JudikaturJustiz11Os66/04

11Os66/04 – OGH Entscheidung

Entscheidung
15. Juli 2004

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 15. Juli 2004 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Mayrhofer als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Danek und Dr. Schwab als weitere Richter, in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Finster als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Herbert H***** wegen der Verbrechens des versuchten Mordes nach §§ 15, 75 StGB, AZ 39 Ur 31/04k des Landesgerichts Linz, über die Grundrechtsbeschwerden des genannten Beschuldigten gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichts Linz als Beschwerdegericht vom 13. Mai 2004, AZ 8 Bs 143/04 (GZ 39 Ur 31/04k-26 des Landesgerichtes Linz), sowie vom 17. Mai 2004, AZ 8 Bs 154/04 (GZ 39 Ur 31/04k-29 des Landesgerichtes Linz), nach Anhörung der Generalprokuratur in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Herbert H***** wurde im Grundrecht auf persönliche Freiheit nicht verletzt.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

Text

Gründe:

Gegen Herbert H***** wird beim Landesgericht Linz Voruntersuchung wegen des Verdachtes des versuchten Mordes geführt. Der Genannte soll am 24. April 2002 versucht haben, seine geschiedene Gattin Gertrude H***** dadurch zu töten, dass er mehrmals mit einem Messer mit einer Klingenlänge von etwa 30 cm gegen deren Hals und Brustbereich einstach, wodurch neben weiteren Schnittverletzungen deren rechter Lungenflügel durchstochen worden sei.

Über Antrag der Staatsanwaltschaft Linz wurde mit Beschluss vom 26. April 2004 die Untersuchungshaft nach § 180 Abs 7 StPO verhängt (ON 10), ohne dass der Beschuldigte, der sich nach einem anlässlich seiner Verhaftung verübten Selbstmordversuch in künstlichem Tiefschlaf befand, zuvor hätte vernommen werden können. Anlässlich der - in Gegenwart des Beschuldigten - durchgeführten Haftverhandlung vom 10. Mai 2004 ordnete die Untersuchungsrichterin die Fortsetzung der bedingt obligatorischen Untersuchungshaft an (ON 19). Den gegen diese Beschlüsse gerichteten Beschwerden (ON 17, 23) wurde vom Oberlandesgericht Linz am 13. Mai und 17. Mai 2004 nicht Folge gegeben (ON 26, 29).

In seiner gegen die Abweisung seiner Beschwerden gerichteten Grundrechtsbeschwerde behauptet der Angeklagte, schon dadurch in seinem Grundrecht auf persönliche Freiheit verletzt worden zu sein, dass die Untersuchungsrichterin die Haft entgegen der Bestimmung des § 180 Abs 1 StPO ohne seine vorangehende Vernehmung verhängt habe. Mit dem weiteren gegen die Annahme der Voraussetzungen des § 180 Abs 7 StPO gerichteten Vorbringen weist der Beschwerdeführer darauf hin, dass zum Zeitpunkt der jeweiligen Beschlussfassung auf Grund seines Gesundheitszustandes sowohl vor als auch nach seinem Erwachen aus dem künstlichen Tiefschlaf am 29. April 2004 auszuschließen gewesen sei, er werde flüchten oder neuerlich eine Tat mit schweren Folgen begehen.

Rechtliche Beurteilung

Mit keinem dieser Argumente ist er im Recht.

Die von der Grundrechtsbeschwerde und der Äußerung des Verteidigers zur Stellungnahme der Generalprokuratur im Ergebnis vertretene These, die Verhängung der Untersuchungshaft über einen Beschuldigten sei dann, wenn dieser vernehmungsunfähig sei, überhaupt nicht zulässig (woraus folgte, dass der Beschuldigte innerhalb von 48 Stunden ab Einlieferung jedenfalls wieder zu enthaften sei), orientiert sich nicht am Gesetz.

§ 179a Abs 1 StPO normiert, dass die Festnahme und Verhängung der Untersuchungshaft auch bei solchen Beschuldigten möglich ist, die erkrankt oder verletzt sind oder aus anderen Gründen in Lebensgefahr schweben. Der Gesetzgeber hat für diesen Fall zwar ausdrücklich vorgesehen, dass der (räumlich entfernte) zuständige Untersuchungsrichter den in einer Krankenanstalt befindlichen Beschuldigten unter Verwendung technischer Einrichtungen zur Wort- und Bildübertragung vernehmen kann, es jedoch verabsäumt, für den – bei einer Erkrankung oder lebensgefährlichen Verletzung nicht bloß außergewöhnlichen, sondern vielmehr geradezu typischen – Fall, dass eine Vernehmung aus den genannten in der Person des Beschuldigten liegenden Gründen faktisch nicht möglich ist, eine ausdrückliche Regelung zu schaffen. Diese planwidrige Lücke ist – wie der Gerichtshof zweiter Instanz zutreffend erkannt hat – durch Gesetzesanalogie zu schließen.

In zwei Fällen hat der Gesetzgeber Sonderbestimmungen geschaffen, die (auch) für das gerichtliche Vorverfahren gelten, denen zufolge bei Verhandlungsunfähigkeit ein Entfall der sonst dem Beschuldigten oder Betroffenen eingeräumten Rechte ohne Einschränkung der betreffenden Amtshandlung stattzufinden hat:

Nach § 182 Abs 2 StPO ist von der Vorführung des in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten zu einer Haftverhandlung (und daher auch von seiner sonst gesetzlich vorgeschriebenen Anhörung bei derselben) Abstand zu nehmen, wenn dies wegen Erkrankung nicht möglich ist. Gemäß § 429 Abs 2 Z 5 StPO ist im Verfahren zur Unterbringung in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtbrecher nach § 21 Abs 1 StGB von Vernehmungen des Betroffenen abzusehen, soweit sie wegen seines Zustands nicht oder nur unter erheblicher Gefährdung seiner Gesundheit möglich sind. Dies gilt auch für die – in sinngemäßer Anwendung des § 180 Abs 1 StPO vorzunehmende – Anordnung der vorläufigen Anhaltung nach § 429 Abs 4 StPO.

Analog diesen Bestimmungen ist § 180 Abs 1 StPO infolge dementsprechend vorzunehmender Lückenfüllung des § 179a Abs 1 StPO (zur Zulässigkeit strafprozessualer Analogie zum Nachteil des Beschuldigten s Markel, WK-StPO § 1 Rz 35) dahin zu verstehen, dass die Vernehmung des Beschuldigten nur dann unabdingbare Voraussetzung für die Verhängung der Untersuchungshaft ist, wenn sie nicht wegen des Gesundheitszustands des zu Vernehmenden (innerhalb der zur Verfügung stehenden 48-Stunden ab seiner Einlieferung) faktisch unmöglich ist. Dem - in § 180 Abs 1 realisierten - verfassungsrechtlichen Gebot des Art 4 Abs 3 PersFrG zur Vernehmung ohne Verzug wird durch eine Vernehmung des Festgenommenen zum ehest möglichen Zeitpunkt nach Wiedereintritt seiner Vernehmungsfähigkeit Rechnung getragen.

Eine Missachtung der Bestimmung des § 180 Abs 1 StPO liegt daher im gegenständlichen Fall nicht vor, wobei sich eine Erörterung erübrigt, ob eine (im konkreten Fall nicht gegebene) ungerechtfertigte gänzliche Unterlassung der Vernehmung eine Grundrechtsverletzung darstellen würde (vgl dazu Mayrhofer/Steininger GRBG § 2 Rz 101; Hager/Holzweber GRBG § 2 E 58).

Mit dem auf das Sachverständigengutachten Dris. Johann H***** (S 201) gestützten Einwand, der Beschuldigte sei auch zum Zeitpunkt der Haftverhandlung vom 10. Mai 2004 nicht vernehmungsfähig gewesen, wird eine Grundrechtsverletzung nicht dargetan, weil eine Vernehmung des Beschuldigten in der Haftverhandlung nicht Voraussetzung für die Entscheidung in derselben ist (vgl wiederum § 182 Abs 2 StPO). Im Übrigen vernachlässigt die Beschwerde, dass der Beschuldigte in der Haftverhandlung tatsächlich (kurz) vernommen wurde, und dass die Expertise vom 3. Mai 2004 von der Wiedererlangung der Vernehmungsfähigkeit "innerhalb weniger Tage" nach der "in den nächsten Tagen" geplanten Transferierung in die Landes-Nervenklinik ausging.

Die rechtliche Annahme, es sei nicht auszuschließen, dass der Beschuldigte auf freiem Fuße ungeachtet des gegen ihn geführten Strafverfahrens flüchten oder sich verborgen halten oder eine strafbare Handlung mit schweren Folgen begehen werde, die gegen dasselbe Rechtsgut gerichtet ist, wie die ihm angelastete strafbare Handlung, oder die ihm angelastete versuchte Tat ausführen werde (§ 180 Abs 7 StPO), wird vom Obersten Gerichtshof im Rahmen des Grundrechtsbeschwerdeverfahrens nur dahin überprüft, ob sie aus den angeführten bestimmten Tatsachen abgeleitet werden durfte, ohne dass die darin liegende Ermessensentscheidung als willkürlich angesehen werden müsste (14 Os 82/03, 14 Os 138/03, 11 Os 146/03, 11 Os 2/04). Von einer offenbar unzureichend begründeten Prognose kann jedoch angesichts der vom Oberlandesgericht ins Treffen geführten Umstände (Flucht nach der Tat; schwer gestörtes Verhältnis zum Opfer) nicht die Rede sein.

Soweit sich die Grundrechtsbeschwerde gegen die über den Beschluss der Untersuchungsrichterin auf Verhängung der Untersuchungshaft absprechende Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichtes wendet, ist ihr ergänzend zu erwidern:

Wohl hatte die Beurteilung, ob das Vorliegen der in § 180 Abs 2 StPO angeführten Haftgründe auszuschließen ist, auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung auf Verhängung der Untersuchungshaft abzustellen. Dass die in § 180 Abs 2 StPO genannte - zum Entscheidungszeitpunkt gegebene - Gefahr auch unmittelbar realisiert werden konnte, war jedoch - der Beschwerde zuwider - nach dem Sinn der Bestimmung nicht erforderlich. Unter Berücksichtigung der bevorstehenden Reaktivierung der Willens- und Handlungsfreiheit des Beschuldigten entsprach die Prognose nicht auszuschließender Flucht, Tatwiederholung oder Tatausführung den rechtlichen Voraussetzungen.

Eine Grundrechtsverletzung liegt daher nicht vor, weshalb die Grundrechtsbeschwerde ohne Kostenausspruch (§ 8 GRGB) abzuweisen war.

Rechtssätze
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