JudikaturJustiz4Ob189/06g

4Ob189/06g – OGH Entscheidung

Entscheidung
21. November 2006

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Griß als Vorsitzende und durch die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Schenk sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Vogel, Dr. Jensik und Dr. Musger als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj Kinder Marcel W*****, geboren am 15. März 1999, und Selina W*****, geboren am 17. Juni 2002, wohnhaft bei der Mutter Cornelia W*****-M*****, Liechtenstein, beide vertreten durch den Kollisionskurator Mag. Clemens Schmölz, Notarsubstitut, Feldkirch, Schillerstraße 3, wegen pflegschaftsgerichtlicher Genehmigung einer Klagsführung, über den Revisionsrekurs der durch den Kollisionskurator vertretenen Kinder gegen den Beschluss des Landesgerichts Feldkirch vom 14. Juli 2006, GZ 1 R 143/06x-19, mit welchem über Rekurs der Mutter der Beschluss des Bezirksgerichts Feldkirch vom 9. Juni 2006, GZ 12 P 99/05 m-13, ersatzlos behoben, der Antrag auf pflegschaftsgerichtliche Genehmigung zurückgewiesen, das vorangegangene Pflegschaftsverfahren für nichtig erklärt und das Pflegschaftsverfahren eingestellt wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die angefochtenen Beschlüsse werden aufgehoben, und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.

Text

Begründung:

Marcel und Selina W***** sind die minderjährigen Kinder von Cornelia W*****-M***** und Johann Josef W*****. Die Kinder leben mit ihrer Mutter in Liechtenstein. Sie sind österreichische Staatsbürger; ob sie auch liechtensteinische Landesbürger sind, ist nicht festgestellt.

Der Vater ist am 10. Juni 2003 gestorben. Er war österreichischer Staatsbürger, wohnte aber bis zu seinem Tod ebenfalls in Liechtenstein. Testamentarische Alleinerbin war die Mutter der Kinder. Das Verlassverfahren wurde beim Fürstlichen Landgericht Vaduz geführt; es endete mit der Einantwortung an die Mutter. Nach der Einantwortungsurkunde betrug der Reinnachlass 8.806 CHF. Der Pflichtteil der Kinder wurde dadurch geleistet, dass die Mutter je

1.500 CHF auf deren Konten überwies. Für die Kinder wurde in Liechtenstein ein Rechtsfürsorgeverfahren geführt; sie waren im dortigen Verlassverfahren durch einen Kollisionskurator vertreten. Der Vater war auch Eigentümer von österreichischen Liegenschaften. Daher wurde auch beim Erstgericht ein Verlassverfahren eingeleitet. In diesem Verfahren bestellte das Erstgericht einen Kollisionskurator für die Kinder. Die Mutter sei zugleich Alleinerbin, weshalb eine Interessenkollision vorliege. Zur Ermittlung der Pflichtteilsansprüche sei die Bestellung eines Kollisionskurators erforderlich.

Der Kollisionskurator versuchte, genauere Informationen über das liechtensteinische Vermögen des Erblassers zu bekommen. Aus dem Schriftverkehr ergibt sich, dass er Bankguthaben des Verstorbenen vermutete, die in Liechtenstein nicht aktenkundig geworden waren. Die Mutter verwies dazu auf das Ergebnis des liechtensteinischen Verfahrens, verweigerte aber eine weiter gehende Kooperation. Der Kollisionskurator beantragt die pflegschaftsgerichtliche Genehmigung einer Stufenklage auf Leistung des Pflichtteils. Damit soll die Mutter zur Bekanntgabe des Verlassenschaftsvermögens und von anzurechnenden Schenkungen sowie zur Leistung des sich daraus ergebenden Nachlass- und Schenkungspflichtteils verhalten werden. Es sei ihm als Kurator nicht möglich gewesen, den Vermögensstand des Verstorbenen zu ermitteln. Das Fürstliche Landgericht habe seinen Antrag auf Akteneinsicht sowie auf Wiedereröffnung des Verfahrens abgelehnt; Bankauskünfte seien in Liechtenstein offenkundig nicht eingeholt worden. Es bestehe daher der Verdacht, dass die Kinder in ihrem Pflichtteilsanspruch verletzt seien.

Das Erstgericht genehmigte die Klagsführung. Zur Begründung verwies es ohne nähere Erläuterung auf das Kindeswohl.

Das von der Mutter angerufene Rekursgericht behob diese Entscheidung, wies den Antrag zurück, erklärte das vorangegangene Pflegschaftsverfahren für nichtig und stellte es ein. Es bewertete den Streitgegenstand mit über 20.000 EUR und ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu. In pflegschaftsgerichtlichen Genehmigungsverfahren komme zwar Dritten, insbesondere dem vorgesehenen Prozessgegner, grundsätzlich keine Parteistellung zu. Die nächsten Angehörigen eines Minderjährigen hätten aber „im Interesse des Pflegebefohlenen in besonders gelagerten Fällen" Parteistellung und damit auch ein Rekursrecht. Im vorliegenden Fall sei eine Gefährdung der Kinder zu bejahen, da sie in ein Pflegschaftsverfahren vor einem für sie nicht zuständigen Gericht einbezogen würden. Aus Anlass des daher zulässigen Rekurses sei von Amts wegen die inländische Gerichtsbarkeit (internationale Zuständigkeit) zu prüfen. Rechtsgrundlage dafür sei Art 14 des Vertrags zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und Vormundschaft, BGBl 1956/213 idF BGBl 1968/99. Aus dieser Bestimmung ergebe sich, dass die internationale Zuständigkeit den Aufenthalt des Pflegebefohlenen im jeweiligen Vertragsstaat voraussetze. Das gelte nach Art 15 auch für vorläufige und dringliche pflegschaftsbehördliche Maßnahmen. Da der ständige (gewöhnliche) Aufenthalt der Kinder in Liechtenstein liege, fehle für das vom Erstgericht eingeleitete Pflegschaftsverfahren die inländische Gerichtsbarkeit (internationale Zuständigkeit).

Rechtliche Beurteilung

Der vom Kollisionskurator namens der Kinder erhobene Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des Aufhebungsantrags berechtigt.

1. Der Revisionsrekurs vertritt die Auffassung, dass die Mutter nicht zur Erhebung des Rekurses legitimiert gewesen sei. Daher sei es dem Rekursgericht auch verwehrt gewesen, das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit (internationalen Zuständigkeit) zu prüfen.

1.1. Nach nunmehr ständiger Rechtsprechung steht den nächsten Verwandten eines Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls ein Rekursrecht auch in (nicht zum ordentlichen Wirtschaftsbetrieb gehörenden) Vermögensangelegenheiten zu. Die Rekurslegitimation naher Angehöriger wurde etwa bejaht, wenn es um die pflegschaftsbehördliche Genehmigung von Verträgen (7 Ob 615/93 mwN; 7 Ob 501/94), so auch um die Genehmigung von Erbübereinkommen im Verlassenschaftsverfahren (6 Ob 2156/96v), ging. Voraussetzung dafür ist, dass das Wohl des Kindes anders nicht gewahrt werden kann (6 Ob 2156/96v mwN = RIS-Justiz RS0105269; RS0006433 und RS0006454; zuletzt etwa 6 Ob 158/05m).

1.2. Gegen das Kindeswohl verstößt jedenfalls die Durchführung eines österreichischen Pflegschaftsverfahrens, wenn die inländische Gerichtsbarkeit dafür fehlt. Die Kinder würden dadurch in ein gerichtliches Verfahren einbezogen, das es so nicht geben dürfte; zudem bestünde die Gefahr von parallelen Verfahren im In- und im Ausland, die auch zu einander widersprechenden Entscheidungen führen könnten.

Die Rekurslegitimation der Mutter war daher grundsätzlich gegeben. Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass sie mit ihrem Rechtsmittel wohl auch eigene Interessen (Vermeidung einer Klage gegen sich selbst) verfolgte. Diese Interessen sind bei der Entscheidung selbstverständlich nicht zu berücksichtigen. Sie ändern aber nichts daran, dass im konkreten Fall das unbestreitbare Interesse der Kinder an der Wahrnehmung der fehlenden inländischen Gerichtsbarkeit nur durch die Bejahung der Rekurslegitimation der Mutter gewahrt werden kann.

2. Aufgrund dieser Erwägungen ist die angefochtene Entscheidung inhaltlich zu prüfen. Der Revisionsrekurs vertritt hier die Auffassung, dass die österreichischen Gerichte wegen der österreichischen Staatsangehörigkeit der Kinder international zuständig seien.

2.1. Das Rekursgericht hat richtig erkannt, dass das Vorliegen der inländischen Gerichtsbarkeit (internationalen Zuständigkeit) aufgrund des Vertrags zwischen der Republik Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein über Rechtshilfe, Beglaubigung, Urkunden und Vormundschaft samt Zusatzprotokoll vom 1. April 1955, BGBl 1956/213, idF des Ergänzungsvertrags vom 1. Juni 1966, BGBl 1968/99, zu beurteilen ist. Nach dessen Art 14 Abs 1 werden „die vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte über Angehörige des einen vertragschließenden Teiles, die nach den Rechtsvorschriften ihres Heimatstaates der Fürsorge bedürfen und im Gebiete des anderen ihren ständigen Aufenthalt haben oder nehmen, [...] von den Gerichten oder den sonst mit der Führung dieser Geschäfte befassten Behörden des anderen vertragschließenden Teiles geführt". Daraus ist abzuleiten, dass für pflegschaftsgerichtliche Verfahren und damit auch für die Genehmigung einer Klagsführung grundsätzlich die Gerichte jenes Staates international zuständig sind, in dem die Pflegebefohlenen ihren ständigen (gewöhnlichen) Aufenthalt haben (5 Ob 114/04g = ZfRV-LS 2004/41).

Nach Art 14 Abs 3 des Vertrags ist allerdings „die Führung der Vormundschafts- oder pflegschaftsbehördlichen Geschäfte [...] im Falle des Abs. 1 auf Verlangen einer Vormundschafts- oder Pflegschaftsbehörde des Heimatstaates des Pflegebefohlenen dieser abzutreten". Diese - im Verfahren 5 Ob 114/04g wegen der dort ohnehin aufgrund perpetuatio fori bejahten Zuständigkeit nicht näher geprüfte - Bestimmung kann nur so verstanden werden, dass unter gewissen Umständen auch die Gerichte des Heimatstaates international zuständig sein können. Denn sonst hätte die „Abtretung" der Geschäfte, die nach dem Wortlaut der Bestimmung nur vom „Verlangen" der Heimatbehörden abhängt, keinen Sinn. Das ergibt sich implizit auch aus den Erläuternden Bemerkungen zum Vertrag (705 BlgNR 7. GP): Den Heimatbehörden bleibe „das Recht vorbehalten", die „Geschäfte an sich zu ziehen". Zwar heißt es dann weiter, die österreichischen Gerichte würden nach Art 14 Abs 1 und 3 für Pflegschaftsverfahren in Bezug auf österreichische Staatsbürger mit ständigem Aufenthalt in Liechtenstein „regelmäßig" nicht zuständig sein; gerade aus der Formulierung „regelmäßig" ist aber abzuleiten, dass es davon Ausnahmen geben kann.

2.2. Wann eine solche Ausnahme vorliegt, kann durch einen Vergleich mit den entsprechenden Bestimmungen des Haager Minderjährigenschutzübereinkommens (BGBl 1975/446, MSÜ) ermittelt werden. Auch dort ist grundsätzlich der Staat des gewöhnlichen Aufenthalts zuständig (Art 1 MSÜ). Ergänzt wird das aber ebenfalls durch die Möglichkeit des Heimatstaats, nach Verständigung des Aufenthaltsstaats Schutzmaßnahmen zugunsten eines Kindes zu treffen (Art 4 Abs 1 MSÜ). Solche Maßnahmen haben nach Art 4 Abs 4 MSÜ Vorrang vor jenen des Aufenthaltsstaats (RIS-Justiz RS0074231). Das entspricht in der Sache dem „Abtretungsverlangen" nach Art 14 Abs 3 des Vertrags mit Liechtenstein.

Vom Vorrang der Maßnahmen des Heimatstaats zu unterscheiden ist jedoch die - auch hier zu beurteilende - Frage, unter welchen Voraussetzungen die Heimatbehörden überhaupt einzuschreiten haben. Art 4 Abs 1 MSÜ verweist dazu auf das Wohl des Minderjährigen. Voraussetzung für die Inanspruchnahme der Zuständigkeit ist daher, dass wegen der Untätigkeit oder des offensichtlichen Ungenügens von Maßnahmen des Aufenthaltsstaats ein Handeln des Heimatstaats im Interesse des Kindes erforderlich ist. Die Beurteilung dieser Frage liegt im pflichtgemäßen Ermessen der Heimatbehörden; dabei ist wegen des grundsätzlichen Vorrangs des Aufenthaltsstaats zurückhaltend vorzugehen (ausführlich 7 Ob 294/05v = RZ 2006, 154 mwN; vgl weiters Kropholler in Staudinger [2003], vor Art 19 EGBGB Rz 369, 380 mwN).

2.3. Diese Überlegungen können auch auf die Auslegung von Art 14 Abs 3 des Vertrags mit Liechtenstein übertragen werden. Entscheidend ist daher auch hier das Kindeswohl. Gerichte des Heimatstaats können daher tätig werden, wenn das nach ihrem pflichtgemäß auszuübenden Ermessen im Interesse der Kinder erforderlich ist. Das wäre etwa der Fall, wenn sich die Behörden des anderen Staates bei der Sicherung vermögensrechtlicher Ansprüche von Kindern letztlich darauf beschränkten, Erklärungen eines Elternteils zur Kenntnis zu nehmen, ohne nahe liegende weitere Erhebungen zu pflegen (hier zum Nachlass des verstorbenen Elternteils). Dem gleichzuhalten wäre es, wenn sie die Auskunft über Maßnahmen verweigerten, die im Interesse des Kindes gesetzt wurden (hier möglicherweise im liechtensteinischen Verlassverfahren).

Liegen solche Umstände vor, wäre nach Art 14 Abs 3 des bilateralen Vertrags die „Abtretung" der Geschäfte zu verlangen. Jedenfalls mit einem solchen Verlangen bestünde dann die internationale Zuständigkeit für pflegschaftsgerichtliche Maßnahmen. Ob das bei Vorliegen der tatsächlichen Voraussetzungen auch dann gilt, wenn das Verlangen unterbleibt, muss hier nicht entschieden werden (bejahend

zum insofern allerdings anders formulierten Art 4 MSÜ 8 Ob 653/87 =

SZ 60/234 und 2 Ob 609/89 = IPRax 1992, 176 [Mottl]).

2.4. All das gilt freilich nur, wenn Österreich tatsächlich „Heimatstaat" der Kinder iSv Art 14 Abs 3 des bilateralen Vertrags ist. Diese Frage kann noch nicht endgültig beurteilt werden. Zwar steht die österreichische Staatsangehörigkeit der Kinder fest. Die Tatsacheninstanzen haben bisher aber nicht geprüft, ob die Kinder nicht auch über das liechtensteinische Landesbürgerrecht verfügen. Das wäre nach § 4 Abs 1 des Gesetzes über den Erwerb und Verlust des Landesbürgerrechts (liechtensteinisches LGBl 1960/23 idF LGBl 1998/75) ua dann der Fall, wenn der Vater und/oder die Mutter liechtensteinische Landesbürger sind.

Das Problem mehrfacher Staatsangehörigkeit kann bei der Anwendung

internationaler Übereinkommen nicht durch den grundsätzlichen Vorrang

der österreichischen Staatsbürgerschaft gelöst werden (so § 9 Abs 1

IPRG für das autonome IPR). Vielmehr kann als Heimatstaat nur jener

angesehen werden, dem die betroffene Person „effektiv" angehört (zu

Art 4 MSÜ ausführlich und mwN 8 Ob 618/89 = EvBl 1990/35 und 2 Ob

609/89 = IPRax 1992, 176 [Mottl]; allgemein zum staatsvertraglichen

IPR Verschraegen in Rummel3 § 9 IPRG Rz 2; Schwimann, Internationales Privatrecht2 28).

Im vorliegenden Fall wäre eine liechtensteinische Landesbürgerschaft der Kinder wegen des gewöhnlichen Aufenthalts in Liechtenstein zweifellos die effektive Staatsangehörigkeit. Dann wäre Österreich nicht „Heimatstaat" iSv Art 14 Abs 3 des bilateralen Vertrags; die liechtensteinische Zuständigkeit wäre jedenfalls zu respektieren. Aus einer von der Mutter im Revisionsrekursverfahren vorgelegten Passkopie scheint sich tatsächlich zu ergeben, dass die Kinder (auch) liechtensteinische Landesbürger sind. Der Oberste Gerichtshof ist allerdings keine Tatsacheninstanz; er kann diesen Umstand daher nicht selbst wahrnehmen. Vielmehr wird das Erstgericht ergänzende Feststellungen zu treffen haben.

3. Aus diesen Gründen waren die angefochtenen Entscheidungen aufzuheben. Das Erstgericht wird zunächst festzustellen haben, ob die Kinder auch liechtensteinische Landesbürger sind. Ist das der Fall, wäre der Antrag zurückzuweisen und das darüber geführte Verfahren für nichtig zu erklären. Sonst wäre zu prüfen, ob und gegebenenfalls welche Schutzmaßnahmen zugunsten der Kinder in Liechtenstein gesetzt wurden. Erweisen sie sich als (eindeutig) ungenügend, wäre die Abtretung der Geschäfte zu verlangen und die Klage zu genehmigen. Sonst läge (auch) in diesem Fall die Zuständigkeit für die Klagsgenehmigung beim Fürstlichen Landgericht in Vaduz.

Rechtssätze
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