JudikaturJustiz15Os39/11s

15Os39/11s – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. Mai 2011

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. Mai 2011 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Danek als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. T. Solé und Mag. Lendl sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner Foregger und Dr. Michel Kwapinski als weitere Richter in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Tomecek als Schriftführerin in der Strafsache gegen Rene K***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 32 U 11/11p (vormals: AZ 38 U 74/10w) des Bezirksgerichts Favoriten, über die von der Generalprokuratur gegen den im Abwesenheitsurteil vom 27. Oktober 2010 ergangenen Privatbeteiligtenzuspruch und einen weiteren Vorgang erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur Generalanwältin Mag. Fürnkranz sowie des Privatbeteiligten Senat A***** zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren AZ 32 U 11/11p (vormals AZ 38 U 74/10w) des Bezirksgerichts Favoriten verletzen:

1./ der im Abwesenheitsurteil vom 27. Oktober 2010 ohne Anhörung des Angeklagten ergangene Zuspruch von 2.500 Euro an den Privatbeteiligten Senat A***** § 245 Abs 1a iVm § 447 und § 366 Abs 2 StPO;

2./ die Unterlassung der Aufnahme des gesamten, mündlich verkündeten Urteilsspruchs mit den in § 260 Abs 1 Z 1 StPO bezeichneten Angaben in das Hauptverhandlungsprotokoll vom 27. Oktober 2010 § 271 Abs 1 Z 7 iVm § 447 StPO.

Text

Gründe:

Im Strafverfahren gegen Rene K***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB, AZ 32 U 11/11p (vormals: AZ 38 U 74/10w), führte das Bezirksgericht Favoriten am 27. Oktober 2010 die Hauptverhandlung gemäß § 427 Abs 1 StPO in Abwesenheit des per Hinterlegung (§ 17 ZustG) geladenen (ON 1, S 4), jedoch nicht bei Gericht erschienen Angeklagten durch (ON 12).

Der in der Hauptverhandlung vernommene Zeuge Senat A***** schloss sich dem Strafverfahren mit einem Betrag von 5.500 Euro als Privatbeteiligter an (ON 12, S 5).

Nach Schluss des Beweisverfahrens verkündete der Bezirksrichter das Abwesenheitsurteil. Im Protokoll über die Hauptverhandlung wurde hiezu vermerkt:

„Schuldspruch: wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4, 1. Fall StGB

Strafe: nach § 88 Abs 4 StGB 1. Strafsatz

Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je € 4, , Gesamtgeldstrafe von € 240,--, EFS von 30 Tagen

Kostenersatz nach § 389 Abs 1 StPO,

Rene K***** ist weiters schuldig, dem Senat A***** € 2.500, zu zahlen (§ 369 Abs 1 StPO).

Mit seinen restlichen Ansprüchen wird der Privatbeteiligte auf den ZRW verwiesen (§ 366 Abs 2 StPO).

mildernd: der bisher ordentliche Lebenswandel, erschwerend: kein Umstand“ (ON 12, S 5 und 7).

Nach der schriftlichen Urteilsausfertigung (ON 13) hat Rene K***** am 10. Mai 2010 in Wien Favoriten als Kraftfahrzeugslenker durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr gebotenen und zumutbaren Sorgfalt Senat A***** fahrlässig am Körper verletzt, indem er infolge mangelnder Fahrpraxis die Herrschaft über das Fahrzeug verlor und gegen den Eingang eines Supermarkts prallte, wodurch sein Beifahrer Senat A***** zwei Sehnenrisse und einen Schulterfaserringriss, sohin eine an sich schwere Verletzung, erlitt. Den Privatbeteiligtenzuspruch an Senat A***** gründete das Bezirksgericht Favoriten auf die erlittenen Verletzungen sowie die Beschädigung des Fahrzeugs des Geschädigten, wobei es von einem erheblichen Mitverschulden ausging (US 9).

Seinen gegen dieses Abwesenheitsurteil erhobenen Einspruch (ON 14) zog Rene K***** am 11. Jänner 2011 ausdrücklich zurück (ON 15), sodass das Urteil in Rechtskraft erwuchs.

Rechtliche Beurteilung

Wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt, wurde in mehrfacher Hinsicht das Gesetz verletzt:

Nach der gemäß § 447 StPO auch im bezirksgerichtlichen Strafverfahren geltenden Bestimmung des § 245 Abs 1a StPO ist der Angeklagte über die gegen ihn erhobenen privatrechtlichen Ansprüche zu vernehmen und zur Erklärung aufzufordern, ob und in welchem Umfang er diese anerkennt. Es handelt sich dabei um eine wesentliche formelle Voraussetzung für einen Privatbeteiligtenzuspruch, um ein zwingendes, dem Grundsatz des beiderseitigen Gehörs Rechnung tragendes Gebot. Da der in der Hauptverhandlung nicht anwesende Rene K***** zu den privatrechtlichen Ansprüchen des Senat A***** nicht gehört wurde, verletzt der dennoch erfolgte Zuspruch an den Privatbeteiligten das Gesetz (vgl RIS Justiz RS0101178, RS0101197; Spenling , WK StPO, Vor §§ 366 - 379 Rz 11). Der Privatbeteiligte wäre vielmehr zur Gänze auf den Zivilrechtsweg zu verweisen gewesen (§ 366 Abs 2 StPO).

Gemäß § 271 Abs 1 Z 7 StPO (hier: iVm § 447 StPO) hat das Hauptverhandlungsprotokoll den gesamten Spruch des Urteils mit den in § 260 Abs 1 Z 1 bis 3 StPO bezeichneten Angaben zu enthalten. Mit dem bloßen Vermerk „Schuldspruch wegen des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und Abs 4 erster Fall StGB …“ (ON 12, S 5) genügt das Hauptverhandlungsprotokoll des Bezirksgerichts Favoriten vom 27. Oktober 2010 mangels Bezeichnung der Tat, welcher der Angeklagte schuldig befunden worden ist sowie mangels Bezeichnung der einen bestimmten Strafsatz (hier: erster Fall des § 88 Abs 4 StGB) bedingenden Tatumstände (§ 260 Abs 1 Z 1 StPO) diesen Anforderungen nicht (vgl RIS Justiz RS0098552; Danek , WK StPO § 268 Rz 21; Lendl , WK StPO § 260 Rz 6).

Entgegen der Ansicht der Generalprokuratur waren die Gesetzesverletzungen auch jene betreffend den rechtsfehlerhaften Privatbeteiligtenzuspruch lediglich festzustellen. Wurde über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer im Sinn des Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten (RIS Justiz RS0124740). Wenn wie im vorliegenden Fall - der Schuldspruch jedoch unverändert bestehen bleibt und die Gesetzesverletzung nur das Adhäsionserkenntnis betrifft, steht einer Zuerkennung konkreter Wirkung (§ 292 Abs 2 letzter Satz StPO) Art 1 des 1. ZPMRK entgegen, zumal wie hier mangels Erschöpfung des Instanzenzugs auch dem Verurteilten keine Möglichkeit zur Einbringung zulässiger weiterer Rechtsbehelfe offen stand (vgl RIS Justiz RS0124798 [T2]), sodass der Privatbeteiligte auf die Rechtskraft des Zuspruchs vertrauen durfte.

Rechtssätze
5
  • RS0124740OGH Rechtssatz

    11. März 2024·3 Entscheidungen

    Die Erneuerungsmöglichkeit (auch ohne vorangegangene EGMR-Entscheidung) bedeutet keine unzulässige Beschränkung des aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 6 Abs 1 MRK) iVm der Präambel der Konvention abgeleiteten Anspruchs auf Rechtssicherheit, maW auf Respektierung der - nach Maßgabe nur des innerstaatlichen Rechtsschutzsystems zu beurteilenden - Rechtskraft von Entscheidungen durch den Staat selbst. In Strafsachen ist die Aufhebung eines grundrechtswidrigen Schuldspruchs des untergeordneten Strafgerichts zum Vorteil des Angeklagten stets möglich. Wurde hingegen über zivilrechtliche Ansprüche im Strafverfahren entschieden, ist die Zulässigkeit einer Durchbrechung der Rechtskraft grundsätzlich auch unter dem Aspekt einer iSd Art 1 des 1. ZPMRK geschützten Position zu prüfen: Bei untrennbar mit einem Schuldspruch (§ 260 Abs 1 Z 2 StPO) verbundenen Zusprüchen (§ 366 Abs 2 StPO) prävaliert im Strafverfahren der Schutz des Angeklagten; für den Privatbeteiligten allenfalls nachteilige Wirkungen einer Aufhebungsentscheidung wären als Schadenersatzansprüche im Amtshaftungsverfahren geltend zu machen. Wird hingegen ausnahmsweise im Strafverfahren über - vertragsautonom iSd Art 6 MRK betrachtet - zivilrechtliche, nicht akzessorische Ansprüche entschieden (§§ 6 ff, 9 f MedienG), ist die Entscheidung in der Sache, also auch die Aufhebung der Entscheidung des untergeordneten Strafgerichts jedenfalls dann möglich, wenn der Antragsgegner (als zuvor am Verfahren Beteiligter) einen Erneuerungsantrag unter den oben dargestellten strikten Voraussetzungen gestellt hat, gleichviel, ob die Aufhebung in Stattgebung dieses Antrags oder einer aus dessen Anlass erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes erfolgt. Lediglich bei einer nicht von einem Antrag nach § 363a StPO begleiteten Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes (oder einem Antrag gemäß § 362 Abs 1 Z 2 StPO) kann von dem Ermessen iSd § 292 letzter Satz StPO nicht Gebrauch gemacht werden, während die Feststellung der zum Nachteil eines Verfahrensbeteiligten sich auswirkenden Gesetzes-(Konventions-)verletzung stets (auch zugunsten des Privatanklägers bzw Antragstellers im vorangegangenen Verfahren) möglich ist, weil durch sie die geschützte Rechtsposition eines anderen Verfahrensbeteiligten - iS etwa eines Verstoßes gegen das Verbot der reformatio in peius - nicht tangiert wird. Diese höchstgerichtliche Feststellung einer Gesetzesverletzung hat im Übrigen Bindungswirkung in einem allfälligen Amtshaftungsverfahren und ist solcherart geeignet, die Opfereigenschaft iSd Art 34 MRK zu beseitigen.