JudikaturJustiz10ObS102/23g

10ObS102/23g – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. September 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofräte Mag. Ziegelbauer und Dr. Annerl als weitere Richter (Senat gemäß § 11a Abs 3 ASGG) in der Sozialrechtssache der klagenden Partei P*, vertreten durch die Ganzert Partner Rechtsanwälte OG in Wels, gegen die beklagte Partei Pensionsversicherungsanstalt, 1021 Wien, Friedrich Hillegeist Straße 1, wegen Pflegegeld, über den Revisionsrekurs der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 26. Juli 2023, GZ 12 Rs 51/23s 18, womit die Änderung des Klagebegehrens zurückgewiesen und das Urteil des Landesgerichts Wels als Arbeits und Sozialgericht vom 17. März 2023, GZ 17 Cgs 310/22z 13, teilweise als nichtig aufgehoben wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben. Dem Berufungsgericht wird die Entscheidung über die Berufung der beklagten Partei aufgetragen.

Die Kosten des Revisionsrekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

[1] Mit Bescheid vom 14. Oktober 2022 entzog die beklagte Pensionsversicherungsanstalt dem 2010 geborenen Kläger das seit 1. Februar 2017 gewährte Pflegegeld der Stufe 1 mit Ende November 2022.

[2] Der Kläger begehrte die Weitergewährung von Pflegegeld „zumindest“ der Stufe 1 über den 30. November 2022 hinaus. Nach Vorliegen des Sachverständigengutachtens beantragte der Kläger mit Schriftsatz vom 2. Februar 2023 (ON 6) die Gewährung eines höheren Pflegegeldes und dehnte das Klagebegehren in der Tagsatzung am 17. März 2023 (ON 11) auf Gewährung von Pflegegeld der Stufe 3 ab 1. März 2023 aus und brachte dazu vor, dass ihm unter Berücksichtigung eines Erschwerniszuschlags Pflegegeld der Stufe 3 zustehe.

[3] Das Erstgericht verpflichtete die Beklagte zur Zahlung von Pflegegeld der Stufe 1 „im gesetzlichen Ausmaß“ über den 30. November 2022 hinaus bis zum 28. Februar 2023 und von Pflegegeld der Stufe 3 „im gesetzlichen Ausmaß“ ab 1. März 2023. Zusätzlich zum Pflegebedarf von 70 Stunden monatlich berücksichtigte es ab dem (vom Kläger im Verfahren gestellten) neuerlichen Antrag einen Erschwerniszuschlag gemäß § 4 Abs 3 BPGG von 75 Stunden monatlich, woraus es einen Pflegebedarf von 145 Stunden monatlich ableitete. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte es außerdem aus, dass der Antrag im konkreten Fall im Verfahren gestellt werden habe können, ohne dass ein Bescheid abzuwarten gewesen wäre, weil ein Gerichtsverfahren anhängig sei.

[4] Aus Anlass der Berufung der Beklagten (erkennbar unter Anwendung des § 462 Abs 2 ZPO, sohin funktional als Rekursgericht) wies das Berufungsgericht die Änderung des Klagebegehrens dahin, die Beklagte sei schuldig, dem Kläger ab 1. März 2023 ein die Stufe 1 übersteigendes Pflegegeld – nämlich ein solches der Stufe 3 – zu zahlen, zurück; gleichzeitig hob es das angefochtene Urteil im Umfang der Anfechtung bezüglich des geänderten Klagebegehrens und das diesem vorangegangene Verfahren als nichtig auf und verwies die Beklagte mit ihrer Berufung auf diese Entscheidung. Über die Weitergewährung eines Pflegegeldes einer höheren Stufe habe die Beklagte bislang nicht abgesprochen, sodass insofern der Rechtsweg nicht zulässig sei. In diesem Umfang sei die Änderung des Klagebegehrens unzulässig und die Entscheidung des Erstgerichts und das diesem vorangegangene Verfahren gemäß § 477 Abs 1 Z 6 ZPO nichtig. Es sprach (in der Entscheidungsbegründung) überdies aus, dass der „Rekurs“ gemäß § 519 Abs 1 Z 1 ZPO ungeachtet des Vorliegens erheblicher Rechtsfragen zulässig sei.

[5] Dagegen richtet sich das als Rekurs bezeichnete, als Revisionsrekurs zu wertende Rechtsmittel des Klägers, mit dem er die Wiederherstellung des Ersturteils anstrebt; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[6] Die Beklagte hat sich am Rechtsmittelverfahren nicht beteiligt.

Rechtliche Beurteilung

[7] Der Revisionsrekurs ist zulässig und im Sinn des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags berechtigt.

[8] 1.1. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass gegen seine Entscheidung der Vollrekurs zulässig sei, weil die prozessual begründete Verweigerung einer Klageänderung nach der Rechtsprechung einer Teilzurückweisung der Klage aus formellen Gründen gleichzuhalten sei. Die vom Berufungsgericht zitierte Rechtsprechung betrifft allerdings nur den Fall, dass eine im Berufungsverfahren erstmals vorgetragene Klageänderung verweigert wird (RS0043869 [T7]). Dieser Fall liegt hier nicht vor, weil die Klageänderung bereits im Verfahren erster Instanz erfolgte.

[9] 1.2. Die Prüfung der Zulässigkeit einer vom Erstgericht, wenn auch ohne formellen Beschluss, sondern durch Sachentscheidung über das geänderte Begehren implizit zugelassenen Klageänderung erfolgt demgegenüber nicht im Rahmen des Berufungsverfahrens; die zweite Instanz wird insoweit vielmehr als Rekursgericht tätig (RS0102058; Musger in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 519 ZPO Rz 52, vgl auch Rz 15). Das gegen diese Entscheidung erhobene Rechtsmittel ist als Revisionsrekurs zu werten, dessen Zulässigkeit nach § 528 ZPO zu beurteilen ist (RS0039253; RS0102058 [T5]; Musger in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 519 ZPO Rz 65).

[10] 1.3. Die in der Literatur vertretene Ansicht, nach der das Rechtsmittel in analoger Anwendung des § 519 Abs 1 Z 1 ZPO unabhängig von den Voraussetzungen des § 528 ZPO als zulässig anzusehen sei, weil mit der abändernden Entscheidung des erstinstanzlichen Beschlusses eine Aufhebung des Urteils und damit die Vernichtung von Verfahrensaufwand in Bezug auf das von der ersten Instanz beurteilte Begehren verbunden sei ( Musger in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 519 ZPO Rz 52, 66), bedarf hier keiner Erörterung, weil sich die Zulässigkeit des vorliegenden Rechtsmittels schon unter Anwendung des § 528 ZPO ergibt:

[11] 1.3.1. Im Rechtsmittel macht der Kläger zutreffend geltend, dass das Berufungsgericht bei der Prüfung der Zulässigkeit der Klageänderung von der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs abwich (siehe ErwGr 2. ff), sodass eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 528 Abs 1 ZPO zu lösen ist.

[12] 1.3.2. Die Beschränkungen des § 528 Abs 2 Z 1 ZPO kommen in der vorliegenden Sozialrechtssache nicht zum Tragen (§ 528 Abs 2 Z 1 iVm § 502 Abs 5 Z 4 ZPO), das Berufungsgericht hat den erstgerichtlichen Beschluss gerade nicht im Sinn des § 528 Abs 2 Z 2 ZPO bestätigt und die Entscheidung betrifft auch keinen in § 528 Abs 2 Z 3 bis 4 ZPO genannten Gegenstand.

[13] 1.4. Der (als solcher zu wertende) Revisionsrekurs gegen die (funktional als Rekursgericht getroffene) Entscheidung des Berufungsgerichts ist daher im vorliegenden Fall unabhängig davon zulässig, ob man die Zulässigkeit nach § 528 ZPO oder nach § 519 Abs 1 Z 1 ZPO analog beurteilt. Das Berufungsgericht hat überdies – wenn auch in der Begründung der Entscheidung und mit Verweis auf eine nicht einschlägige Rechtsprechung – ausgesprochen, dass ein Rechtsmittel gegen seine Entscheidung zulässig ist, sodass sich ein Verbesserungsauftrag (Nachholung eines Ausspruchs über die Zulassung des Revisionsrekurses) und ein Vorgehen iSd § 508a Abs 2 iVm § 528 Abs 3 ZPO erübrigen.

[14] 2. Der Kläger macht – soweit für die Behandlung des Rechtsmittels relevant – geltend, dass sich die Beklagte in der Berufung nicht gegen den Zuspruch eines allfälligen Pflegegeldes der Stufe 3 ab 1. März 2023 gewendet habe, sondern lediglich die Zuerkennung des Erschwerniszuschlags durch das Erstgericht moniert habe. Damit zeigt er zutreffend auf, dass die Zulassung der Klageänderung durch das Erstgericht einer Prüfung durch das Berufungsgericht entzogen war.

[15] 2.1. Nach ständiger Rechtsprechung bedarf die Zulassung einer Klageänderung nicht notwendig eines gesondert ausgefertigten Beschlusses, sondern sie kann auch implizit, durch eine Sachentscheidung über das geänderte Begehren, bewilligt werden (RS0039450). Wird eine solche Bewilligung nicht bekämpft, erwächst sie in Rechtskraft (RS0102058 [T4]; RS0039450 [T2, T3, T4]). In diesem Fall hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung das geänderte Begehren zugrunde zu legen (RS0039450 [T3]).

[16] Das Berufungsgericht kann die Zulässigkeit der Klageänderung in einem solchen Fall auch nicht nach § 462 Abs 2 ZPO amtswegig prüfen (4 Ob 554/91; Pimmer in Fasching/Konecny 3 IV/1 § 462 ZPO Rz 4; A. Kodek in Rechberger/Klicka , ZPO 5 § 462 Rz 5; aA noch 10 ObS 286/88 unter Berufung auf Fasching , Kommentar IV 1 46; Fasching , Lehrbuch 2 Rz 1750). Diese Bestimmung gilt schon nach ihrem klaren Wortlaut nicht für solche Beschlüsse, die infolge Unterlassung des Rekurses unabänderlich geworden sind, und soll lediglich die – im Rahmen des erhobenen Rechtsmittels bestehende – Kognitionsbefugnis des Berufungsgerichts auf Beschlüsse erweitern, die in dem dem angefochtenen Urteil vorausgegangenen Verfahren erlassen wurden. Dies ändert aber nichts daran, dass eine Überprüfung solcher Beschlüsse nach § 515 ZPO von der Einbringung eines Rechtsmittels abhängt; dabei schadet es nach der Rechtsprechung freilich nicht, wenn der Rechtsmittelwerber den Beschwerdepunkt nicht gesondert als Rekurs, sondern im Rahmen der Berufung ausführt, weil es sich dann um eine bloß unrichtige Bezeichnung des Rechtsmittels handelt (RS0041614 [T6]).

[17] 2.2. Das Erstgericht legte seiner Entscheidung den im erstinstanzlichen Verfahren gestellten Antrag des Klägers zugrunde und entschied nicht bloß über das ursprüngliche Klagebegehren (auf Weitergewährung des entzogenen Pflegegeldes der Stufe 1 über den 30. November 2022 hinaus), sondern auch über das ausgedehnte Klagebegehren (auf Gewährung eines höheren Pflegegeldes – nämlich eines der Stufe 3 – ab 1. März 2023). Durch diese Sachentscheidung über das geänderte Klagebegehren wurde die Klageänderung somit zugelassen, was die Beklagte in der Berufung nicht bekämpfte oder sonst thematisierte, indem sie darin lediglich einen sekundären Feststellungsmangel zu den Voraussetzungen für die Gewährung des Erschwerniszuschlags nach § 4 Abs 5 und 6 BPGG geltend machte und das Vorliegen dieser Voraussetzungen als nicht gegeben erachtete. Von einer Geltendmachung in der Berufung ging auch das Berufungsgericht selbst nicht aus, weil es seine Entscheidung ausdrücklich „aus Anlass der Berufung“ traf.

[18] 2.3. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass das Berufungsgericht annahm, dass dem geänderten Begehren mangels Vorliegens eines Bescheides die Unzulässigkeit des Rechtswegs entgegenstehe.

[19] 2.3.1. Ist der Rechtsweg unzulässig, so ist dies an sich gemäß § 73 ASGG in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen. Dies gilt allerdings auch im Verfahren in Sozialrechtssachen dann nicht, wenn eine die Zulässigkeit des Rechtswegs bejahende gerichtliche Entscheidung entgegensteht (§ 42 Abs 3 JN; RS0035572; RS0039774). Eine Bindung ist nach ständiger Rechtsprechung auch dann zu bejahen, wenn sich das Gericht in den Entscheidungsgründen mit dem Nichtvorliegen des Prozesshindernisses auseinandergesetzt hat (RS0114196; RS0043823).

[20] 2.3.2. Die Ausführungen des Erstgerichts (in den Entscheidungsgründen), dass der Erhöhungsantrag im Verfahren gestellt werden habe können und ein Bescheid nicht abzuwarten gewesen sei, können sich nur auf die Frage der Rechtswegzulässigkeit beziehen, weil diese (im Normalfall) das Vorliegen eines Bescheids über den der Leistungssache zugrunde liegenden Anspruch des Versicherten voraussetzt (RS0085867). Die darin liegende Beurteilung, dass für das geänderte Begehren (auf Zahlung eines höheren als dem vor der Entziehung gewährten Pflegegeldes) der Rechtsweg zulässig sei, wurde von der Beklagten in der Berufung nicht bekämpft. Die Bejahung der Zulässigkeit des Rechtswegs durch das Erstgericht entfaltete daher auch für das Berufungsgericht Bindungswirkung. Mangels Erhebung eines Rekurses unterlag dieser in das Ersturteil aufgenommene Beschluss auch nicht nach § 462 Abs 2 ZPO der Beurteilung des Berufungsgerichts.

[21] 3.1. Die Fragen, ob die Klageänderung vom Erstgericht zu Recht zugelassen oder die Zulässigkeit des Rechtswegs vom Erstgericht zutreffend bejaht wurden, waren der Kognition des Berufungsgerichts somit entzogen. Der (funktional als Rekursgericht getroffenen) Entscheidung des Berufungsgerichts stand die Rechtskraft der genannten Beschlüsse entgegen, sodass sie ersatzlos zu beheben war. Da das Berufungsgericht die Berufung der Beklagten inhaltlich nicht erledigt hat, ist dem Obersten Gerichtshof eine Entscheidung in der Sache selbst verwehrt.

[22] 3.2. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 ZPO.

Rechtssätze
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