Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des A Q, vertreten durch Mag. Gudrun Moser Reisinger, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Stadiongasse 5/1A, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. Februar 2021, W283 2223701 2/11E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl)
I. zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinen Spruchpunkten A.II. und A.IV. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
II. den Beschluss gefasst:
Im Übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
1 Der 1997 geborene Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am 22. Dezember 2013 erstmals einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Dieser Antrag wurde im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 29. Juni 2018 zur Gänze abgewiesen, eine Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen erlassen sowie die Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan festgestellt.
2 Am 23. September 2019 stellte der im Bundesgebiet verbliebene Revisionswerber einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, der im Rechtsmittelweg mit Erkenntnis des BVwG vom 13. November 2020 abgewiesen wurde. Unter einem wurde dem Revisionswerber (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung erlassen und damit wegen seiner Straffälligkeit ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot verbunden. Des Weiteren wurde die Zulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan festgestellt, es wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung aberkannt und demzufolge dem Revisionswerber keine Frist zur freiwilligen Ausreise gewährt.
3 Der drogenabhängige Revisionswerber hat in Österreich eine im September 2018 geborene Tochter, deren Obsorge der Großmutter des Kindes zukommt. Die ehemalige Lebensgefährtin des Revisionswerbers und Mutter der gemeinsamen Tochter ist im Jahr 2019 verstorben.
4 Unmittelbar nach der bedingten Entlassung aus der letzten Strafhaft am 30. Dezember 2020 wurde der Revisionswerber in Schubhaft genommen, aus der er am 18. Jänner 2021 wegen Haftunfähigkeit aufgrund eines Hungerstreiks entlassen wurde. Der Revisionswerber nahm daraufhin bei einem Freund Unterkunft, ohne sich jedoch behördlich zu melden.
5 Nachdem der Revisionswerber am 26. Jänner 2021 im Rahmen einer polizeilichen Zufallskontrolle erneut festgenommen worden war, wurde über ihn nach seiner niederschriftlichen Einvernahme mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 28. Jänner 2021 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung verhängt. Im Zuge der Einvernahme hatte der Revisionswerber angegeben, er werde gegen eine zwangsweise Abschiebung „natürlich Widerstand leisten“, weil er bei seiner Tochter in Österreich bleiben möchte.
6 Die gegen den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung erhobene Beschwerde vom 5. Februar 2021 wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 10. Februar 2021 gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA VG als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.) und stellte ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Überdies wies es den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 Abs. 3 VwGVG ab (Spruchpunkt A.III.) und verpflichtete ihn gemäß § 35 Abs. 1 und 3 VwGVG zum Aufwandersatz an den Bund (Spruchpunkt A.IV.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG schließlich aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.).
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die gegenständliche außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
8 Soweit die Revision gegen den mit Spruchpunkt A.II. getroffenen (positiven) Fortsetzungsausspruch sowie gegen die Auferlegung der Aufwandersatzpflicht mit Spruchpunkt A.IV. des angefochtenen Erkenntnisses gerichtet ist, erweist sie sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
9 Der Revisionswerber rügt in seinem Zulässigkeitsvorbringen von vornherein nur bezogen auf Spruchpunkt A.II. des angefochtenen Erkenntnisses zu Recht, das BVwG sei von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, indem es entgegen dem ausdrücklichen Antrag keine mündliche Verhandlung zur Klärung der in der Beschwerde mit näherer Begründung behaupteten Kooperationsbereitschaft des Revisionswerbers, insbesondere auch im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen für die Anwendung gelinderer Mittel, durchgeführt hat.
10 Das BVwG stellte zunächst dem erstmals in der Beschwerde erstatteten Vorbringen folgend fest, der Revisionswerber habe sich nach seiner Haftentlassung am 18. Jänner 2021 bis zu seiner neuerlichen Festnahme am 26. Jänner 2021 bemüht, einen fixen Wohnsitz zu finden, und geplant, sich dort verlässlich anzumelden. Im Anschluss traf das BVwG dann abweichend vom diesbezüglichen Beschwerdevorbringen die Feststellung, der Revisionswerbers verhalte sich im Verfahren unkooperativ und werde sich im Falle seiner Haftentlassung einer Abschiebung widersetzen. Diese Feststellung stützte das BVwG beweiswürdigend unter ausdrücklicher Bezugnahme auf das entgegenstehende, im Ergebnis für nicht glaubwürdig erachtete Beschwerdevorbringen zur Kooperationsbereitschaft des Revisionswerbers maßgeblich auf die Angaben des Revisionswerbers im Rahmen seiner Einvernahme vor dem BFA vom 28. Jänner 2021. Auf Basis der getroffenen Feststellungen gelangte das BVwG in seiner rechtlichen Beurteilung zum Fortsetzungsausspruch dann zu der Annahme, dass sich der Revisionswerber aufgrund seines näher dargestellten Vorverhaltens und den erwähnten eigenen Angaben, wonach er bei einer Abschiebung Widerstand leisten werde einer Abschiebung nicht freiwillig fügen werde. Es liege daher Fluchtgefahr vor, der nicht mit einem gelinderen Mittel begegnet werden könne.
11 Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung hinsichtlich des Fortsetzungsausspruchs begründete das BVwG erkennbar bezogen auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 erster Fall BFA VG im Wesentlichen damit, dass die Feststellungen auf Sachverhaltsebene auf den inhaltlich unbestrittenen Feststellungen des Bescheides des BFA und den Angaben in der Beschwerde „fußen“ würden.
12 Dabei übersieht das BVwG allerdings, dass ein geklärter Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG nach ständiger Rechtsprechung unter anderem nur dann vorliegt, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender Sachverhalt behauptet wird (siehe in diesem Sinn zur in der Beschwerde geltend gemachten Kooperationsbereitschaft VwGH 31.8.2017, Ra 2017/21/0080, Rn. 17 iVm Rn. 15/16; vgl. auch VwGH 31.8.2017, Ra 2017/21/0085, Rn. 11/12). Das war aber gegenständlich in ausreichend substantiierter Weise der Fall, hat sich doch das BVwG diesbezüglich zu einer (eigenen) Beweiswürdigung veranlasst gesehen. Dabei stützte es sich maßgeblich auf die Angaben des Revisionswerbers im Rahmen seiner Einvernahme durch das BFA am 28. Jänner 2021, die jedoch durch das gegenteilige Vorbringen in der Beschwerde relativiert werden sollten. Die auf dieser Grundlage vom BVwG vorgenommene Verwerfung des Beschwerdevorbringens hätte am Maßstab der zitierten Judikatur die Verhandlungspflicht ausgelöst. Eine solche Verhandlung hätte im Übrigen auch Gelegenheit geboten, dem Revisionswerber zu dem mit vom BVwG aufgetragener Stellungnahme des BFA vom 8. Februar 2021 und mit E Mails des BFA vom 10. Februar 2021 erstatteten Vorbringen Parteiengehör einzuräumen (vgl. zu dieser Pflicht etwa VwGH 11.5.2021, Ra 2021/21/0066, Rn. 35 am Ende).
13 Das angefochtene Erkenntnis ist daher in seinem unter Spruchpunkt A.II. gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG getroffenen Fortsetzungsausspruch mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet.
14 Dies muss auch auf die Kostenentscheidung im Spruchpunkt A.IV. des angefochtenen Erkenntnisses durchschlagen, weil noch nicht feststeht, dass der Revisionswerber als zur Gänze endgültig unterlegen zu betrachten ist, was der Verpflichtung des Revisionswerbers zum Aufwandersatz nach dem gemäß § 22a Abs. 1a BFA VG auch in Schubhaftbeschwerdeverfahren anwendbaren § 35 VwGVG in diesem Verfahrensstadium entgegensteht (vgl. etwa VwGH 23.5.2024, Ra 2022/21/0077, Rn. 22, mwN).
15 Soweit sich die Revision gegen die Abweisung der Schubhaftbeschwerde im Hinblick auf den Schubhaftbescheid und die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers richtet, erweist sie sich hingegen unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig.
16 In Bezug auf die Beschwerdeabweisung mit Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses war es zunächst nur Aufgabe des BVwG, den Bescheid des BFA vom 28. Jänner 2021 und in weiterer Folge die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft einer nachträglichen Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung war nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit des konkret erlassenen Bescheides zu beurteilen, also zu klären, ob es aus damaliger Sicht rechtens war, über den Revisionswerber Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen und anschließend diese Schubhaft zu vollziehen (vgl. VwGH 11.3.2021, Ra 2020/21/0274, Rn. 17, mwN).
17 Unter diesem Aspekt macht die Revision erkennbar nur geltend, das als Titel für die Abschiebung herangezogene Erkenntnis des BVwG vom 13. November 2020 sei noch nicht durchführbar gewesen, weil höchstgerichtliche Rechtsmittelfristen offen gewesen seien, sodass „denkunmöglich“ eine Prognoseentscheidung darüber getroffen werden hätte können, ob und wann mit einer Abschiebung realistisch zu rechnen sei.
18 Allerdings trifft die diesem Vorbringen zugrundeliegende Prämisse, das als Titel für die zu sichernde Abschiebung herangezogene Erkenntnis des BVwG vom 13. November 2020 sei angesichts noch offener höchstgerichtlicher Rechtsmittelfristen nicht durchführbar gewesen, nicht zu. Vielmehr lag sowohl im Zeitpunkt der Verhängung der Schubhaft am 28. Jänner 2021 als auch im Entscheidungszeitpunkt des BVwG eine rechtskräftige und durchsetzbare Rückkehrentscheidung gegen den Revisionswerber vor. Die Durchführbarkeit der Rückkehrentscheidung fiel erst lange nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses, nämlich mit der Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung für die erst Mitte März 2021 eingebrachte Revision durch den Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 26. April 2021, weg. Mit dem erwähnten Argument vermag die Revision daher weder den Schubhaftbescheid noch die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers wirksam in Frage zu stellen.
19 In Bezug auf die mit Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses erfolgte Abweisung der Schubhaftbeschwerde zeigt die Revision somit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG auf. Dies gilt auch für die Abweisung des Kostenersatzbegehrens des Revisionswerbers mit Spruchpunkt A.III. des angefochtenen Erkenntnisses. Denn nach dem oben Gesagten ist der Revisionswerber hinsichtlich eines Teiles der vom BVwG zu beurteilenden Schubhaft als endgültig unterlegen zu betrachten. Das steht einem Kostenersatz nach dem gemäß § 22a Abs. 1a BFA VG auch im Schubhaftbeschwerdeverfahren anwendbaren § 35 VwGVG entgegen (vgl. neuerlich VwGH 23.5.2024, Ra 2022/21/0077, nunmehr Rn. 16, mwN).
20 Das angefochtene Erkenntnis war daher in dem aus Spruchpunkt I. ersichtlichen Umfang in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Im Übrigen war die Revision dagegen gemäß § 34 Abs. 1 und 3 VwGG mangels Vorliegens einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung iSd Art. 133 Abs. 4 B VG mit Beschluss zurückzuweisen.
21 Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 1, 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
22 Der Kostenzuspruch beruht auf den §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 50 VwGG, in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. August 2024