JudikaturJustiz3Ob217/20p

3Ob217/20p – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. Februar 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch die Präsidentin Hon. Prof. Dr. Lovrek als Vorsitzende sowie den Hofrat Hon. Prof. PD Dr. Rassi, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Pflegschaftssache der minderjährigen K***** S*****, geboren am ***** 2012, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters R***** S*****, vertreten durch Mag. Andreas Engler, Rechtsanwalt in Salzburg, wegen Kontaktrecht, gegen den Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Rekursgericht vom 27. November 2020, GZ 21 R 318/20s 72, womit der Beschluss des Bezirksgerichts Salzburg vom 23. September 2020, GZ 2 Ps 64/17w 64, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden aufgehoben und dem Erstgericht eine neue Entscheidung nach Verfahrensergänzung aufgetragen.

Text

Begründung:

[1] Die Minderjährige lebt bei ihrem Vater. Beiden Elternteilen kommt die Obsorge zu. Der Mutter steht ein wöchentliches Wochenendkontaktrecht zu.

[2] Der Vater begehrt, der Mutter aufzutragen, mit der Tochter den Aufenthalt an der Adresse L***** in S***** zu unterlassen. Am 25. Juni 2020 sei es beim Einfamilienhaus an dieser Adresse zu einem Schusswechsel gekommen, wobei zwei Menschen schwer verletzt worden seien. Laut Zeitungsberichten seien 800g Cannabis sichergestellt worden. Die Mutter pflege im Haus zu verkehren, wobei sie sich dort auch mit K***** aufhalte. Nur durch Zufall sei die Tochter an diesem Tag nicht mit der Mutter in diesem Haus gewesen. Bereits im Mai 2019 seien an der Adresse Kriegsmaterial, Munition, Waffenbestandteile und ein funktionsfähiges Maschinengewehr sichergestellt worden. Das Kindeswohl sei durch den Aufenthalt an dieser Adresse gefährdet, das Gericht habe daher nach § 181 ABGB entsprechende Maßnahmen zu treffen.

[3] Die Mutter sprach sich gegen diesen Antrag aus. Sie führte aus, dass sie nur fallweise an der Adresse aufhältig sei, hin und wieder mit ihrer Tochter. Sie habe mit dem Vorfall im Juni 2020 nichts zu tun. Ihr Freund R***** L***** sei der Bruder jener Person, die den Schusswechsel mit einem Polizisten gehabt habe. Der (im Folgenden so bezeichnete:) Bruder befinde sich seither im Gefängnis. Die Wohnung des Bruders sei im dritten Stock des Objekts, während ihr Freund das erste Stockwerk bewohne. Beim Vorfall sei sie, nicht aber K***** anwesend gewesen. Sie habe bei dem Vorfall geschlafen und sei durch Lärm geweckt worden; in der Folge habe sie die Rettung und die Polizei wahrgenommen, sei aber in der Wohnung geblieben. Sie bewohne nach wie vor eine eigene Wohnung und verbringe mit ihrem Freund die Wochenenden gemeinsam.

[4] Das Erstgericht wies den Antrag des Vaters ab.

[5] Es traf folgende Feststellungen:

Am 25. Juni 2020 kam es in der L***** in S***** zu einem Polizeieinsatz, bei dem es zu einem Schusswechsel kam, wobei zwei Menschen – der Bruder … und ein Polizist – schwer verletzt wurden. Im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen wurden in der Wohnung des Bruders … Suchtmittel sichergestellt. Der Bruder … befindet sich seit diesem Vorfall in Untersuchungshaft.

Im Gebäude L***** befinden sich drei Wohnungen, wobei die Wohnung im 3. Obergeschoss vom Bruder … und die Wohnung im 1. Obergeschoss vom Freund der Kindesmutter bewohnt werden. Die Kindesmutter besucht ihren Freund gemeinsam mit der mj K***** in dessen Wohnung maximal ein- bis zweimal an Wochenenden. Dabei haben fast keine Kontakte zum Bruder … stattgefunden.

Am 25. Juni 2020 war die Kindesmutter zu Besuch bei ihrem Freund in der L*****; die mj. K***** war nicht anwesend. Im Zeitpunkt des oben geschilderten Vorfalles hatte die Kindesmutter geschlafen und wurde durch Lärm geweckt; sie bemerkte schließlich die Einsatzfahrzeuge vor dem Haus und verblieb vorsichtshalber in der Wohnung. Den vorausgegangenen Schusswechsel hat sie nicht wahrgenommen.

[6] Rechtlich ging das Erstgericht davon aus, dass einem kontaktberechtigten Elternteil Auflagen hinsichtlich der Örtlichkeit der Kontaktausübung nur erteilt werden könnten, wenn konkrete Anhaltspunkte für die Gefährdung der Integrität des Kindes vorlägen. Abstrakte Befürchtungen reichten nicht aus. Das Erstgericht verneinte eine tatsächliche Gefährdung des Kindes und wies auf die Einmaligkeit des Vorfalls, die räumlich eigenständige Wohnung des R***** L***** und den fehlenden Kontakt zu dessen Bruder und auf den Umstand hin, dass die Mutter die Liegenschaft nur selten besuche. Zudem sei davon auszugehen, dass die Mutter in Hinkunft jeden Kontakt mit dem Bruder meiden werde, zumindest wenn K***** anwesend sei.

[7] Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters keine Folge. Auch unter Berücksichtigung sämtlicher vom Vater behaupteter Umstände (keine klare Trennung der Wohneinheiten; Sicherstellung von Waffen im Jahr 2019; nur zufällige Abwesenheit von K***** am Vorfallstag) würden sich alle Vorwürfe auf die Vergangenheit beziehen. Selbst wenn man bei der Adresse L***** von einem problematischen Umfeld ausgehe, gebe es keine Hinweise, dass es aufgrund des einmaligen Vorfalls ein weiteres Mal zu Schießereien oder ähnlichen Gewaltszenen kommen sollte. Es sei vielmehr festzustellen, dass der Bruder „offenbar inhaftiert ist“. Aufgrund der vom Vater vorgelegten Urkunden „ist auch davon auszugehen, dass jener wohl eine längere Haftstrafe antreten wird“. Demzufolge sollte diese Gefahrenquelle zumindest auf absehbare Zeit nicht bestehen. Dass vom Vater des Freundes der Mutter Kriegsmaterial verkauft worden sein soll oder er zumindest solches besessen habe, scheine auch als Gefahrenquelle mittlerweile ungeeignet, „weil diese Gegenstände wohl beschlagnahmt wurden“. Es scheine im höchsten Maß unwahrscheinlich, dass sich ein derartiger Vorfall wiederholen könnte. Es sei lebensnah, dass die Mutter diesbezüglich vermehrt Vorsicht walten lassen werde.

[8] Das Rekursgericht sprach aus, dass der ordentliche Revisionsrekurs mangels erheblicher Rechtsfragen nicht zulässig sei.

[9] Mit seinem außerordentlichen Revisionsrekurs beantragt der Vater , die angefochtene Entscheidung im stattgebenden Sinn abzuändern; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.

[10] Die Mutter hat keine Rechtsmittelbeantwortung erstattet.

Rechtliche Beurteilung

[11] Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig und im Sinne des Aufhebungsantrags auch berechtigt, weil keine ausreichenden Feststellungen vorliegen, um den Antrag des Vaters umfassend beurteilen zu können.

[12] 1. Beim Kontaktrecht zwischen Eltern und Kindern handelt es sich um ein Grundrecht ihrer Beziehung, das unter dem Schutz des Art 8 EMRK steht (vgl RS0047754 [insb T3, T19, T21]). Einschränkungen des Kontakts zwischen dem Kind und dem nicht (hauptsächlich) betreuenden Elternteil sollten die Ausnahme sein. Eine Beschränkung ist nur dann zulässig, wenn konkrete Umstände vorliegen, die eine Gefährdung der psychischen oder physischen Integrität des Kindes besorgen lassen (vgl RS0048384 [T7]). Um den Zweck des Kontaktrechts zu erreichen, ist dem Kontaktberechtigten im Allgemeinen der Kontakt zu seinem Kind unbeschränkt, das heißt ohne Beeinträchtigung durch Zuziehung weiterer Personen oder Bindung an bestimmte Örtlichkeiten, zu gestatten und ihm die Möglichkeit einer individuellen Gestaltung der Besuche zu bieten (6 Ob 33/18y; RS0048369; RS0048384). Oberster Grundsatz bei der Kontaktrechtsregelung ist das Kindeswohl (RS0048056; RS0047754 [T14, T18]); im Konfliktfall hat das Interesse eines Elternteils gegenüber dem Wohl des Kindes zurückzutreten (6 Ob 33/18y; RS0048062; RS0048068). Bloß abstrakte Befürchtungen des obsorgeberechtigten Elternteils rechtfertigen aber weder Einschränkungen noch Auflagen oder Verbote im Zusammenhang mit der Ausübung des Kontaktrechts (1 Ob 179/11x).

[13] 2. Das Vorbringen des Vaters ist nicht von bloß abstrakten Befürchtungen geprägt. Vielmehr macht er mit den Hinweisen auf eine Schießerei mit zwei Schwerverletzten, Waffen- und Suchmitteldelikte mehrere konkrete Umstände geltend, die eine Gefährdung der psychischen oder physischen Integrität des Kindes indizieren, wenn das Kontaktrecht an dieser Adresse ausgeübt wird.

[14] 3. Die Vorinstanzen haben eine Gefährdung im Wesentlichen mit drei Argumenten verneint: A. Es bestehe kaum Kontakt zum Bruder, weil dessen Wohnbereich von jenem von R***** L***** getrennt sei; B. Der Bruder befinde sich in Haft; C. Aus dem einmaligen Vorfall könne nicht geschlossen werden, dass sich dieser wiederholen werde, zumal die Mutter Vorsicht walten lassen werde.

[15] Die getroffenen Feststellungen decken weder die referierten Schlussfolgerungen noch reichen sie aus, um die Rechtssache umfassend rechtlich zu würdigen.

[16] 3.1 Ad A : Die nicht näher spezifizierten Feststellungen, dass sich im Haus an der Adresse L***** „drei Wohnungen“ befinden, lässt offen, ob es auch gemeinsame Bereiche (zB Keller, Sanitäranlagen, Garten, Flur, Vorzimmer) gibt oder ob sich die Mutter (laut rechtlicher Beurteilung des Erstgerichts:) in einer „völlig eigenständigen Wohnung“ aufhält. Ersteres legt die von den Vorinstanzen nicht weiter geprüfte und durch ein Foto im Akt dokumentierte Behauptung des Vaters nahe, dass es sich um ein „Einfamilienhaus“ handeln soll. Damit fehlen Feststellungen zur konkreten räumlichen Situation, aber auch zur Frage, welche Teile des Hauses von den Vorfällen (Schießerei mit zwei Schwerverletzten, Waffen- und Suchmitteldelikte) betroffen waren. Wegen der behaupteten und nur zum Teil festgestellten Vorfälle an der Adresse hängt die Beurteilung einer Gefährdung der psychischen oder physischen Integrität des Kindes entscheidend davon ab, ob sich dieses im Rahmen der Kontaktpflege auch in einem räumlich problematischen Umfeld aufhält. Je mehr „Begegnungszonen“ zwischen dem Wohnbereich des Bruders und jenem von R***** L***** bestehen, desto eher könnte ein Aufenthalt des Kindes in der L***** problematisch sein. Eine potentielle Gefährdung von K***** wäre aber auch bei komplett getrennten Wohneinheiten nicht zwingend ausgeschlossen, bedenkt man, dass etwa auch eine Schießerei in oder vor einem Haus das Kind nachhaltig beeinträchtigen könnte.

[17] 3.2 Ad B: Das Erstgericht traf die Feststellung, dass sich der Bruder in Untersuchungshaft befindet. Kontaktrechtsentscheidungen haben eine zukunftsbezogene Rechtsgestaltung zum Inhalt (9 Ob 41/17w). Im Anlassfall ist darauf abzustellen, ob bloß aufgrund der referierten Feststellung eine potentielle Gefährdung des Kindes in Zukunft nicht mehr besteht. Das ist zu verneinen, weil das Ende einer Untersuchungshaft grundsätzlich absehbar ist. Damit fehlen aber gesicherte Feststellungen zum weiteren Schicksal des Bruders. Dieser sekundäre Feststellungsmangel wird auch nicht durch die bloße Vermutung des Rekursgerichts beseitigt, wonach der Bruder „wohl eine längere Haftstrafe antreten wird“. Abgesehen davon, dass der Vater in seinem Rechtsmittel behauptet, dass der Bruder seit zumindest 7. Dezember 2020 unter Auflagen aus der geschlossenen Sonderstation einer Klinik entlassen worden sei, kann die mit einer Kontaktrechtsentscheidung verbundene zukunftsbezogene Rechtsgestaltung nur dann sachgerecht sein, wenn sie auf einer aktuellen, bis in die jüngste Gegenwart reichenden Tatsachengrundlage beruht (9 Ob 41/17w = RS0106312 [T6]). Eine solche Grundlage fehlt aber im Anlassfall.

[18] 3.3 Ad C: Das Rekursgericht stützte sich zentral auf den Umstand, dass sich sämtliche „Vorwürfe“ des Vaters auf die Vergangenheit beziehen. Es gebe aber keine Anhaltspunkte, dass sich ein „einmaliger Vorfall“ wiederhole.

[19] 3.3.1 Dem ist zum einen entgegenzuhalten, dass die Feststellungen zu den behaupteten Vorfällen lückenhaft geblieben sind. Das betrifft vor allem die Verstöße im Zusammenhang mit dem (offensichtich) illegalen Besitz von Kriegsmaterial. Der Umstand, dass an der „Kontaktrechtadresse“ oder in unmittelbarer Nähe allenfalls „Kriegsmaterial, Munition, Waffenbestandteile und ein funktionsfähiges Maschinengewehr“ sichergestellt wurden, würde die Argumentation der Vorinstanzen von der „Einmaligkeit des Vorfalls“ widerlegen. Auch in diesem Punkt sind daher weitere Feststellungen erforderlich. Das trifft aber auch auf den fatalen Schusswechsel zu, wobei hier auf das zum Wohnbereich Gesagte verwiesen werden kann. Es blieb nämlich unklar, inwieweit der Wohnbereich von R***** L***** von der Schießerei tangiert wurde.

[20] 3.3.2 Zum anderen verfängt das Argument des Rekursgerichts nicht, dass ungeachtet der gerügten (und zum Teil auch festgestellten) Anlässe Anhaltspunkte für zukünftige Vorfälle fehlen würden. Derartige Anhaltspunkte können sich auch aus bisherigen Vorfällen ableiten lassen. Die bisher getroffenen Feststellungen, insbesondere zur Schießerei, sind prima vista geeignet, eine konkrete und beträchtliche Gefährdung der psychischen oder physischen Integrität des Kindes zu indizieren, wenn sich dieses künftig an der Adresse aufhält.

[21] 3.3.3 Dass die Mutter hinkünftig Vorsicht walten lassen wird, wurde von dieser weder behauptet noch festgestellt. Aus ihren bisherigen Äußerungen zum Vorfall ist ein entsprechender Gesinnungswandel auch nicht indirekt ableitbar.

[22] 4. Das Erstgericht wird damit im weiteren Verfahren unter Einbeziehung der Parteien die fehlenden Feststellungen zum Wohnbereich, zu den bisherigen Vorfällen und zum Schicksal des Bruders zu treffen haben. Können Umstände festgestellt werden, nach denen eine derartige Gefährdung von K***** auszuschließen ist, wäre der Antrag des Vaters abzuweisen. Mit Blick auf den Grundsatz des Kindeswohls gehen Zweifel hier zu Lasten des kontaktberechtigten Elternteils. Sofern daher – was nach verbreiterter Sachverhaltsgrundlage im weiteren Verfahren zu prüfen sein wird – konkrete Umstände vorliegen, die eine Gefährdung der psychischen oder physischen Integrität des Kindes besorgen lassen, muss das Interesse der Mutter an einer uneingeschränkt möglichen Ausübung ihres Kontakts gegenüber dem Wohl des Kindes zurücktreten. Mit einer örtlichen (nicht aber zeitlichen) Beschränkung der Kontaktausübung durch die Mutter würde zwar in deren Interessen eingegriffen. Ein solcher Eingriff wäre aber ohnedies moderat, weil die Mutter nach wie vor die Möglichkeit hat, das Wochenende mit dem Kind und ihrem Freund bei sich oder an einem neutralen Ort zu verbringen. Hingegen wohnt die Mutter nicht an jenem Ort, der vom Antrag des Vaters betroffen ist, was bei der gebotenen Interessensabwägung zu beachten ist.

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