Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des H B H, vertreten durch Dr. Andreas Doschek, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Reisnerstraße 29/7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. Februar 2022, W284 2251871 1/19E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein tunesischer Staatsangehöriger, stellte nach seiner Einreise in Österreich am 4. November 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am 22. Dezember 2021 wurde der Revisionswerber in seinem Grundversorgungsquartier wegen des Verdachtes der Begehung strafbarer Handlungen festgenommen. In der Folge wurde über ihn mit Beschluss des Landesgerichtes Eisenstadt vom 23. Dezember 2021 die Untersuchungshaft verhängt.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies mit unbekämpft in Rechtskraft erwachsenem Bescheid vom 27. Dezember 2021 den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab. Unter einem sprach es aus, dass dem Revisionswerber (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nach § 57 AsylG 2005 erteilt werde, es erließ gegen ihn gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Tunesien zulässig sei. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung erkannte das BFA gemäß § 18 Abs. 1 Z 1 und 4 BFA VG die aufschiebende Wirkung ab und gewährte somit nach § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise. Überdies verhängte es gegen den Revisionswerber wegen dessen Mittellosigkeit gemäß § 53 Abs. 2 Z 6 FPG ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot.
3 Mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Eisenstadt vom 1. Februar 2022 wurde der Revisionswerber wegen gefährlicher Drohung und Sachbeschädigung zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Monaten verurteilt. Unmittelbar nach der Urteilsverkündung wurde der Revisionswerber aus der Untersuchungshaft entlassen und sodann aufgrund eines auf § 34 Abs. 3 Z 1 BFA VG gestützten Festnahmeauftrages des BFA festgenommen.
4 Am 2. Februar 2022 wurde der Revisionswerber zur in Aussicht genommenen Schubhaftverhängung vernommen, wobei er vorbrachte, psychische Probleme zu haben und deshalb Medikamente einzunehmen. Bereits bei einer Gesundheitsbefragung am Vortag hatte der Revisionswerber dadurch, dass er auf einer schematischen Darstellung als Körperteil, an dem er Beschwerden habe, den Kopf markierte entsprechende Angaben gemacht und eine Liste der einzunehmenden Medikamente beigelegt.
5 Mit Bescheid des BFA vom 2. Februar 2022 wurde über den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung verhängt.
6 Am 10. Februar 2022 stellte der Revisionswerber im Stande der Schubhaft einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. In einem (dem Revisionswerber ausgehändigten) Aktenvermerk vom selben Tag hielt das BFA dazu fest, dass iSd § 76 Abs. 6 FPG Gründe zur Annahme bestünden, der Antrag auf internationalen Schutz sei (nur) zur Verzögerung der Vollstreckung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden.
7 Die gegen den Bescheid vom 2. Februar 2022 und die darauf gegründete Anhaltung mit Schriftsatz vom 18. Februar 2022 erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 25. Februar 2022 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a BFA VG als unbegründet ab, es stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlägen, und es traf diesem Ergebnis entsprechende Kostenentscheidungen. Schließlich sprach das BVwG noch gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung des Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
9 Die Revision erweist sich wie die nachstehenden Ausführungen zeigen entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
10 Vorauszuschicken ist, dass es im Hinblick auf die Schubhaftbeschwerde zunächst Aufgabe des BVwG war, den Bescheid des BFA vom 2. Februar 2022 und in weiterer Folge die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft einer nachträglichen Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung war zu klären, ob es am 2. Februar 2022 aus damaliger Sicht rechtens war, über den Revisionswerber Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen und anschließend diese Schubhaft zu vollziehen (siehe dazu etwa VwGH 12.12.2023, Ra 2021/21/0222, Rn. 8, mit Hinweis auf VwGH 11.3.2021, Ra 2020/21/0274, Rn. 17, mwN). Für den Zeitraum ab Stellung des Antrages auf internationalen Schutz im Stande der Schubhaft am 10. Februar 2022 hatte das BVwG dann zu beurteilen, ob die auf § 76 Abs. 6 FPG gestützte Aufrechterhaltung der Schubhaft zulässig war, ob es also aus damaliger Sicht rechtens war, dem Revisionswerber bei Stellung des Antrags auf internationalen Schutz eine Verzögerungs- oder Vereitelungsabsicht im Sinne der genannten Bestimmung zu unterstellen (vgl. idZ VwGH 11.4.2024, Ra 2022/21/0169, Rn. 18, mit Hinweis auf VwGH 11.3.2021, Ra 2020/21/0274, Rn. 20, mwN, und VwGH 27.9.2023, Ra 2023/21/0078, Rn. 17). (Erst) beim Ausspruch nach § 22a Abs. 3 FPG hatte das BVwG die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft nach allen Richtungen zu prüfen, und zwar unabhängig von der Frage der Rechtmäßigkeit der bisherigen Schubhaft, und war insoweit „ermächtigt“, auf Basis der aktuellen Sach- und Rechtslage „in der Sache“ zu entscheiden (vgl. etwa VwGH 16.5.2019, Ra 2018/21/0122, Rn. 12, mit Hinweis auf VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0143, Rn. 15, mwN), wobei fallbezogen auch auf die Voraussetzungen für die Aufrechterhaltung der Schubhaft nach § 76 Abs. 6 FPG Bedacht zu nehmen war.
11 In der Begründung des angefochtenen Erkenntnisses wurden aber die Erwägungen zur Abweisung der Schubhaftbeschwerde und zum Fortsetzungsausspruch gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG miteinander vermengt, ohne nachvollziehbar nach dem in Rn. 10 erörterten für die nachträgliche Kontrolle des Schubhaftbescheides einerseits und den Fortsetzungsausspruch andererseits maßgeblichen Beurteilungshorizont zu unterscheiden. Schon insoweit haftet dem angefochtenen Erkenntnis ein wesentlicher Begründungsmangel an.
12 Was die nachträgliche Kontrolle des Schubhaftbescheides vom 2. Februar 2022 und die darauf gegründete Anhaltung betrifft, wird in der Revision im Ergebnis zu Recht aufgezeigt, dass das BFA in der Begründung des Schubhaftbescheides zwar auf die vom Revisionswerber bereits vor der Schubhaftverhängung vorgebrachten gesundheitlichen (psychischen) Probleme und die deswegen verordnete Medikamenteneinnahme einging. Es befasste sich mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers jedoch ausschließlich im Lichte der Haftfähigkeit, nicht jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Dies stellt einen wesentlichen Begründungsmangel dar, weil gesundheitliche Probleme selbst wenn daraus keine Haftunfähigkeit resultiert bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Unzulässigkeit von Schubhaft führen können (siehe etwa VwGH 30.3.2023, Ra 2020/21/0046, Rn. 10, mwN; siehe dazu auch VwGH 15.11.2022, Ra 2020/21/0442, Rn. 16 iVm Rn. 14). Diesen wesentlichen, im Beschwerdeverfahren nicht sanierbaren Begründungsmangel hätte das BVwG aufgreifen und den Bescheid vom 2. Februar 2002 sowie die darauf gegründete Anhaltung für rechtswidrig erachten müssen (vgl. VwGH 27.4.2023, Ro 2020/21/0005, Rn. 10, mwN).
13 Abgesehen davon war auch die Annahme von Fluchtgefahr, der nur durch Verhängung von Schubhaft und nicht auch durch ein gelinderes Mittel begegnet werden könne, im Bescheid des BFA vom 2. Februar 2022 nicht nachvollziehbar begründet. Das BFA erachtete beim Revisionswerber, der während des laufenden Asylverfahrens im Grundversorgungsquartier festgenommen und über den unmittelbar nach Entlassung aus der Untersuchungshaft die Schubhaft verhängt wurde, die Fluchtgefahrtatbestände des § 76 Abs. 3 Z 3 und Z 9 FPG als erfüllt.
14 Dazu ist festzuhalten, dass das Bestehen einer durchsetzbaren aufenthaltsbeendenden Maßnahme für die Annahme von Fluchtgefahr (für sich betrachtet) nicht ausreicht (vgl. etwa VwGH 16.4.2021, Ra 2020/21/0498, Rn. 8, mit Hinweis auf VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, Rn. 30), und dass Mittellosigkeit und fehlende soziale Integration in Bezug auf (noch nicht lange aufhältige) Asylwerber, die Anspruch auf Grundversorgung haben, allein noch keine tragfähigen Argumente für das Bestehen eines „Sicherungsbedarfs“ sind (vgl. erneut VwGH 11.5.2017, Ro 2016/21/0021, nunmehr Rn. 31, mwN). Dies erkannte das BVwG zwar teilweise, begründete das Vorliegen von Fluchtgefahr dann aber mit Aspekten, die in zeitlicher Hinsicht für den hier maßgeblichen, auf den Zeitpunkt der Erlassung des Schubhaftbescheides vom 2. Februar 2022 abstellenden Beurteilungshorizont (siehe Rn. 10) noch keine Rolle spielen konnten (missbräuchliche Stellung eines Folgeantrages auf internationalen Schutz am 10. Februar 2022, nachdem bereits eine durchsetzbare aufenthaltsbeendende Maßnahme bestand, Hungerstreik ab dem 18. Februar 2022, Zustellung des Bescheides über die Aberkennung des Anspruches auf Grundversorgung am 22. Februar 2022). Vor diesem Hintergrund vermochte das vom Revisionswerber in seiner Vernehmung am 2. Februar 2022 zusätzlich zur ausdrücklichen Bitte, ihn freiwillig in sein Herkunftsland zurückkehren zu lassen artikulierte Ersuchen, ihn nach Italien reisen zu lassen, für sich genommen ebenso wenig Fluchtgefahr zu begründen, wie die nicht näher konkretisierte Feststellung, dass er bereits im Jahr 2019 einmal unrechtmäßig nach Österreich ein- und wiederausgereist sei. Auch diese wesentlichen Begründungsmängel des Schubhaftbescheides vom 2. Februar 2022 wären vom BVwG aufzugreifen gewesen.
15 In Bezug auf den Fortsetzungsausspruch gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG macht der Revisionswerber dann schon im Hinblick auf die vorgebrachten gesundheitlichen Probleme zu Recht eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend:
16 Das BVwG berücksichtigte den Gesundheitszustand des Revisionswerbers im Rahmen der Beweiswürdigung zwar auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten und kam, insbesondere gestützt auf amtsärztliche Gutachten vom 19. und 25. Februar 2022, zu dem Ergebnis, dass die vorgebrachten gesundheitlichen Probleme der Annahme der Verhältnismäßigkeit der „Aufrechterhaltung der Haft“ nicht entgegenstünden. In Anbetracht dessen, dass der Gesundheitszustand des Revisionswerbers bereits im Schubhaftbescheid vom 2. Februar 2022 (dort, wie erörtert, aber nur unter dem Gesichtspunkt der Haftfähigkeit) thematisiert worden war und der Revisionswerber in seiner Schubhaftbeschwerde ausdrücklich die Unverhältnismäßigkeit der Schubhaft wegen seiner psychischen Probleme und der deswegen notwendigen Medikamenteneinnahme behauptete, hätte das BVwG aber nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich schon wiederholt ausgesprochen, dass dann, wenn der Fremde in seiner Beschwerdeschrift (hier: in Verbindung mit den diesbezüglichen Angaben vor der Schubhaftverhängung) ausreichend substantiiert die Unverhältnismäßigkeit der (Aufrechterhaltung der) Schubhaft wegen gesundheitlicher Probleme darlegt, grundsätzlich nicht im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG von einem geklärten Sachverhalt ausgegangen werden dürfe (siehe dazu erneut VwGH 15.11.2022, Ra 2020/21/0442, nunmehr Rn. 15, mwN, und zuletzt VwGH 11.4.2024, Ra 2022/21/0108, Rn. 7). Das hat das BVwG verkannt.
17 Das angefochtene Erkenntnis war aus den genannten Gründen zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
18 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 und 5 VwGG abgesehen werden.
19 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 23. Mai 2024