Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofräte Dr. Chvosta und Mag. Schartner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Wagner, über die Revision des P D P, vertreten durch Mag. Elisabeth Mace, Rechtsanwältin in Wien, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Oktober 2023, W288 2279913 1/14E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der 1989 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Vereinigten Staaten von Amerika (USA), reiste am 7. Oktober 2023 auf dem Luftweg aus Griechenland kommend in das österreichische Bundesgebiet ein. Im Rahmen einer Ausgleichsmaßnahmenkontrolle unterzogen ihn Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einer Personenkontrolle. Aufgrund der sodann getroffenen Annahme, dass im Reisepass des Revisionswerbers kein Ein oder Ausreisestempel angebracht sei und er über kein Visum verfüge, wurde er in Vollziehung eines Festnahmeauftrages des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 7. Oktober 2023 festgenommen und anschließend in ein Polizeianhaltezentrum überstellt.
2 Mit Mandatsbescheid vom selben Tag verhängte das BFA über den Revisionswerber nach seiner niederschriftlichen Einvernahmegemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und zur Sicherung der Abschiebung.
3Mit Bescheid des BFA ebenfalls vom 7. Oktober 2023 wurde dem Revisionswerber eine „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen ihn gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG eine Rückkehrentscheidung erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die USA zulässig ist. Unter einem erließ es gegen den Revisionswerber gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 FPG ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Schließlich erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFAVG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demzufolge gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.
4 Am 9. Oktober 2023 stellte der Revisionswerber einen Antrag auf freiwillige Ausreise, welcher vom BFA mit Schreiben vom 12. Oktober 2023 mit der Begründung, dass keine Nachhaltigkeit der freiwilligen Ausreise zu erkennen sei, abgelehnt wurde.
5 Am 16. Oktober 2023 erklärte der Revisionswerber gegenüber dem BFA seinen Verzicht zur Erhebung eines Rechtsmittels hinsichtlich des mit Bescheid vom 7. Oktober 2023 nicht erteilten Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, hinsichtlich der gegen ihn erlassenen Rückkehrentscheidung sowie hinsichtlich der für zulässig erklärten Abschiebung.
6 In seiner mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2023 gegen den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber unter anderem vor, dass er sich nicht illegal in Österreich aufhalte. Aus einem in seinem Reisepass ersichtlichen Stempel gehe hervor, dass er zuletzt im August 2023 in den Schengenraum eingereist sei. Die US amerikanische Staatsbürgerschaft berechtige ihn zum visafreien Aufenthalt im Schengenraum, so auch in Österreich, für die Dauer von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen. Zum Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft habe sich der Revisionswerber erst seit 52 Tagen im Schengenraum befunden. Trotz seines legalen Aufenthaltes in Österreich sei er immer bereit gewesen, Österreich oder auch den Schengenraum freiwillig zu verlassen. Daran habe ihn die belangte Behörde jedoch gehindert und ihn völlig überstürzt in Schubhaft genommen. Er verfüge zudem über ausreichend finanzielle Mittel und sei stets bereit gewesen, sich selbst ein Flugticket zu organisieren. Er habe auch von Anfang an am Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mitgewirkt und sei kooperativ.
7 In seiner zur Stellungnahme des BFA vom 19. Oktober 2023 ergangenen Äußerung vom 23. Oktober 2023 brachte der Revisionswerber zudem vor, dass er entgegen der Behauptung des BFA in keiner seiner Einvernahmen angegeben habe, einen Aufenthaltstitel in Tschechien zu haben, sondern lediglich wahrheitsgemäß, dass er in Tschechien ein Arbeitsvisum beantragt habe. Sein Antrag auf freiwillige Ausreise und sein Rechtsmittelverzicht in Bezug auf die Rückkehrentscheidung würden zudem belegen, dass er ausreisewillig sei. Die in der Stellungnahme des BFA erwähnte Behauptung, er sei innerhalb der Europäischen Union straffällig geworden, sei aktenwidrig und für ihn nicht nachvollziehbar.
8 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. Oktober 2023 wies das BVwG ohne Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlungdie Schubhaftbeschwerde gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA VG als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.) und stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFAVG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Schließlich traf es diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidungen und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
9Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:
10 Die Revision erweist sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigenentgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
11 In Bezug auf den Fortsetzungsausspruch gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG macht der Revisionswerber zu Recht eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend:
12 Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Fortsetzungsausspruchs begründete das BVwG unter Bezugnahme auf § 21 Abs. 7 BFA VG im Wesentlichen damit, dass der Sachverhalt auf Grund der Aktenlage und des Inhaltes der Beschwerde samt Stellungnahme geklärt sei und Widersprüchlichkeiten in Bezug auf die für die gegenständliche Entscheidung maßgeblichen Sachverhaltselemente nicht vorlägen.
13 Dabei übersieht das BVwG allerdings, dass ein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFAVG nach ständiger Rechtsprechung unter anderem nur dann vorliegt, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender Sachverhalt behauptet wird (vgl. etwa VwGH 29.8.2024, Ra 2021/21/0105, Rn. 12, mwN). Das war aber gegenständlich in ausreichend substantiierter Weise der Fall.
14 Das BVwG begründete das Vorliegen der Fluchtgefahr tragend damit, dass sich der Revisionswerber illegal im Schengenraum aufhalte und gegenüber den Sicherheitsund Fremdenbehörden versucht habe, durch falsche Angaben einen legalen Aufenthalt zu konstruieren bzw. diese dadurch über seinen illegalen Aufenthalt zu täuschen, um so eine Anhaltung und drohende Abschiebung zu verhindern. Dadurch habe der Revisionswerber versucht, seine Abschiebung zu umgehen bzw. zu behindern, und damit den Tatbestand des § 76 Abs. 3 Z 1 FPG und weil auch eine durchsetzbare und durchführbare Rückkehrentscheidung vorliegeauch jenen des § 76 Abs. 3 Z 3 FPG erfüllt. Zudem sei unter Berücksichtigung der in § 76 Abs. 3 Z 9 FPG genannten Kriterien (Grad der sozialen Verankerung in Österreich, insbesondere das Bestehen familiärer Beziehungen, das Ausüben einer legalen Erwerbstätigkeit beziehungsweise das Vorhandensein ausreichender Existenzmittel sowie die Existenz eines gesicherten Wohnsitzes) vom Vorliegen der Fluchtgefahr auszugehen.
15 Dieser Beurteilung lagen die vom BVwG getroffenen Feststellungen zugrunde, wonach der Revisionswerber gegenüber den Sicherheits und Fremdenbehörden fälschlich behauptet habe, ein Visum zu besitzen. Er habe sich zudem gegenüber dem BFA widersprüchlich zu den Ländern seines bisherigen Aufenthalts geäußert und fälschlich behauptet, den Schengenraum verlassen zu haben und erst am 16. August 2023 wieder in den Schengenraum eingereist zu sein. Tatsächlich halte er sich bereits seit zumindest 15. März 2023 im Schengenraum auf. Er habe in Österreich keine familiären oder sozialen Anknüpfungspunkte, verfüge über keinen eigenen Wohnsitz und gehe keiner legalen Beschäftigung nach. Er verfüge über keine ausreichenden Mittel zur Existenzsicherung. Der Revisionswerber sei in Österreich strafgerichtlich unbescholten, jedoch sei er in Deutschland wegen gerichtlich strafbarer Handlungen in Erscheinung getreten. Er achte die österreichische Rechtsordnung nicht, verhalte sich nicht kooperativ und sei nicht vertrauenswürdig. Ein wahrhaftiger Wille zur freiwilligen Rückkehr in die USA könne beim Revisionswerber nicht festgestellt werden.
16 Diese dem Beschwerdevorbringen des Revisionswerbers (vgl. Rn. 6/7) entgegenstehenden Feststellungen, traf das BVwG nach Vornahme einer umfassenden Beweiswürdigung, die insbesondere die Angaben des Revisionswerbers vor den Behörden sowie behördliche Stellungnahmen zu dem im Reisepass des Revisionswerbers befindlichen Stempel vom 16. August 2023 welcher nach dem Beschwerdevorbringen die zwischenzeitliche Ausreise aus dem Schengenraum beweisen sollte einbezog. Eine solche vom BVwG aufgrund einer eigenen Beweiswürdigung vorgenommene Verwerfung des näher begründeten Beschwerdevorbringens hat am Maßstab der zitierten Judikatur jedoch die Verhandlungspflicht ausgelöst. Das BVwG hätte entgegen seiner Begründung für die Nichtdurchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung nicht von einem „auf Grund der Aktenlage und des Inhalts der Beschwerde samt Stellungnahme“ geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen dürfen.
17 In Bezug auf die Beschwerdeabweisung mit Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses war es zunächst nur Aufgabe des BVwG, den Bescheid des BFA vom 7. Oktober 2023 und in weiterer Folge die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhafteiner nachträglichen Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung war nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit des konkret erlassenen Bescheides zu beurteilen, also zu klären, ob es am 7. Oktober 2023 aus damaliger Sicht rechtens war, über den Revisionswerber Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen und anschließend diese Schubhaft zu vollziehen (vgl. VwGH 12.12.2023, Ra 2021/21/0222, Rn. 8, mwN). (Erst) beim Ausspruch nach § 22a Abs. 3 FPG hatte das BVwG die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft nach allen Richtungen zu prüfen, und zwar unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der bisherigen Schubhaft, und war insoweit „ermächtigt“, auf Basis der aktuellen Sachund Rechtslage „in der Sache“ zu entscheiden (vgl. etwa VwGH 23.5.2024, Ra 2022/21/0061, Rn. 10, mwN).
18 Dem hat das BVwG jedoch nicht entsprochen. Es stützte die Beurteilung, ob das BFA zu Recht von einer Fluchtgefahr ausgehen durfte, maßgeblich auf die Annahme, dass der Revisionswerber gegenüber den Sicherheits und Fremdenbehörden durch falsche Angaben versucht habe, einen legalen Aufenthalt zu konstruieren bzw. diese dadurch über seinen illegalen Aufenthalt zu täuschen, um so eine Anhaltung und drohende Abschiebung zu verhindern. Diese Erwägungen sowie die ihnen zugrundeliegenden Feststellungen, wonach der Revisionswerber etwa falsche Angaben betreffend ein Visum und ein (zwischenzeitlichen) Verlassen des Schengenraums getätigt hätte sind im Bescheid des BFA jedoch nicht enthalten.
19 Darüber hinaus müsste eine fallbezogene Betrachtung der Gesamtsituation die Schlussfolgerung rechtfertigen, der Fremde könnte sich dem Verfahren oder der Abschiebung durch Flucht entziehen. Es bedürfte alsoüber die Erfüllung eines tauglichen Tatbestandes nach § 76 Abs. 3 FPG hinauseiner konkreten Bewertung aller im Einzelfall maßgeblichen Gesichtspunkte, die insofern in die gebotene Abwägungsentscheidung einzufließen haben (vgl. VwGH 19.5.2022, Ra 2021/21/0282, Rn. 15, mwN).
20 Eine solche mängelfreie Abwägungsentscheidung hatte aber schon das BFA im Schubhaftbescheid vom 7. Oktober 2023 unterlassen, in dem es betreffend die Annahme der Fluchtgefahr lediglich auf die Tatbestände nach § 76 Abs. 3 Z 1, 3 und 9 FPG verwies, ohne jedoch näher zu begründen, warum es diese im konkreten Fall als verwirklicht ansah. Alleine die im Bescheid enthaltenen Feststellungen, wonach gegen den Revisionswerber eine durchsetzbare Rückkehrentscheidung erlassen worden sei, der Revisionswerber illegal nach Österreich eingereist sei, mittellos sei und in Österreich über keinen Wohnsitz verfüge sowie nicht integriert sei, tragen die Annahme von Fluchtgefahr ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht. Die vom BFA getroffene Feststellung, dass der Revisionswerber die Ausreise aus Österreich verweigert habe, steht im Widerspruch zu den diesbezüglich vom Revisionswerber am 7. Oktober 2023 im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA gemachten Angaben und ist insoweit das BFA in der Beweiswürdigung auf diese Einvernahme verweist aktenwidrig. Alleine aus dem vom BFA festgestellten illegalen Aufenthalt ist entgegen den Ausführungen im Schubhaftbescheid auch kein unkooperatives Verhalten abzuleiten. Eine ausreichende fallbezogene Begründung für die vom BFA herangezogenen Fluchtgefahrtatbestände sind dem Bescheid insgesamt somit nicht zu entnehmen.
21Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a, b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
22 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
23Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. August 2025