JudikaturJustiz11Os80/23h

11Os80/23h – OGH Entscheidung

Entscheidung
29. August 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 29. August 2023 durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs Mag. Marek als Vorsitzende sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Bachner-Foregger und Mag. Fürnkranz und die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Oberressl und Mag. Riffel in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Mair als Schriftführerin in der Maßnahmenvollzugssache des * U* wegen bedingter Entlassung aus einer strafrechtlichen Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB, AZ 15 BE 72/23w des Landesgerichts St. Pölten, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss dieses Gerichts vom 24. April 2023 (ON 45) erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Dr. Geymayer, des Betroffenen und seines Erwachsenenvertreters Dkfm. Mag. Wernig zu Recht erkannt:

Spruch

In der Maßnahmenvollzugssache AZ 15 BE 72/23w des Landesgerichts St. Pölten verletzt der Beschluss dieses Gerichts vom 24. April 2023 Art 6 Abs 2 erster Satz MVAG 2022 und § 47 Abs 2 iVm § 21 Abs 1 StGB.

Dieser Beschluss wird aufgehoben und es wird dem Landesgericht St. Pölten als Vollzugsgericht die neuerliche Entscheidung aufgetragen.

Text

Gründe:

[1] Mit rechtskräftigem Urteil des Landegerichts für Strafsachen Wien vom 23. Jänner 2018, AZ 21 Hv 63/17m, wurde * U* nach § 21 Abs 1 StGB idF vor BGBl I 2022/223 in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, weil er in W* unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (§ 11 StGB), der auf einer geistigen oder seelischen Abartigkeit von höherem Grad, und zwar einer paranoiden Schizophrenie und einer schweren kombinierten Persönlichkeitsstörung, beruhte, im Urteilstenor näher bezeichnete Taten begangen hatte, die jeweils mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht waren und die ihm, wäre er zu den Tatzeiten zurechnungsfähig gewesen, als Verbrechen der schweren Nötigung nach §§ 15 , 105 Abs 1, 106 Abs 1 Z 1 (erster Fall) StGB (I) sowie jeweils ein Vergehen des Widerstands gegen die Staatsgewalt nach §§ 15, 269 Abs 1 dritter Fall StGB (II a), der schweren Körperverletzung nach §§ 83 Abs 1, 84 Abs 2 StGB (II b) und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 und Abs 2 (erster Fall) StGB (II c) zuzurechnen gewesen wären.

[2] Mit dem eingangs bezeichneten, nach Inkrafttreten der Änderungen des StGB durch das MVAG 2022 am 1. März 2023 (Art 6 Abs 1 iVm Art 1 BGBl I 2022/223) gefassten Beschluss vom 24. April 2023 (ON 45) sprach das Vollzugsgericht aus, dass die strafrechtliche Unterbringung des Betroffenen (richtig nunmehr) in einem forensisch-therapeutischen Zentrum nach § 21 Abs 1 StGB weiterhin notwendig sei und wies gleichzeitig einen Antrag des Betroffenen auf bedingte Entlassung nach § 47 Abs 2 StGB (ON 39 S 7) ab.

Rechtliche Beurteilung

[3] Eine dagegen gerichtete Beschwerde des Betroffenen wies das Oberlandesgericht Wien mit Beschluss vom 7. Juni 2023, AZ 18 Bs 139/23g, (mit Blick auf einen zuvor erklärten Rechtsmittelverzicht des Betroffenen) als unzulässig zurück.

[4] Mit Recht zeigt die Generalprokuratur in ihrer Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes auf, dass der Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Vollzugsgericht mit dem Gesetz nicht im Einklang steht:

[5] Ein Beschluss, mit dem die bedingte Entlassung aus der strafrechtlichen Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB abgelehnt wird, muss (zudem begründete; zum Begründungsmaßstab vgl § 89 Abs 2a Z 3 dritter Fall [§ 281 Abs 1 Z 5 und Z 5a] StPO; RIS-Justiz RS0132725) Annahmen mit Sachverhaltsbezug enthalten, die den rechtlichen Schluss zulassen, dass „die Gefährlichkeit, gegen die sich die Maßnahme richtet“ (§ 47 Abs 2 StGB; als normative Kategorie – zum Begriff vgl Ratz in WK² StGB § 47 Rz 6 ff), weiterhin besteht (§ 86 Abs 1 erster und vierter Satz StPO; RIS-Justiz RS0126648; 13 Os 109/22m, 13/23w [Rz 9 f]; Ratz , Verfahrensführung und Rechtsschutz nach der StPO 2 Rz 171 und FN 562; Ratz , WK-StPO § 292 Rz 17).

[6] Zusätzlich zur Verwirklichung (zumindest) einer auch nach aktuellem Recht unterbringungstauglichen Anlasstat – zur Anwendbarkeit der geänderten Unterbringungsvoraussetzungen nach Inkrafttreten des MVAG 2022 auch auf die über Antrag (§ 167 Abs 1 erster Satz iVm § 152 Abs 1 erster Satz StVG) oder nach § 25 Abs 3 StGB stattfindende Überprüfung nach altem Recht angeordneter Unterbringungen siehe Art 6 Abs 2 erster Satz MVAG 2022 (vgl EBRV 1789 BlgNR 27. GP 31) – muss ein solcher Beschluss also Konstatierungen enthalten

(a) zum weiteren Vorliegen der für die Anlasstat(en) kausalen (richtig nunmehr) schwerwiegenden und nachhaltigen psychischen Störung,

(b) zur hohen Wahrscheinlichkeit einer unter dem maßgeblichen Einfluss dieser Störung zu befürchtenden unterbringungstauglichen Prognosetat mit schweren Folgen (wozu [zufolge gesetzlicher Klarstellung mit dem MVAG 2022] nach § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB auch mit mehr als zwei Jahren Freiheitsstrafe bedrohte Handlungen gegen Leib und Leben oder mit mehr als einjähriger Freiheitsstrafe bedrohte Handlungen gegen die sexuelle Integrität und Selbstbestimmung zählen; EBRV 1789 BlgNR 27. GP 11; Stempkowski , ÖJZ 2023/67, 409 [411]),

(c) zur zeitlichen Komponente dieser Befürchtung (§ 21 Abs 1 StGB: „in absehbarer Zukunft“; EBRV 1789 BlgNR 27. GP 9) und

(d) zur Unmöglichkeit, eine aus diesen Komponenten bestehende Gefährlichkeit außerhalb des forensisch-therapeutischen Zentrums hintanzuhalten (vgl Ratz in WK² StGB § 47 Rz 7, 10, 14; Birklbauer , SbgK § 47 Rz 56 f; Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB 4 § 47 Rz 2; Eder-Rieder/Mitterauer , ÖJZ 2008/7, 50 [51]).

[7] Eine Prognosetat muss sachverhaltsmäßig so beschrieben werden, dass ihre Beurteilung als strafbedrohte Handlung (iSv Subsumierbarkeit – vgl RIS-Justiz RS0120218) und als folgenschwer (iSv Bewertbarkeit der inner- und außertatbestandlichen Folgen aus einer zu befürchtenden [Einzel-]Tat als Auswirkung mit hohem sozialem Störwert, gegebenenfalls auch als strafbedrohte Handlung iSd § 21 Abs 3 zweiter Satz StGB) möglich ist (vgl RIS-Justiz RS0118581 [insbesondere T3 und T10]; Ratz in WK² StGB § 21 Rz 26 f). Eine – wie hier – (der Sache nach bloß) schlichte Wiedergabe des Gesetzestextes ohne Sachverhaltsbezug, wonach davon auszugehen sei, dass der Betroffene „unter dem Eindruck der Geisteskrankheit weiterhin [nicht umschriebene] Taten mit schweren Folgen begehen werde“ (BS 4 iVm BS 7) und dass „die Annahme, dass die Gefährlichkeit, gegen die sich [die] vorbeugende Maßnahme richtet, nicht mehr besteht, immer noch verfrüht“ sei (BS 8), genügt dafür nicht (RIS-Justiz RS0089988 [T6]).

[8] Der angefochtene Beschluss, der primär das Sachverständigengutachten ON 36 (im Konjunktiv – BS 3 ff) und die „Einschätzung der Gefährlichkeit“ aus der Stellungnahme des forensisch-therapeutischen Zentrums (ON 42 S 3 verso; BS 6 f) referiert und sodann dieses Referat zu „seinen eigenen Feststellungen“ erklärt (BS 7), lässt nicht (und zwar auch nicht durch deutlichen identifizierenden Verweis etwa auf eine oder mehrere auch als Prognosetat in Betracht kommende Anlasstaten; vgl 12 Os 134/14v) erkennen, von welcher oder welchen Prognosetat(en) – zumindest der Art nach – ausgegangen wurde (vgl RIS Justiz RS0133376; Ratz , WK-StPO § 281 Rz 570). Die rechtliche Beurteilung, ob sich die Befürchtung auf hoch wahrscheinliche Begehung einer (auch in Relation zu den Anlasstaten) unterbringungstauglichen Prognosetat iSd § 21 Abs 1 und Abs 3 zweiter Satz StGB bezieht, lässt der Beschluss somit nicht zu.

[9] Ebenso wenig sind dem Beschluss Sachverhaltsannahmen zur zeitlichen Komponente der befürchteten Begehung einer Prognosetat „in absehbarer Zukunft“ zu entnehmen (vgl EBRV 1789 BlgNR 27. GP 9).

[10] Da dem Beschluss Annahmen mit Sachverhaltsbezug in Ansehung der Kriterien „unterbringungstaugliche Prognosetat“ (b) und „Befürchtung hoch wahrscheinlicher Begehung einer solchen Prognosetat in absehbarer Zukunft“ (c) fehlen, ist der gezogene rechtliche Schluss auf Ablehnung der bedingten Entlassung nach § 47 Abs 2 StGB und Fortsetzung der strafrechtlichen Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB idF MVAG 2022 auf Basis der (insoweit unvollständigen) Konstatierungen fehlerhaft. Der Beschluss verletzt somit Art 6 Abs 2 erster Satz MVAG 2022 und § 47 Abs 2 iVm § 21 Abs 1 StGB.

[11] Der Oberste Gerichtshof sah sich veranlasst, die Feststellung dieser Gesetzesverletzung wie im Spruch ersichtlich mit konkreter Wirkung zu verbinden (§ 292 letzter Satz StPO). Von der Aufhebung rechtslogisch abhängige Entscheidungen und Verfügungen gelten gleichfalls als beseitigt (vgl RIS-Justiz RS0100444).

Rechtssätze
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