbst vor dem Hintergrund, dass die Tante über keine Vollmachten für die Betreuung verfügte – allein die angekündigte, zeitlich befristete, urlaubsbedingte Ortsabwesenheit des Vaters kein ausreichender Grund für die vorläufige Übertragung der Obsorge. Abgesehen davon gibt es keinen Anhaltspunkt für eine Unerreichbarkeit des Vaters und auch nicht dafür, dass Entscheidungen während der Ferienzeit zu treffen gewesen wären, die eine vorläufige Änderung in der Obsorge erforderlich gemacht hätten.

4.1 Darüber hinaus zeigt der Revisionsrekurswerber Mängel des Rekursverfahrens gemäß § 66 Abs 1 Z 2 AußStrG auf, weil sich das Rekursgericht mit den Rekursausführungen zur Verfahrens und Beweisrüge nur unvollständig auseinandergesetzt und sich mit gewichtigen Argumenten des Vaters gar nicht befasst hat (RIS Justiz RS0043144 [T6, T7]).

4.2.1 Richtig verweist der Revisionsrekurswerber nämlich darauf, dass das Rekursgericht seine Mängelrüge insoweit nicht behandelte, als er das Vorgehen des Erstgerichts bemängelte, seine Feststellungen – ausschließlich – auf die Stellungnahme des Kinder und Jugendhilfeträgers zu gründen und weitere Beweisaufnahmen unterlassen zu haben. Insoweit ist das Rekursverfahren mangelhaft geblieben.

4.2.2 Im Übrigen hat das Rekursgericht die umfangreiche Beweisrüge des Vaters überhaupt nicht behandelt, sondern trifft „Feststellungen aus dem Akteninhalt“, die den bekämpften Feststellungen zum Teil widersprechen. Damit steht kein Sachverhalt zur Verfügung, um die behauptete Stellung der Tante als Pflegeelternteil und das Kindeswohl beurteilen zu können.

4.2.3 Aufgrund dieser wesentlichen Mängel des Rekursverfahrens ist die Aufhebung der Entscheidung und die Zurückverweisung der Rechtssache an das Rekursgericht unumgänglich.

Rechtssätze
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