JudikaturJustiz14Os36/23k

14Os36/23k – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Mai 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Mai 2023 durch die Senatspräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger als Vorsitzende, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Mann und Dr. Setz Hummel LL.M., den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Haslwanter LL.M. und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Dr. Sadoghi in Gegenwart des Schriftführers Mag. Lung in der Strafsache gegen * L* und andere Angeklagte wegen der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 18 U 68/18f des Bezirksgerichts Graz West, über die von der Generalprokurator gegen das Unzuständigkeitsurteil dieses Gerichts vom 30. Dezember 2021, GZ 18 U 68/18f-51, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, und des Verteidigers Mag. Sartor zu Recht erkannt:

Spruch

Der (nach Anordnung der Hauptverhandlung) außerhalb einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Urteilsform erfolgte Ausspruch der sachlichen Unzuständigkeit vom 30. Dezember 2021, GZ 18 U 68/18f 51, verletzt § 35 Abs 1 letzter Satz, § 447 iVm § 229 Abs 4, § 268 erster Satz StPO sowie § 13 Abs 1 und Abs 3, § 258 Abs 1 StPO.

Das „Unzuständigkeitsurteil“ wird aufgehoben und die Sache zur Verhandlung und Entscheidung an das Bezirksgericht Graz West verwiesen.

Text

Gründe:

[1] Im Verfahren AZ 18 U 68/18f des Bezirksgerichts Graz West legte die Staatsanwaltschaft Graz – soweit hier von Bedeutung – * L* ein als Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB beurteiltes Verhalten zur Last (ON 4 in ON 8; entnommen zu ON 4 in ON 4 im Akt AZ 25 Hv 6/23f des Landesgerichts für Strafsachen Graz).

[2] Danach habe er am 4. August 2018 in G* * D* vorsätzlich durch Versetzen eines Faustschlags gegen dessen Kopf in Form einer Nasenbeinfraktur ohne Dislokation am Körper verletzt.

[3] In der am 3. Juli 2020 durchgeführten Hauptverhandlung bestellte der Einzelrichter einen medizinischen Sachverständigen (unter anderem) zur Frage, ob es beim Opfer zu einer „Verschiebung der Nasenenden (Dislokation)“ gekommen und ob dies als eine an sich schwere Körperverletzung zu bewerten sei (ON 37 S 11 f). In der Folge wurde die Hauptverhandlung auf unbestimmte Zeit vertagt.

[4] Nach Einlangen des schriftlichen Gutachtens (ON 44; entnommen zu ON 11 im Akt AZ 25 Hv 6/23f des Landesgerichts für Strafsachen Graz) sprach das Bezirksgericht Graz West ohne Anberaumung und Fortsetzung der Hauptverhandlung – solcherart außerhalb einer öffentlichen mündlichen Hauptverhandlung – am 30. Dezember 2021 in Urteilsform aus, dass es in der vorliegenden – weitere einbezogene Strafanträge beinhaltenden – Strafsache „gemäß §§ 447 iVm  261 Abs 1 StPO nunmehr sachlich unzuständig“ sei, weil D* – dem eingeholten Gutachten zufolge – einen „Nasenbeinbruch mit Nasenbluten und Verschiebung der Bruchstücke“, somit eine als an sich schwer einzustufende Verletzung erlitten habe (ON 51).

[5] Die dagegen gerichtete Berufung der Staatsanwaltschaft wies das Landesgericht für Strafsachen Graz als Berufungsgericht mit Beschluss vom 29. November 2022, AZ 1 Bl 54/22b, als unzulässig, weil verfristet, zurück (ON 56).

[6] Einen von der Staatsanwaltschaft gemäß § 447 iVm § 261 Abs 2 StPO neu eingebrachten Strafantrag (ON 21 im Akt AZ 25 Hv 6/23f des Landesgerichts für Strafsachen Graz) wies das Landesgericht für Strafsachen Graz mit Beschluss vom 19. Jänner 2023, GZ 25 Hv 6/23f 22, zurück und stellte das Verfahren ein, da es davon ausging, dass die Frist des § 261 Abs 2 StPO (iVm § 447 StPO) abgelaufen sei.

[7] Über die dagegen gerichtete Beschwerde der Staatsanwaltschaft (ON 23 im Akt AZ 25 Hv 6/23f des Landesgerichts für Strafsachen Graz) hat das Oberlandesgericht Graz, AZ 9 Bs 43/23a, noch nicht entschieden.

Rechtliche Beurteilung

[8] Wie die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes im Ergebnis zutreffend aufzeigt, verletzt der (nach Anordnung der Hauptverhandlung) außerhalb einer öffentlichen mündlichen Verhandlung in Urteilsform erfolgte Ausspruch der sachlichen Unzuständigkeit das Gesetz:

[9] Nach Eintritt der – durch die Anordnung der Hauptverhandlung durch das Bezirksgericht (§ 450 StPO; RIS Justiz RS0132157) zum Ausdruck gebrachten – Rechtswirksamkeit des Strafantrags kommt ein beschlussförmiger Ausspruch der sachlichen Unzuständigkeit (§ 450 erster Satz StPO) nicht mehr in Betracht. In einem solchen Fall ist die sachliche Zuständigkeit eines höherrangigen Spruchkörpers für die vom Strafantrag (§ 451 Abs 1 StPO) erfassten Taten vielmehr mit Unzuständigkeitsurteil (§ 447 iVm § 261 Abs 1 StPO) wahrzunehmen (RIS Justiz RS0132703 [T1]; Bauer , WK-StPO § 450 Rz 1 mwN; Oshidari , WK-StPO § 38 Rz 2 und 11).

[10] Als Sachverhaltsgrundlage eines solchen Unzuständigkeitsurteils dürfen nur in der Hauptverhandlung rechtmäßig vorgekommene Beweismittel herangezogen werden; insofern gelten keine anderen Regeln als im sonstigen Strafprozess (RIS Justiz RS0124014; ebenso Lewisch , WK StPO § 261 Rz 13).

[11] Gemäß § 35 Abs 1 letzter Satz StPO sind Urteile, soweit im Einzelnen nichts anderes bestimmt wird, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu verkünden und auszufertigen. Von diesem Grundsatz ist für den Ausspruch der Unzuständigkeit durch das Bezirksgericht (§ 447 iVm § 261 Abs 1 StPO) keine Ausnahme vorgesehen (vgl Markel , WK StPO § 35 Rz 2 f).

[12] Kommen also im bezirksgerichtlichen Verfahren (erst) zwischen der Anordnung der Hauptverhandlung und deren Beginn oder – wie hier – nach deren Beginn und anschließender Vertagung Umstände hervor, die nahelegen, dass der von der Anklage inkriminierte Sachverhalt als eine in die Zuständigkeit des Landesgerichts fallende strafbare Handlung zu beurteilen wäre, hat das Gericht die Hauptverhandlung durchzuführen (fortzusetzen), in dieser die zur Begründung eines entsprechenden Verdachts (im Sinne eines Anschuldigungsbeweises; vgl RIS Justiz RS0124012) erforderlichen Beweismittel vorzuführen und auf dieser Basis (gegebenenfalls) ein Unzuständigkeitsurteil (durch dessen Verkündung; Danek/Mann , WK StPO § 268 Rz 11) zu fällen.

[13] Das dagegen ohne Fortsetzung der am 3. Juli 2020 vertagten Hauptverhandlung bloß schriftlich abgefasste „Unzuständigkeitsurteil“ widerspricht dem Grundsatz der ausnahmslosen Öffentlichkeit der Urteilsverkündung und verletzt damit auch § 447 iVm § 229 Abs 4, § 268 erster Satz StPO ( Danek/Mann , WK StPO § 229 Rz 8 und § 268 Rz 4 und 6; Ratz , WK StPO § 281 Rz 254).

[14] Indem die Verdachtsannahmen des Vorliegens einer schweren Verletzung dabei maßgeblich auf ein bloß schriftlich vorliegendes und solcherart in der Hauptverhandlung nicht vorgekommenes Sachverständigengutachten gestützt werden, verletzt es zudem den in § 13 Abs 1 und Abs 3 StPO sowie § 258 Abs 1 StPO statuierten Unmittelbarkeitsgrundsatz.

[15] Das „Unzuständigkeitsurteil“ ist – mangels Verkündung (vgl erneut Danek/Mann , WK-StPO § 268 Rz 1, 11) – wirkungslos und war daher zur Klarstellung zu beseitigen (RIS Justiz RS0116267 [T12]; RS0116583; Ratz , WK-StPO § 292 Rz 45).

[16] Darauf beruhende Entscheidungen und Verfügungen (hier: die Beschlüsse des Landesgerichts für Strafsachen Graz [teilweise] als Berufungsgericht, AZ 1 Bl 54/22b, und zu GZ 25 Hv 6/23f 22) sind als beseitigt anzusehen (RIS Justiz RS0100444).

[17] Die gegen den letztgenannten Beschluss gerichtete Beschwerde ist somit gegenstandslos.

Rechtssätze
6
  • RS0132157OGH Rechtssatz

    31. Januar 2024·3 Entscheidungen

    1. Die Verbindung zweier Hauptverfahren gemäß § 37 Abs 3 StPO setzt – auch im Verfahren vor dem Einzelrichter des Landesgerichts oder dem Bezirksgericht – die Rechtswirksamkeit (§ 4 Abs 2 StPO) beider Anklagen voraus. Im Fall des § 37 Abs 3 zweiter Halbsatz iVm Abs 2 zweiter Satz StPO zuständigkeitsbegründend zuvorgekommen ist jenes Gericht, bei dem die Anklage zuerst rechtswirksam wurde. 2. Im einzelrichterlichen Verfahren tritt die Rechtswirksamkeit der Anklage mit dem positiven Abschluss einer amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags ein. Sie findet dort jedoch – anders als im kollegialgerichtlichen Verfahren – keinen beschlussförmigen Ausdruck, sondern zeigt sich erst im darauf folgenden Akt der Einleitung des Hauptverfahrens. 3. Die Einleitung des Hauptverfahrens (§ 4 Abs 2 StPO) geschieht im einzelrichterlichen Verfahren durch die Anordnung der Hauptverhandlung (§ 450 und § 485 Abs 1 Z 4 StPO). Unter dieser Anordnung wird (keineswegs nur das "Ausschreiben" einer Hauptverhandlung, sondern) jedes Verhalten des Gerichts verstanden, das die Bejahung der Prozessvoraussetzungen (den positiven Ausgang der amtswegigen Vorprüfung) unmissverständlich erkennen lässt. Dies trifft auf jede Entscheidung zu, deren Ergebnis keines nach (im landesgerichtlichen Verfahren:) § 485 Abs 1 Z 1 bis Z 3 StPO oder (im bezirksgerichtlichen Verfahren:) § 450 erster Satz StPO (beschlussförmiger Ausspruch sachlicher Unzuständigkeit), § 451 Abs 2 StPO (beschlussförmige Verfahrenseinstellung) oder § 38 StPO (Wahrnehmung eigener Unzuständigkeit nach § 36 Abs 3, Abs 5; § 37 Abs 1, Abs 2 StPO) ist, also jeder contrarius actus dazu. 4. Bei der amtswegigen Vorprüfung des Strafantrags (noch) außer Betracht zu bleiben hat die Anhängigkeit eines im Sinn des § 37 Abs 3 StPO konnexen Hauptverfahrens bei (irgend-)einem Gericht. Vielmehr hat sich die Vorprüfung – isoliert – auf jenes (Haupt-)Verfahren zu beziehen, das durch die Einbringung dieses (einen) Strafantrags begonnen hat.