JudikaturJustiz15Os73/15x

15Os73/15x – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. Juni 2015

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 10. Juni 2015 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Danek als Vorsitzenden sowie den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann als weitere Richter in Gegenwart des Rechtspraktikanten Mag. Zechner als Schriftführer in der Strafsache gegen Markus S***** wegen des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall, Abs 2 StGB über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 12. Juni 2008, GZ 11 Hv 50/08a 22, und weitere Vorgänge erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Höpler, zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 11 Hv 50/08a des Landesgerichts für Strafsachen Graz verletzen

1./ die Unterlassung der Zurückweisung des Anschlusses der I***** (nunmehr: ***** )***** GmbH als Privatbeteiligte in der Hauptverhandlung vom 29. Mai 2008 § 67 Abs 4 Z 1 und Abs 5 StPO und

2./ der - zudem ohne Vernehmung des Angeklagten in der Hauptverhandlung trotz meritorischer Entscheidung darüber - mit Urteil vom 12. Juni 2008 (ON 22) erfolgte Zuspruch von 4.157,41 Euro an die I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH § 366 Abs 2, § 369 Abs 1 und 245 Abs 1a StPO.

Gemäß § 292 letzter Satz StPO wird das Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 12. Juni 2008, GZ 11 Hv 50/08a-22, das im Übrigen unberührt bleibt, im Zuspruch von 4.157,41 Euro an die Privatbeteiligte I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH aufgehoben und gemäß § 67 Abs 4 Z 1 StPO der Privatbeteiligtenanschluss der I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH in diesem Umfang zurückgewiesen.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 11 Hv 50/08a des Landesgerichts für Strafsachen Graz brachte die Staatsanwaltschaft einen Strafantrag gegen Markus S***** wegen des am 12. Mai 2005 zum Nachteil der I***** GmbH (durch Vortäuschung eines längeren Beschäftigungsverhältnisses beim Unternehmen Ernst G***** im Jahr 2004) begangenen Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 1 Z 1 erster Fall, Abs 2 StGB ein (ON 14).

Der hiezu geladene (ON 1 AS 3d) vom Termin auch tatsächlich in Kenntnis gewesene (ON 17 AS 115) Angeklagte erschien zur Hauptverhandlung vom 30. April 2008 nicht, weshalb diese auf den 29. Mai 2008 vertagt wurde (ON 17). Trotz Zustellung der Ladung durch Hinterlegung (ON 1 AS 3e) und Kenntnis vom Termin (ON 19 AS 125) kam der Angeklagte auch zu dieser Hauptverhandlung nicht, die daraufhin in seiner Abwesenheit durchgeführt wurde (ON 19). In dieser schloss sich der als Zeuge geladene Vertreter der I***** GmbH namens dieser Gesellschaft als Privatbeteiligte dem Strafverfahren mit einem Schadensbetrag von 5.202,33 Euro an (ON 19 AS 147). Die Verhandlung wurde zur Vernehmung einer Zeugin abermals vertagt. Zur Hauptverhandlung vom 12. Juni 2008 erschien der Angeklagte trotz Zustellung der Ladung durch Hinterlegung (ON 1 AS 3e verso) wieder nicht, wobei auch der Versuch einer Vorführung negativ verlief (ON 1 AS 3 f; ON 21 AS 164).

Markus S***** w urde mit Urteil vom selben Tag (ON 22) in Abwesenheit des Vergehens des schweren Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 2 StGB zum Nachteil der I***** GmbH - durch Vortäuschung eines Beschäftigungsverhältnisses beim Unternehmen Ernst G***** für den Zeitraum von 15. November bis 5. Dezember 2004 - schuldig erkannt und zu einer Geldstrafe verurteilt. Gemäß § 369 Abs 1 StPO wurde dieser Privatbeteiligten ein Betrag von 4.157,41 Euro „zugesprochen“, den sie auf Grund der falschen Angaben über die Dauer der Beschäftigung im Zuge des Konkurses des Unternehmens Ernst G***** zu Unrecht (als Insolvenz-Ausfallgeld [Insolvenz-Entgelt]) ausbezahlt hatte (US 2, 5 f, 14); mit dem darüber hinausgehenden Begehren wurde sie gemäß § 366 Abs 2 zweiter Satz StPO auf den Zivilrechtsweg verwiesen (ON 21, 22).

Das Urteil samt den Protokollen der Hauptverhandlung und einer Rechtsbelehrung bei Abwesenheitsurteilen im Verfahren vor dem Einzelrichter (ON 1 AS 3 f; vgl auch ON 59 AS 2 verso iVm Anhang zu ON 26) wurde dem Angeklagten am 8. Juli 2014 im Rechtshilfeweg in kroatischer Sprache (ON 61, 62, 66 AS 5 iVm dem Beschluss ON 59 AS 2) zugestellt (ON 72).

Bereits vor dieser Zustellung ersuchte der Angeklagte mit Schreiben vom 21. November 2012 um „ein neues Gerichtsverfahren“ (ON 41), wobei er sein Begehren am 11. Jänner 2013 und am 17. Juni 2013 bei Gericht insofern präzisierte, gegen das Urteil und gegen das Strafausmaß ein Rechtsmittel erheben zu wollen (ON 44, 56). Eine (weitere) schriftliche Rechtsmittelausführung erfolgte nach Urteilszustellung nicht. Am 10. Dezember 2014 teilte der Verteidiger im Rahmen der mündlichen Berufungsverhandlung beim Oberlandesgericht Graz mit, dass nach Rücksprache mit dem Angeklagten ausschließlich gegen den Ausspruch über die Strafe Berufung erhoben werde (ON 76 AS 2).

Das Oberlandesgericht Graz gab mit Urteil vom 10. Dezember 2014, AZ 9 Bs 245/13t, der Berufung wegen des Ausspruchs über die Strafe Folge und setzte die verhängte Geldstrafe herab (ON 77).

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt, wurde im gegenständlichen Verfahren des Landesgerichts für Strafsachen Graz das Gesetz in mehrfacher Hinsicht verletzt:

Rechtliche Beurteilung

1./ Zufolge § 245 Abs 1a StPO (hier iVm § 488 Abs 1 erster Satz StPO) ist der Angeklagte in der Hauptverhandlung auch über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Bei dieser Vernehmung handelt es sich um ein der Gewährleistung des beiderseitigen rechtlichen Gehörs dienendes Erfordernis, ohne dessen Beachtung ein Zuspruch an den Privatbeteiligten nicht erfolgen darf (RIS-Justiz RS0101197, RS0101178; Kirchbacher , WK StPO § 245 Rz 23; Spenling , WK-StPO Vor §§ 366-379 Rz 11).

Im vorliegenden Fall wurde der Angeklagte zu den privatrechtlichen Ansprüchen nicht gehört, sodass der ohne diese Vernehmung erfolgte Zuspruch an die Privatbeteiligte I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH schon aus diesem (prozessualen) Grund das Gesetz verletzt.

2./ Mit BGBl I 2001/88 wurde zur Besorgung der bis 31. Juli 2001 von den Bundesämtern für Soziales und Behindertenwesen wahrgenommenen Aufgaben auf dem Gebiet der Insolvenz-Entgeltsicherung und zur Betriebsführung und Besorgung aller Geschäfte des Insolvenz-Ausfallgeld-Fonds (§ 3) unter dem Firmenwortlaut „I***** GmbH“ die I***** GmbH errichtet, die ab 1. Juli 2008 die Bezeichnung „I***** Gesellschaft mit beschränkter Haftung“ und den Firmenwortlaut „I***** GmbH“ erhielt (§ 1 IEFG). Unternehmensgegenstand der Gesellschaft ist die Besorgung von Aufgaben auf dem Gebiet der Insolvenz-Entgeltsicherung, wobei unter anderem jene Aufgaben hoheitlich zu vollziehen sind, die nach dem Insolvenz Entgeltsicherungsgesetz (IESG), BGBl 1977/324 idF BGBl I 2000/142, am 31. Juli 2001 von den Bundesämtern für Soziales und Behindertenwesen hoheitlich zu vollziehen waren (§ 3 IEFG).

Am 31. Juli 2001 war nach dem genannten Insolvenz-Entgeltsicherungsgesetz für den Widerruf und die Zurückforderung von zu Unrecht bezogenen Leistungen das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen (§ 5 Abs 1 leg cit) zur Erlassung von Bescheiden zuständig (§ 9 Abs 1 leg cit). Dieser Rückforderungsanspruch ist - wie bereits vor Einrichtung der I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH - öffentlich-rechtlicher Natur; der ordentliche (Zivil-)Rechtsweg steht dafür nicht offen (vgl 8 ObS 244/00s zur Rechtslage vor dem 31. Juli 2001; allgemein zur Abgrenzung von Privatwirtschafts- und Hoheitsverwaltung und zum Bescheid vgl RIS-Justiz RS0049882, RS0049711).

Die Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Ansprüche im Adhäsionsverfahren ist gleichfalls unzulässig (RIS-Justiz RS0095973 [T1]; Spenling, WK StPO Vor §§ 366 379 Rz 29).

Es hätte daher der am 29. Mai 2008 erfolgte Privatbeteiligtenanschluss der I***** GmbH (ON 19 AS 147) gemäß § 67 Abs 4 Z 1, Abs 5 StPO möglichst frühzeitig (vgl RIS-Justiz RS0124921) - also schon an diesem Tag - als offensichtlich unberechtigt zurückgewiesen werden müssen und am 12. Juni 2008 ein Zuspruch gemäß § 369 Abs 1 StPO auch materiell nicht erfolgen dürfen.

Ein Vertrauensschutz im Hinblick auf Art 1 des 1. ZPMRK (vgl RIS-Justiz RS0124740) besteht aufgrund der Unzulässigkeit der Geltendmachung öffentlich-rechtlicher Ansprüche im ordentlichen Rechtsweg nicht (vgl 15 Os 91/13s [15 Os 92/13p, 15 Os 93/13k]).

Da sich das Urteil im aufgezeigten Sinn für den Verurteilten nachteilig ausgewirkt hat, war es im aus dem im Spruch ersichtlichen Umfang aufzuheben und der Privatbeteiligtenanschluss der I***** (nunmehr: I***** )***** GmbH in diesem Umfang zurückzuweisen.

Rechtssätze
5
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.