JudikaturJustiz17Os25/14a

17Os25/14a – OGH Entscheidung

Entscheidung
11. August 2014

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 11. August 2014 durch den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Ratz als Vorsitzenden sowie die Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek und Hon. Prof. Dr. Kirchbacher und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und Dr. Oshidari in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Zillinger als Schriftführerin in der Strafsache gegen Dr. Ala-Eldine H***** wegen des Verbrechens des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB über die Nichtigkeitsbeschwerde und die Berufung des Angeklagten sowie die Berufung der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19. Dezember 2013, GZ 95 Hv 142/13t 55, nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Bauer, des Angeklagten und seines Verteidigers Dr. Mekis zu Recht erkannt:

Spruch

In Stattgebung der Nichtigkeitsbeschwerde wird das angefochtene Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, im Schuldspruch, demgemäß auch im Strafausspruch und im Kostenausspruch, aufgehoben und im Umfang der Aufhebung in der Sache selbst erkannt:

Dr. Ala-Eldine H***** wird gemäß § 259 Z 3 StPO vom Vorwurf freigesprochen, er habe „in Wien als Vertragsarzt der Krankenversicherungsträger und zur Durchführung von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen nach der Mutter-Kind-Pass-Verordnung 2002 ermächtigter Arzt, sohin als Beamter, mit dem Vorsatz, dadurch andere an ihren Rechten zu schädigen, nämlich nachgenannte Kinder sowie die Republik Österreich an ihrem jeweils konkreten Recht auf ordnungsgemäße Durchführung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen, seine Befugnis, im Namen des Bundes bzw anderer Personen des öffentlichen Rechts, nämlich der Krankenversicherungsträger, als deren Organ in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, wissentlich missbraucht, indem er die nachgenannten Kinder anlässlich der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen unzureichend untersuchte und dennoch in den Mutter-Kind-Pässen nicht den Tatsachen entsprechende Eintragungen vornahm, mit denen er bestätigte, dass die Kinder in allen zu untersuchenden Bereichen altersgemäß entwickelt seien und ihr Zustand unauffällig sei, wobei er wusste, dass er dies mangels ausreichender Untersuchung und Befundaufnahme gar nicht beurteilen konnte, und zwar

A./ am 21. Juli 2010 hinsichtlich der am 24. April 2009 geborenen Elena F*****;

B./ am 18. Oktober 2010 hinsichtlich der am 31. Oktober 2007 geborenen Anita F*****;

C./ am 13. August 2010 hinsichtlich des am 29. August 2006 geborenen Alexander F*****.“

Mit ihren Berufungen werden der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung verwiesen.

Text

Gründe:

Mit dem angefochtenen Urteil wurde Dr. Ala Eldine H***** soweit im Verfahren über die Nichtigkeitsbeschwerde von Bedeutung wegen des zuvor wiedergegebenen Vorwurfs mehrerer Verbrechen (vgl jedoch RIS-Justiz RS0121981) des Missbrauchs der Amtsgewalt nach § 302 Abs 1 StGB schuldig erkannt.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen aus den Z 4 und 9 lit a des § 281 Abs 1 StPO ergriffenen Nichtigkeitsbeschwerde des Angeklagten kommt aus dem zuletzt genannten Grund Berechtigung zu.

Der Beschwerdeführer zeigt nämlich zutreffend auf, dass das Urteil keine Sachverhaltsgrundlage für die rechtliche Annahme enthält, er habe als (funktionell) Beamter eine ihm zukommende Befugnis, im Namen einer Gebietskörperschaft oder einer anderen Person des öffentlichen Rechts („des Krankenversicherungsträgers“ vgl US 18) in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, gehabt (und wissentlich missbraucht).

Nach den maßgeblichen Feststellungen (US 3 ff) betreibe der Angeklagte eine Ordination als Kinderarzt und nehme in dieser auch Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen vor. Zwischen Juli und Oktober 2010 habe er bei den im Urteilstenor genannten drei Kindern derartige Untersuchungen durchgeführt und einen jeweils unauffälligen Befund im Mutter-Kind-Pass festgehalten, obwohl die Kinder im Urteil näher bezeichnete Entwicklungsverzögerungen aufgewiesen hätten. Der Angeklagte habe die (wahrheitswidrigen) Eintragungen im Mutter-Kind-Pass wider besseres Wissen vorgenommen, nachdem er die drei Kinder nicht in der „vorgeschriebenen und erforderlichen Weise untersucht“ habe.

Gemäß § 7 Abs 1 KinderbetreuungsgeldG (KBGG) hat der zuständige Bundesminister (seit 2007: für Gesundheit) im Zusammenhang mit der Geburt eines Kindes sowie der Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes ein Mutter-Kind-Pass-Untersuchungsprogramm „für die Schwangere und das Kind“ mittels Verordnung (vgl dazu die Mutter-Kind-Pass-Verordnung 2002 [MuKiPassV]) festzulegen und einen Mutter-Kind-Pass aufzulegen. In der Verordnung sind Untersuchungen der Schwangeren und neun Untersuchungen des Kindes bis zu dessen 62. Lebensmonat vorgesehen (§ 1 Abs 2 MuKiPassV). Für den Nachweis der ärztlichen Untersuchungen hat der Mutter-Kind-Pass einen entsprechenden Vordruck zu enthalten. Nach § 7 Abs 2 KBGG besteht Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld ab dem 25. Lebensmonat in voller Höhe (§§ 3 Abs 1 und 3a Abs 1 KBGG), sofern fünf Untersuchungen während der Schwangerschaft und weitere fünf Untersuchungen des Kindes bis zum 14. Lebensmonat vorgenommen und spätestens bis zum Ende des 18. Lebensmonats des Kindes durch Vorlage der entsprechenden Untersuchungsbestätigungen nachgewiesen werden. § 24c Abs 1 KBGG macht (ab dem 10. Lebensmonat) den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens (§ 24a KBGG) grundsätzlich ebenfalls von der Vornahme dieser Untersuchungen abhängig. In Angelegenheiten des Kinderbetreuungsgeldes ist der gesetzliche Krankenversicherungsträger zuständig (§ 25 Abs 1 iVm § 28 KBGG).

Vor Einführung des Kinderbetreuungsgeldes sah § 38d FamilienlastenausgleichsG 1967 (FLAG) die im Wesentlichen an die nunmehr in § 7 Abs 2 KBGG geregelten Bedingungen geknüpfte Gewährung eines Mutter-Kind-Pass-Bonusses vor.

Ziel der vorgenannten Regelungen ist die „Sicherstellung der medizinischen Grundbetreuung der Schwangeren und des Kindes“ (§ 1 Abs 1 MuKiPassV). Die Einführung des Mutter-Kind-Pass-Bonusses sollte eine „hohe Untersuchungsfrequenz beim Mutter-Kind-Pass-Untersuchungsprogramm“ trotz Wegfalls der Geburtenbeihilfe (§ 32 FLAG idF vor BGBl 1996/201) gewährleisten. Die Verknüpfung einer „Geldleistung“ mit der Durchführung „bestimmter Untersuchungen im Rahmen des Mutter-Kind-Pass-Programmes“ sollte „einen Anreiz für eine weitere breite Inanspruchnahme des genannten Untersuchungsprogrammes bieten“ (EBRV 462 BlgNR 20. GP 5). Ähnliche Überlegungen spielten auch bei der als Ersatz für das Auslaufen des Mutter-Kind-Pass-Bonusses gedachte Koppelung des Kinderbetreuungsgeldes (in voller Höhe) an die Vornahme dieser Untersuchungen eine Rolle (vgl EBRV 620 BlgNR 21. GP 62).

Die Untersuchungen sind von den Trägern der Krankenversicherungen, und zwar insbesondere mit Hilfe von Vertragsärzten durchzuführen. Über die Durchführung der Untersuchungen und die Vergütung der (in deren Rahmen erbrachten) ärztlichen Leistungen wurde ein (im Internet [www.avsv.at] amtlich verlautbarter) Gesamtvertrag zwischen dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger und der Österreichischen Ärztekammer abgeschlossen (§ 35 Abs 1 bis 3 KBGG).

Die Inanspruchnahme von Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen erfolgt (freiwillig) im Rahmen eines Behandlungsvertrags, der (meist konkludent) direkt mit einem (frei wählbaren) Vertragsarzt geschlossen wird. Diese ärztlichen Leistungen werden demnach auf privatrechtlicher (vertraglicher) Grundlage erbracht (vgl RIS-Justiz RS0050125 [insbesondere T4]; RS0123061, RS0112111, RS0026368, RS0049948 [T10]). Die daraus entstehenden Kosten sind vom Ausgleichsfonds für Familienbeihilfen oder von den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung zu tragen (§ 35 Abs 4 KBGG).

Zwar trifft es zu, dass § 302 Abs 1 StGB von einem funktionellen Beamtenbegriff ausgeht, weshalb auch Beliehene (zum Begriff Öhlinger/Eberhard , Verfassungsrecht 10 Rz 565; vgl auch Jerabek in WK 2 StGB § 74 Rz 4) durch Missbrauch einer ihnen zukommenden Befugnis, in Vollziehung der Gesetze Amtsgeschäfte vorzunehmen, tatbildlich handeln können. Dies ist aber dann nicht der Fall, wenn die Tätigkeit eines Privaten wie hier Vorsorgeuntersuchungen im Rahmen des Mutter-Kind-Pass-Programms zwar gesetzlich (oder im Verordnungsweg) geregelt ist und im Zusammenhang mit einer öffentlichen Aufgabe (vorliegend: der Gesundheitsversorgung [vgl Art 10 Abs 1 Z 12 B-VG]), jedoch nicht in einer Rechtsform hoheitlichen Handelns, entfaltet wird (vgl zu den Merkmalen hoheitlichen Handelns Raschauer , Allgemeines Verwaltungsrecht 3 Rz 694 ff; zur deutschen Rechtslage BGH 29. 3. 2012, GSSt 2/11).

Entgegen der Ansicht des Erstgerichts (US 20) ist daher die Tätigkeit des Angeklagten mit jener (hoheitlichen) eines Tierarztes, der die Einhaltung (zwingender) lebensmittelrechtlicher Vorschriften allenfalls unter Inanspruchnahme ihm gesetzlich eingeräumter Zwangsbefugnisse kontrolliert (vgl RIS-Justiz RS0058878 [nunmehr §§ 24 {Abs 4}, 27 und 35 f LMSVG]), nicht vergleichbar (vgl auch 17 Os 4/12k [Befugnisse eines Jägers nach dem LMSVG]; 17 Os 25/12y [Befugnisse eines Tierarztes nach dem TSchG]; vgl zu sonstigen Erscheinungsformen der Beleihung Raschauer , Allgemeines Verwaltungsrecht 3 Rz 114 ff). Von der gegenständlichen Konstellation ist auch eine Überprüfung (§§ 56 f KFG) oder wiederkehrende Begutachtung (§ 57a KFG) von Fahrzeugen durch dazu (gemäß § 57 Abs 4 oder § 57a Abs 2 KFG durch individuellen Verwaltungsakt) ermächtigte Personen zu unterscheiden (vgl RIS-Justiz RS0118428, RS0117456), die in der Ausstellung einer öffentlichen Urkunde (vgl zum Begriff 17 Os 8/13z, EvBl 2014/14, 85) mündet (§ 57a Abs 5 KFG), deren Inhalt (unmittelbar) die Grundlage für hoheitliches Handeln bildet (vgl §§ 36 lit e, 37 Abs 2 lit h und 44 Abs 1 lit a KFG).

Die vom Angeklagten im Mutter-Kind-Pass vorgenommene Dokumentation des Ergebnisses der (nach den Feststellungen mangelhaften) Untersuchungen (US 5) ist nicht mit erhöhter Beweiskraft ausgestattet ( Kienapfel/Schroll in WK 2 StGB § 224 Rz 15), weshalb es sich insofern beim Mutter-Kind-Pass ungeachtet seines vom Erstgericht hervorgehobenen äußeren Erscheinungsbildes (vgl US 18: „Wappen der Republik auf dem Deckblatt“) auch nicht um eine öffentliche Urkunde handelt.

Im Übrigen hat der Angeklagte mit Tatbestandswirkung für das Verwaltungsverfahren über die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld (§§ 25 ff KBGG) in den Mutter-Kind-Pässen (nach den Feststellungen) richtig festgehalten, dass der anspruchsberechtigte Elternteil die Untersuchungen im Sinn des § 7 Abs 2 KBGG durchführen ließ. Deshalb kommt eine Beurteilung des Urteilssachverhalts als Fälschung eines Beweismittels (§ 293 StGB) ebenfalls nicht in Betracht (zu § 92 Abs 2 StGB vgl im Übrigen RIS Justiz RS0093076 [T4]).

Ein (im Zusammenhang mit der Abrechnung tatsächlich nicht erbrachter Leistungen unter Umständen denkbarer) Betrug des Angeklagten zum Nachteil des Sozialversicherungsträgers ist nicht Gegenstand der Anklage, allenfalls disziplinäres Verhalten des Angeklagten (vgl § 49 ÄrzteG) nicht im Strafverfahren zu beurteilen.

Der aufgezeigte Rechtsfehler (Z 9 lit a) erfordert eine Aufhebung des Schuldspruchs, demgemäß auch des Strafausspruchs. Da nach den Feststellungen des Erstgerichts ein Schuldspruch nicht in Betracht kommt, war auf deren Basis (§ 288 Abs 2 Z 3 erster Fall StPO) sogleich ein Freispruch zu fällen.

Mit ihren Berufungen waren der Angeklagte und die Staatsanwaltschaft auf diese Entscheidung zu verweisen.

Auf die Verfahrensrüge (Z 4), mit welcher der Angeklagte die Abweisung seines Antrags, die im Ermittlungsverfahren tätige Sachverständige nicht im Hauptverfahren beizuziehen, sondern für dieses einen anderen Sachverständigen zu bestellen, bekämpft, war daher nicht mehr einzugehen. Den Antrag hatte der Angeklagte damit begründet, dass die im Ermittlungsverfahren von der Staatsanwaltschaft beauftragte Sachverständige bereits in einem früheren Strafverfahren gegen die Eltern der im Urteilstenor genannten Kinder wegen des Vorwurfs des Quälens oder Vernachlässigens unmündiger, jüngerer oder wehrloser Personen nach § 92 Abs 2 StGB (das mit Freispruch geendet hatte) beigezogen worden war und ihr in jenem Verfahren erstattetes Gutachten Ausgangspunkt für das nunmehrige Strafverfahren gewesen sei. Es handle sich somit um ein „Anzeigegutachten“, die „volle Unbefangenheit“ der Sachverständigen sei daher „in Zweifel zu ziehen“ (ON 54 S 3).

Das Erstgericht hat den Antrag unter anderem mit der Begründung abgewiesen, dass die Tätigkeit der Sachverständigen im Ermittlungsverfahren gemäß § 126 Abs 4 dritter Satz StPO kein Grund für ihre Ablehnung in der Hauptverhandlung sei (ON 54 S 3). Da der Schuldspruch infolge der zutreffenden Rechtsrüge aufzuheben und in diesem Umfang sogleich ein Freispruch zu fällen war, sah sich der Oberste Gerichtshof (weil angesichts der materiellen Rechtslage ein anderes Verfahrensergebnis selbst bei Berechtigung der Verfahrensrüge nicht in Betracht kommt) mit Blick auf das verfassungsrechtlich gewährleistete Recht auf Verfahrensbeendigung in angemessener Frist (Art 6 Abs 1 MRK; vgl auch § 9 Abs 1 StPO) zur Antragstellung gemäß Art 89 Abs 2 B-VG nicht veranlasst, obwohl der erkennende Senat aus folgenden Gründen Bedenken an der Verfassungskonformität des § 126 Abs 4 dritter Satz StPO (im Zusammenspiel mit § 126 Abs 2c und 3 erster Halbsatz StPO) hat:

Im System der Strafprozessordnung in der seit dem StrafprozessreformG (BGBl I 2004/19) geltenden Fassung leitet die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren und bestellt in diesem Verfahrensabschnitt mit Ausnahme des Sonderfalls gerichtlicher Ermittlungen (§§ 104 f StPO) auch Sachverständige (§ 126 Abs 3 erster Halbsatz StPO). Die Tätigkeit des Sachverständigen im Ermittlungsverfahren ist daher der ihn (in aller Regel) bestellenden Staatsanwaltschaft funktionell zuzurechnen (zutreffend die Stellungnahme von Świderski zum Ministerialentwurf eines Strafprozessrechtsänderungsgesetzes 2014 8/SN-38/ME, 13; vgl zur funktionellen Zurechnung kriminalpolizeilicher Handlungen VfGH 16. 12. 2010, G 259/09).

Zwar werden Staatsanwälte von Art 90a B-VG als Organe der Gerichtsbarkeit bezeichnet und sind gemäß § 3 Abs 2 StPO zur Objektivität verpflichtet. In der Hauptverhandlung sind sie als Anklagevertreter jedoch Beteiligte des Verfahrens (§ 210 Abs 2 zweiter Satz StPO) und nehmen strukturell eine Gegenposition zum Angeklagten ein. Aufgrund dieses Rollenwechsels ist auch der von der Staatsanwaltschaft (im Ermittlungsverfahren) bestellte und geführte Sachverständige, soweit sich die Anklage begründend auf dessen Expertise stützt und ihn das Gericht für das Hauptverfahren neuerlich bestellt (§ 126 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO), als „Zeuge der Anklage“ im Sinn eines nach dem gebotenen strengen Maßstab von einer Verfahrenspartei nicht unabhängigen Sachverständigen zu sehen (vgl Grabenwarter in Korinek/Holoubek , Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 6 EMRK Rz 99 mwN; EGMR 4. 4. 2013, Nr 30465/06, C. B. gg Österreich Z 42; EGMR 25. 7. 2013, Nr 11082/06 und 13772/05, Khodorkovskiy und Lebedev gg Russland Z 729-735).

Der Verfassungsgerichtshof hat eine Verletzung des Art 6 MRK in der im gegenständlichen Strafverfahren angesprochenen Konstellation eines „Anzeigegutachtens“ angenommen. Eine solche liegt vor, wenn das Gutachten Grundlage für die Einleitung eines Strafverfahrens bildet (VfSlg 10.701). Gleichermaßen hat der EGMR einen Widerspruch zu Art 6 Abs 1 MRK konstatiert, wenn „Zweifel an der Neutralität eines Sachverständigen aufkommen, dessen Gutachten den Anstoß zu einer Anklageerhebung ergeben hat“ (EGMR 6. 5. 1985, Nr 8658/79, Bönisch gg Österreich).

Wenn auch die Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet ist, kommt beim von ihr eingeholten Sachverständigenbeweis im Ermittlungsverfahren ein strukturelles Ungleichgewicht zum Nachteil des Beschuldigten (§ 48 Abs 2 StPO) zum Tragen: Für die Staatsanwaltschaft ist nämlich (vgl die in § 2 Abs 1 StPO verankerte Verpflichtung zu amtswegiger Wahrheitsforschung) Erkundungsbeweisführung statthaft (vgl AB 406 BlgNR 22. GP 9), in deren Rahmen sie ohne Bindung an Begründungserfordernisse auch Sachverständige mit Ermittlungen beauftragen kann (vgl § 103 Abs 2 StPO). Beschuldigte hingegen haben gemäß § 55 Abs 1 dritter Satz StPO nicht anders als im Hauptverfahren (vgl EBRV 25 BlgNR 22. GP 80; RIS-Justiz RS0118444, RS0118123; zum umfassenden Anwendungsbereich dieser Vorschrift Schmoller , WK-StPO § 55 Rz 4 f) in ihrem Antrag zu begründen, weshalb die begehrte Beweisaufnahme (durch den Sachverständigen) geeignet sei, das (erhebliche) Beweisthema zu klären, widrigenfalls diese gemäß § 55 Abs 2 Z 2 StPO unterbleiben darf. Die in 11 Os 51/13d unter Berufung auf eine Literaturstelle ( Schmoller , WK-StPO § 55 Rz 35 ff) geäußerte Ansicht, dieses Ungleichgewicht werde relativiert, indem ein solcher Antrag auf Erkundungsbeweisführung „eine prozessuale Wirkung“ (als Antrag, „der Pflicht zur amtswegigen Sachverhaltsaufklärung in einem bestimmten Bereich nachzukommen“) entfalte, steht im Widerspruch zur unter dem Aspekt der Subsidiarität der Aufklärungs- gegenüber der Verfahrensrüge (§ 281 Abs 1 Z 5a und 4 StPO) entwickelten ständigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung zum Beweisantragsrecht (RIS-Justiz RS0115823, RS0114036) und wird vom erkennenden Senat nicht geteilt (vgl auch JAB 203 BlgNR 25. GP 3).

Hat der Sachverständige Befund und Gutachten (im Rahmen dieser verfahrensrechtlichen Vorgaben) erstattet, kann der Beschuldigte (im Hauptverfahren: Angeklagte) nur dann mit Erfolg die Beiziehung eines weiteren Sachverständigen beantragen, wenn es ihm gelingt, formale Mängel aufzuzeigen, die sich durch Befragung des (bisherigen) Sachverständigen nicht beseitigen lassen (§ 127 Abs 3 StPO; RIS-Justiz RS0117263, RS0102833). Das von der Prozessordnung dem Angeklagten eingeräumte Recht allenfalls unterstützt durch eine „Person mit besonderem Fachwissen“ (§ 249 Abs 3 StPO) Fragen an den Sachverständigen zu stellen, um solcherart (unabhängig vom Vorliegen formaler Mängel) die materielle Überzeugungskraft des Gutachtens zu erschüttern (vgl 14 Os 129/05k), deckt bloß den ersten Teil des in Art 6 Abs 3 lit d MRK normierten Grundrechts ab (vgl Wess , Glosse zu 13 Os 141/11a, JBl 2013, 64 ff [66]).

Tritt aber der Sachverständige nach dem Vorgesagten als „Zeuge der Anklage“, mithin als Belastungszeuge auf, hat das Gesetz um der Garantie des Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK zu entsprechen dem Angeklagten das Recht einzuräumen, die Ladung und Vernehmung eines „Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen“, also die Bestellung eines anderen Sachverständigen zu erwirken, der entweder nicht in einem vergleichbaren Naheverhältnis zur Anklagebehörde steht oder gleichsam compensando das Vertrauen der Verteidigung genießt ( Grabenwarter in Korinek/Holoubek , Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 6 EMRK Rz 99, 101 mwN; vgl erneut EGMR 4. 4. 2013, Nr 30465/06, C. B. gg Österreich, mit welchem Urteil die gerichtliche Bestellung nach dem System der Strafprozessordnung in der Fassung vor dem StrafprozessreformG als konventionskonform beurteilt wurde insbesondere Z 42, wo sich der ausdrückliche Hinweis findet, dass der Sachverständige nicht von der Staatsanwaltschaft bestellt wurde).

Dies ist nach derzeitiger Rechtslage nicht der Fall. Die Berücksichtigung von sogenannten „Privatgutachten“ ist nach ständiger vom Gesetzgeber anlässlich der Einführung des § 249 Abs 3 StPO mit BGBl I 2007/93 ausdrücklich gebilligter (vgl EBRV 231 BlgNR 23. GP 13 f) oberstgerichtlicher Recht sprechung dem österreichischen Strafverfahren fremd (RIS Justiz RS0118421, RS0115646, RS0097292; allgemein zur [eingeschränkten] Bedeutung von „Privatgutachtern“ Hinterhofer , WK-StPO § 125 Rz 18 ff). Die der (nicht adversatorisch aufgebauten) Prozessordnung besser entsprechende (vgl Ratz , Zur Reform der Hauptverhandlung und des Rechtsmittelverfahrens, ÖJZ 2010, 387 f; vgl nunmehr auch § 126 Abs 5 erster Satz StPO in der vom Nationalrat beschlossenen Fassung des StrafprozessreformG 2014) Beiziehung eines unabhängigen also vom Gericht bestellten Sachverständigen, kann der Angeklagte aus folgenden Gründen hingegen (bisher) nicht erfolgversprechend beantragen:

Die für das Hauptverfahren dem Gericht (formal) eingeräumte Entscheidungskompetenz (§ 126 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO) ist nämlich in zweierlei Hinsicht beschränkt. Der Stattgebung eines nur mit dem dargestellten strukturellen Ungleichgewicht und der daraus abgeleiteten Parteilichkeit (im Sinn des Art 6 MRK) des Sachverständigen begründeten Antrags auf dessen Austausch steht gerade § 126 Abs 4 dritter Satz StPO entgegen. Der Versuch einer „verfassungskonformen“ einschränkenden Auslegung (zum Begriff und den Grenzen: Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer , Bundesverfassungsrecht 10 Rz 135; Öhlinger/Eberhard , Verfassungsrecht 10 Rz 36 f) oder gar teleologischen Reduktion (so im Ergebnis 12 Os 90/13x, wo ein Ausnahmetatbestand allerdings nicht für den Fall des hier angesprochenen strukturellen Ungleichgewichts, sondern der Befangenheit aus besonderen in der Person des Sachverständigen und der von ihm tatsächlich entfalteten Tätigkeit resultierenden Umständen entwickelt wird) dieser Bestimmung scheitert jedoch bereits an deren klarem Wortlaut und der eindeutigen Intention des Gesetzgebers (EBRV 25 BlgNR 22. GP 177; vgl VfSlg 19.705; RIS-Justiz RS0106113).

Davon abgesehen ist das Auswahlermessen des Gerichts (bei der Sachverständigenbestellung im Rahmen diskretionärer Gewalt) durch die Vorschrift des § 126 Abs 2c StPO eingeschränkt, demzufolge bei der Wahl von Sachverständigen (oder Dolmetschern) und der Bestimmung des Umfangs ihres Auftrags nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit vorzugehen ist. Hat der Sachverständige demnach im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein mängelfreies (vgl § 127 Abs 3 StPO) Gutachten erstattet, lässt das Gesetz dem Gericht keinen Spielraum, dem Hauptverfahren einen anderen Sachverständigen beizuziehen.

Verfassungsrechtliche Bedenken am (derzeitigen) System der Sachverständigenbestellung hat bereits die Vollversammlung des Obersten Gerichtshofs in ihren Tätigkeitsberichten (www.ogh.gv.at/de/taetigkeitsberichte) 2011 (S 45 f) und 2012 geäußert (S 28). Sie werden überdies von zahlreichen Stimmen im Schrifttum geteilt (vgl etwa Ratz , Der Oberste Gerichtshof in Österreich als Grundrechtsgericht, AnwBl 2013, 274 ff [277]; Hinterhofer , WK-StPO § 125 Rz 5 f; Mayer/Haidenhofer , Der Sachverständige als Gehilfe des Staatsanwalts im Strafprozess, AnwBl 2014, 100 ff; Schmoller , Glosse zu 12 Os 90/13x, JBl 2014, 340 f; Todor-Kostic , Sachverständigenbeweis und Sachverständigenauswahl Problembereiche im Lichte des § 126 StPO neu, AnwBl 2011, 132 ff) und haben mittlerweile den Gesetzgeber zur Novellierung im Rahmen des StrafprozessreformG 2014 veranlasst (vgl EBRV 181 BlgNR 25. GP 8 ff und AB 203 BlgNR 25. GP 3).

Aufgrund der vorstehenden Überlegungen vermag sich daher der erkennende Senat der in anderen oberstgerichtlichen Entscheidungen geäußerten Ansicht (13 Os 141/11a, 160/11w; 14 Os 2/12v; 12 Os 90/13x; 11 Os 51/13d; 13 Os 55/13g, 56/13d), gegen das System der Sachverständigenbestellung in Ermittlungs- und Hauptverfahren (insbesondere gegen § 126 Abs 4 dritter Satz iVm Abs 2c und Abs 3 erster Halbsatz StPO) bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken, nicht anzuschließen.

Rechtssätze
15
  • RS0129609OGH Rechtssatz

    11. August 2014·1 Entscheidung

    Die für das Hauptverfahren dem Gericht (formal) eingeräumte Entscheidungskompetenz (§ 126 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO) ist in zweierlei Hinsicht beschränkt. Der Stattgebung eines nur mit dem dargestellten strukturellen Ungleichgewicht und der daraus abgeleiteten Parteilichkeit (im Sinn des Art 6 MRK) des Sachverständigen begründeten Antrags auf dessen Austausch steht gerade § 126 Abs 4 dritter Satz StPO entgegen. Der Versuch einer „verfassungskonformen“ einschränkenden Auslegung (zum Begriff und den Grenzen: Walter/Mayer/Kucsko-Stadlmayer, Bundesverfassungsrecht10 Rz 135; Öhlinger/Eberhard, Verfassungsrecht10 Rz 36 f) oder gar teleologischen Reduktion (so im Ergebnis 12 Os 90/13x, wo ein Ausnahmetatbestand allerdings nicht für den Fall des hier angesprochenen strukturellen Ungleichgewichts, sondern der Befangenheit aus besonderen – in der Person des Sachverständigen und der von ihm tatsächlich entfalteten Tätigkeit resultierenden – Umständen entwickelt wird) dieser Bestimmung scheitert jedoch bereits an deren klarem Wortlaut und der eindeutigen Intention des Gesetzgebers (EBRV 25 BlgNR 22. GP 177; vgl VfSlg 19.705; RIS-Justiz RS0106113). Davon abgesehen ist das Auswahlermessen des Gerichts (bei der Sachverständigenbestellung im Rahmen diskretionärer Gewalt) durch die Vorschrift dse § 126 Abs 2c StPO eingeschränkt, demzufolge bei der Wahl von Sachverständigen (oder Dolmetschern) und deren Bestimmung des Umfangs ihres Auftrags nach den Grundsätzen der Sparsamkeit, Wirtschaftlichkeit und Zweckmäßigkeit vorzugehen ist. Hat der Sachverständige demnach im Auftrag der Staatsanwaltschaft ein mängelfreies (vgl § 127 Abs 3 StPO) Gutachten erstattet, lässt das Gesetz dem Gericht keinen Spielraum, dem Hauptverfahren einen anderen Sachverständigen beizuziehen.

  • RS0129608OGH Rechtssatz

    25. November 2014·3 Entscheidungen

    Wenn auch die Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet ist, kommt beim von ihr eingeholten Sachverständigenbeweis im Ermittlungsverfahren ein strukturelles Ungleichgewicht zum Nachteil des Beschuldigten (§ 48 Abs 2 StPO) zum Tragen: Für die Staatsanwaltschaft ist nämlich (vgl die in § 2 Abs 1 StPO verankerte Verpflichtung zu amtswegiger Wahrheitsforschung) Erkundungsbeweisführung statthaft, in deren Rahmen sie ohne Bindung an Begründungserfordernisse auch Sachverständige mit Ermittlungen beauftragen kann (vgl § 103 Abs 2 StPO). Beschuldigte hingegen haben gemäß § 55 Abs 1 dritter Satz StPO – nicht anders als im Hauptverfahren – in ihrem Antrag zu begründen, weshalb die begehrte Beweisaufnahme (durch den Sachverständigen) geeignet sei, das (erhebliche) Beweisthema zu klären, widrigenfalls diese gemäß § 55 Abs 2 Z 2 StPO unterbleiben darf. Die in 11 Os 51/13d unter Berufung auf eine Literaturstelle (Schmoller, WK-StPO § 55 Rz 35 ff) geäußerte Ansicht, dieses Ungleichgewicht werde relativiert, indem ein solcher Antrag auf Erkundungsbeweisführung „eine prozessuale Wirkung“ (als Antrag, „der Pflicht zur amtswegigen Sachverhaltsaufklärung in einem bestimmten Bereich nachzukommen“) entfalte, steht im Widerspruch zur – unter dem Aspekt der Subsidiarität der Aufklärungs- gegenüber der Verfahrensrüge (§ 281 Abs 1 Z5a und 4 StPO) entwickelten – ständigen oberstgerichtlichen Rechtsprechung zum Beweisantragsrecht (RIS-Justiz RS0115823, RS0114036) und wird vom erkennenden Senat nicht geteilt (vgl auch JAB 203 BlgNR 25. GP 3).

  • RS0129607OGH, AUSL EGMR Rechtssatz

    25. November 2014·3 Entscheidungen

    Zwar werden Staatsanwälte von Art 90a B-VG als Organe der Gerichtsbarkeit bezeichnet und sind gemäß § 3 Abs 2 StPO zur Objektivität verpflichtet. In der Hauptverhandlung sind sie als Anklagevertreter jedoch Beteiligte des Verfahrens (§ 210 Abs 2 zweiter Satz StPO) und nehmen strukturell eine Gegenposition zum Angeklagten ein. Aufgrund dieses Rollenwechsels ist auch der von der Staatsanwaltschaft (im Ermittlungsverfahren) bestellte und geführte Sachverständige, soweit sich die Anklage begründend auf dessen Expertise stützt und ihn das Gericht für das Hauptverfahren neuerlich bestellt (§ 126 Abs 3 zweiter Halbsatz StPO), als „Zeuge der Anklage“ im Sinn eines – nach dem gebotenen strengen Maßstab – von einer Verfahrenspartei nicht unabhängigen Sachverständigen zu sehen. Tritt aber der Sachverständige als „Zeuge der Anklage“, mithin als Belastungszeuge auf, hat das Gesetz – um der Garantie des Art 6 Abs 3 lit d zweiter Fall MRK zu entsprechen – dem Angeklagten das Recht einzuräumen, die Ladung und Vernehmung eines „Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen“, also die Bestellung eines anderen Sachverständigen zu erwirken, der entweder nicht in einem vergleichbaren Naheverhältnis zur Anklagebehörde steht oder – gleichsam compensando – das Vertrauen der Verteidigung genießt (Grabenwarter in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 6 EMRK Rz 99, 101 mwN; vgl EGMR 4. 4. 2013, Nr 30456/06, C. B. gg Österreich, mit welchem Urteil die gerichtliche Bestellung nach dem System der Strafprozessordnung in der Fassung vor dem StrafprozessreformG als konventionskonform beurteilt wurde [insbesondere Z 42, wo sich der ausdrückliche Hinweis findet, dass der Sachverständige nicht von der Staatsanwaltschaft bestellt wurde]). Dies ist nach derzeitiger Rechtslage nicht der Fall.

  • RS0129286OGH Rechtssatz

    02. März 2017·3 Entscheidungen

    Wenn ein Sachverständiger bei einem sehr allgemeinen Anfangsverdacht von der Staatsanwaltschaft mit nicht weiter determinierten Erhebungen zu einer Straftat, insbesondere ohne Nennung eines konkreten Beweisthemas beauftragt wird und das vorhandene, nicht ohne weiteres aussagekräftige Beweismaterial aufarbeitet und auf ein strafrechtliches Verdachtssubstrat hin untersucht, dann mutiert er von einem unabhängig agierenden Experten, der bei bestehender konkreter Verdachtslage zu einem Problemfeld mit Fachwissen Stellung nehmen soll, zu einem verlängerten Arm der Ermittlungsbehörden und damit funktional zu einem Organ der Ermittlungsbehörde. Je unbestimmter daher der Anfangsverdacht, je unkonkreter der Auftrag der Staatsanwaltschaft an den beigezogenen Experten, also je weniger der Beweiserhebungsauftrag den Kriterien des § 55 StPO entspricht, desto eher muss die darauf aufbauende Befundaufnahme inhaltlich als Ermittlungstätigkeit des beauftragten Gutachters gewertet werden. Insoweit wäre der solcherart eingesetzte Sachverständige mit einem „Anzeigegutachter“ vergleichbar. Wer in derselben Strafsache als Kriminalbeamter tätig war, darf nicht später als Staatsanwalt agieren und umgekehrt. Wer daher inhaltlich als Ermittlungsorgan gewirkt hat, darf darauf folgend nicht als Sachverständiger einschreiten; vielmehr bewirkt eine solche funktional als Ermittlungsorgan erfolgte Vorbefassung als Befangenheitsgrund. Auf dieser Basis besteht für das erkennende Gericht eine Pflicht, das im Ermittlungsverfahren durch einen von der Staatsanwaltschaft bestellten, nicht an die Grundsätze des § 55 StPO gebundenen, einen strafrechtlich relevanten Sachverhalt erst ermittelnden Experten hervorgerufene prozessuale Ungleichgewicht durch die Bestellung eines neuen Sachverständigen für das Hauptverfahren auszutarieren und damit ein faires Verfahren zu sichern. Solcherart bestehen keine verfassungsmäßigen Bedenken gegen § 126 Abs 4 letzter Satz StPO.