JudikaturJustiz14Os156/13t

14Os156/13t – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. November 2013

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 5. November 2013 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Buchner als Schriftführerin in der Strafsache gegen Wolfgang B***** und andere Beschuldigte wegen des Verbrechens des schweren gewerbsmäßigen Betrugs nach §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 17 HR 199/12t des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die Grundrechtsbeschwerde des Wolfgang B***** gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz vom 17. September 2013, AZ 10 Bs 264/13v (ON 73), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Wolfgang B***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

In dem zum AZ 26 St 83/11p der Staatsanwaltschaft Graz gegen Wolfgang B***** und andere Beschuldigte geführten Ermittlungsverfahren wies die Haft- und Rechtschutzrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Graz mit Beschluss vom 19. Juli 2013, AZ 17 HR 199/12t (ON 65), den Antrag der Staatsanwaltschaft Graz auf Verhängung der Untersuchungshaft über Wolfgang B***** aus den Haftgründen der Verdunkelungs- und Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 1 und Abs 2 Z 2 und Z 3 lit b StPO (mangels dringenden Tatverdachts hinsichtlich der von der Anklagebehörde §§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB und § 156 Abs 1 und Abs 2 StGB subsumierten Straftaten und des Vorliegens von Haftgründen) ab und ordnete dessen Enthaftung an.

Mit dem angefochtenen Beschluss gab das Oberlandesgericht Graz der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz Folge, hob die bekämpfte Entscheidung auf, ordnete die Festnahme des Genannten wegen Tatbegehungsgefahr gemäß § 170 Abs 1 Z 4 StPO („mit der Befristung bis zum 17. Oktober 2013“) an und verhängte seinerseits die Untersuchungshaft aus dem Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO. Gleichzeitig wurde ausgesprochen, dass dieser Beschluss eine Haftfrist von „zwei Monaten ab Festnahme des Beschuldigten“ auslöse (ON 73).

Das Beschwerdegericht ging dabei vom dringenden Verdacht aus, Wolfgang B***** habe in Graz und anderen Orten

(A) gewerbsmäßig und mit auf unrechtmäßige Bereicherung gerichtetem Vorsatz von April 2009 bis Oktober 2009 als faktischer Geschäftsführer der L***** GmbH (1) und von April 2011 bis Oktober 2012 als leitender Angestellter der I***** GmbH im einverständlichen Zusammenwirken mit Caroline B***** (2) in mehreren Angriffen Berechtigte der Wiener, der Steiermärkischen und der Salzburger Gebietskrankenkasse durch die wahrheitswidrige Vorgabe, die genannten Unternehmen wären Dienstgeber der von ihm zur Anmeldung gebrachten Dienstnehmer, zur Anmeldung von Arbeitnehmern und zur Abstandnahme von einer Geltendmachung und Einhebung der aus den Anmeldungen resultierenden Beiträgen zur Sozialversicherung bei den tatsächlichen Dienstgebern, nämlich der B***** GmbH, der B***** GmbH und der B***** GmbH veranlasst, mithin zu Handlungen und Unterlassungen verleitet, durch die die Gebietskrankenkassen in einem insgesamt 50.000 Euro übersteigenden Betrag von etwa 133.000 Euro am Vermögen geschädigt wurden (§§ 146, 147 Abs 3, 148 erster Fall StGB);

(B) als zur Vertretung befugtes Organ juristischer Personen, welche die Pflicht zur Abführung der Beiträge zur Sozialversicherung an den berechtigten Versicherungsträger trifft, den zuständigen Versicherungsträgern Sozialversicherungsbeiträge in einem 50.000 Euro übersteigenden Ausmaß von insgesamt etwa 268.000 Euro betrügerisch vorenthalten, indem er schon die Anmeldung der bei nachgenannten Gesellschaften beschäftigten Personen mit dem Vorsatz vornahm, keine ausreichenden Beiträge zu leisten, nämlich (1) der Steiermärkischen Gebietskrankenkasse als handelsrechtlicher Geschäftsführer der B*****GmbH (von September 2009 bis März 2011) und der B***** GmbH (von Oktober 2010 bis April 2013) sowie als gewerberechtlicher Geschäftsführer der B***** GmbH im einverständlichen Zusammenwirken mit Caroline B***** (von Jänner 2013 bis Mai 2013) und (2) in einem nicht bekannten Zeitraum der Niederösterreichischen Gebietskrankenkasse als handelsrechtlicher Geschäftsführer der B***** GmbH (§ 153d Abs 1, 2 und 3 StGB).

Rechtliche Beurteilung

Die dagegen gerichtete Grundrechtsbeschwerde, die eine unrichtige Beurteilung des Haftgrundes unter Berücksichtigung dem Beschuldigten nicht bekannter neuer Verfahrensergebnisse, gesetzwidrige Festsetzung einer Haftfrist von zwei Monaten und ungerechtfertigt unterbliebene Anwendung gelinderer Mittel behauptet, ist zulässig (RIS-Justiz RS0116263), aber nicht berechtigt.

Die rechtliche Annahme einer der von § 173 Abs 2 StPO genannten Gefahren wird vom Obersten Gerichtshof im Grundrechtsbeschwerdeverfahren nur dahin überprüft, ob sie aus den in der angefochtenen Entscheidung angeführten bestimmten Tatsachen (vgl § 174 Abs 3 Z 4 StPO; worunter das Gesetz die deutliche Bezeichnung der den Ausspruch über das Vorliegen entscheidender Tatsachen tragenden Gründe versteht) abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (RIS Justiz RS0118185, RS0117806).

Den Haftgrund der Tatbegehungsgefahr nach § 173 Abs 2 Z 3 lit b StPO folgerte das Oberlandesgericht nach diesen Kriterien unbedenklich schwerwiegend aus der nach der Verdachtslage seit 2009 bis in die Gegenwart fortgesetzten gleichartigen Vermögensdelinquenz zum Nachteil von Sozialversicherungsträgern mit einem, die Qualifikationsgrenze des § 147 Abs 3 StGB (weit) übersteigenden Schaden und „wiederauflebenden Forderungen aus dem Konkurs der B***** GmbH in Höhe von 42.476,75 Euro nach Nichterfüllung der Sanierungsquoten (ON 55 S 137) sowie weiterhin aushaftender Sozialversicherungsbeiträge der B***** GmbH“. Darüberhinaus verwies das Beschwerdegericht insoweit unter Berufung auf einen „Zwischenbericht vom 14. August 2013“ auf eine „neue einschlägige Konstruktion … (S***** GmbH und So***** GmbH)“ nach Insolvenz des letztgenannten Unternehmens sowie auf die Fortsetzung der Tätigkeit auch im Rahmen der B***** GmbH während des laufenden Strafverfahrens (BS 15 f).

Dem setzt der Beschwerdeführer keine substantiellen Argumente entgegen, indem er einerseits bloß auf einen Teil der zitierten Begründungserwägungen Bezug nimmt und diesen andererseits bloß gegenteilige Behauptungen entgegensetzt, und zeigt solcherart keine Willkür der bekämpften Prognoseentscheidung auf.

Mit der in diesem Zusammenhang geäußerten Kritik an der Verwertung des, dem Beschuldigten nicht bekannten Folgeberichts der Landespolizeidirektion Steiermark vom 14. August 2013 (ON 70) wendet sich die Grundrechtsbeschwerde gegen eine Verletzung des auch im Haftbeschwerdeverfahren zu gewährenden (Art 5 Abs 2 und 4 EMRK; § 6 Abs 2 StPO; vgl dazu RIS-Justiz RS0120050 [T3]) rechtlichen Gehörs. Sie übersieht jedoch, dass die im angesprochenen Bericht enthaltenen Ermittlungsergebnisse, auf die sich das Oberlandesgericht argumentativ bezog, bereits davor Bestandteil des Aktes waren und dem Beschuldigten dazu auch bereits Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt worden war. Während nämlich die am 18. Juli 2013 zum Akt übermittelte (ON 63 ident mit ON 70 S 17 ff) Aussage des Zeugen Alexander So***** vom 16. Juli 2013 zu den Vorgängen um die B***** GmbH dem Beschwerdeführer bereits anlässlich seiner gerichtlichen Vernehmung vom 19. Juli 2013 vorgehalten wurde (ON 64 S 11), war das Insolvenzverfahren betreffend die B***** GmbH ebenso Gegenstand dieser Befragung (ON 64 S 8 f), bei der Wolfgang B***** auch selbst einräumte, dass die B***** GmbH, deren gewerberechtlicher Geschäftsführer er zu diesem Zeitpunkt war, weiterhin operativ tätig ist. Der weiters vom Beschwerdegericht angesprochene Umstand, dass die B***** GmbH zwischenzeitig als S***** GmbH weitergeführt wird, ergab sich hinwieder schon aus dem Firmenbuchauszug vom 31. Juli 2013 (ON 67). Zudem wurde dem Beschuldigten die ausdrücklich darauf bezogene Ausführungen enthaltende (ON 68 S 10) Beschwerde der Staatsanwaltschaft Graz gegen den Beschluss der Haft- und Rechtschutzrichterin des Landesgerichts für Strafsachen Graz vom 19. Juli 2013, AZ 17 HR 199/12t, zur Äußerung zugestellt, wie die Grundrechtsbeschwerde selbst einräumt.

Da das Oberlandesgericht schließlich auf die (damit einzig) neu hervorgekommenen Verdachtsmomente in Zusammenhang mit der (in Gründung befindlichen) So***** GmbH gar nicht konkret Bezug nahm und insoweit nicht von einer (auch im Bericht nicht angesprochenen) aktuellen Involvierung des Beschuldigten in dieses Unternehmen ausging, jenes vielmehr bloß ersichtlich illustrativ in einem Klammerausdruck erwähnte (BS 16), führt die gedankliche Streichung des in Rede stehenden Ermittlungsergebnisses nicht zum Entfall der Überzeugung des Beschwerdegerichts vom Vorliegen dieser Haftvoraussetzung (vgl dazu Ratz , WK-StPO § 281 Rz 458).

Mit dem Einwand, das Oberlandesgericht hätte sich „zumindest mit der Frage, auf welche Art und Weise gelindere Mittel denkbar sein könnten“, „beispielsweise hätte der Beschuldigte … unter der Auflage enthaftet werden können, sich von jeglicher Einflussnahme auf die B***** GmbH fernzuhalten, seine Gewerbeberechtigung niederzulegen und nachweislich einer anderen Beschäftigung nachzugehen“, zeigt die Beschwerde nicht auf, worin dem Beschwerdegericht, das seine Einschätzung, wonach gelindere Mittel im gegebenen Fall zur Erreichung der Haftzwecke „aktuell nicht denkbar“ seien, deutlich genug auf die vorstehenden Überlegungen zum dringenden Tatverdacht und zum Haftgrund der Tatbegehungsgefahr gründete (BS 16), ein Beurteilungsfehler unterlaufen wäre (vgl RIS-Justiz RS0116422).

Die Kritik an der in der angefochtenen Entscheidung verfehlt (vgl §§ 175 Abs 2, 174 Abs 4 StPO) angeführten Haftfrist von „zwei Monaten ab Festnahme des Beschuldigten“ geht ins Leere, weil der Mitteilung des Ablauftags im Haftbeschluss nur deklarative Bedeutung zukommt (RIS-Justiz RS0097630, RS0109708; Kirchbacher/Rami , WK-StPO § 174 Rz 21).

Im Übrigen wurde die Haftverhandlung ohnehin am 9. Oktober 2013, somit innerhalb von 14 Tagen ab Festnahme (am 25. September 2013; ON 75), durchgeführt (ON 82).

Die Grundrechtsbeschwerde war demnach in Übereinstimmung mit der Stellungnahme der Generalprokuratur ohne Kostenzuspruch (§ 8 GRBG) abzuweisen.

Rechtssätze
7
  • RS0120050OGH, AUSL EGMR Rechtssatz

    22. Mai 2020·3 Entscheidungen

    Der für die Einschränkung der persönlichen Freiheit aus grundrechtlicher Sicht maßgebliche Art 5 Abs 2 MRK (vgl auch Art 4 Abs 3 PersFrSchG) sieht ein Informationsrecht des Verhafteten innerhalb kurzer Zeit nach Festnahme vor. Dieses Informationsrecht erstreckt sich auch auf eine richterliche Prüfung der Fortdauer der Haft im Sinn des Art 5 Abs 4 MRK beziehungsweise Art 6 PersFrSchG als Ausfluss des in diesem Verfahren zu gewährenden rechtlichen Gehörs. Erachtet das Gericht, dass sich die Haftgründe ändern, so ist dies dem Festgenommenen mitzuteilen, damit er seine Verteidigung auf die neue Sachlage einstellen kann. Dies entspricht im Wesentlichen der (insoweit aus Art 6 Abs 1 MRK abgeleiteten) Pflicht des erkennenden Gerichts, dem Angeklagten eine im Vergleich zur von der Staatsanwaltschaft in der Anklage eingenommenen rechtlichen Position in Erwägung gezogene andere rechtliche Beurteilung des angeklagten Sachverhalts im Verfahren offen zu legen (§ 262 StPO), um mit Blick auf die Fairness des Verfahrens der Verteidigung entsprechende Reaktionen darauf zu ermöglichen. § 180 Abs 1 StPO legt daher in Umsetzung dieser grundrechtlichen Vorgaben fest, dass der Beschuldigte vor der Beschlussfassung zu den Voraussetzungen der Untersuchungshaft und damit auch über die in Aussicht genommenen beziehungsweise von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Haftgründe zu befragen ist. Ungeachtet des Umstands, dass Art 5 MRK eine Überprüfung der Haftentscheidung durch eine Rechtsmittelinstanz nicht vorschreibt, sind die im Art 5 Abs 4 MRK vorgegebenen Grundsätze auch im Beschwerdeverfahren zu beachten, wenn - wie in Österreich - ein Instanzenzug vorgesehen ist. Dies auch, wenn das Beschwerdegericht lediglich eine Variante des Haftgrundes der Tatbegehungsgefahr durch eine andere zu ersetzen beabsichtigt.