Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des A M, vertreten durch Mag. Robert Reich Rohrwig, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Brucknerstraße 2/5, gegen das am 26. Mai 2021 mündlich verkündete und mit 12. Juli 2021 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, W150 2242596 1/20E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte im September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, der im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 17. Dezember 2019 rechtskräftig abgewiesen wurde. Unter einem wurde gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung (samt Nebenaussprüchen) erlassen.
2 Im Laufe seines Aufenthaltes in Österreich wurde der Revisionswerber zweimal rechtskräftig strafgerichtlich verurteilt, nämlich zunächst im September 2019 unter anderem wegen versuchter schwerer Körperverletzung, Unterschlagung und versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten, davon zwölf Monate bedingt, und im November 2020 wegen eines Suchtmitteldeliktes zu einer Geldstrafe.
3 Nach seiner Überstellung aus Deutschland, wo er nach illegalem Grenzübertritt von den Behörden aufgegriffen worden war, wurde der Revisionswerber am 4. Mai 2021 festgenommen. Mit Mandatsbescheid vom 5. Mai 2021 ordnete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber die Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung an.
4 Während der Schubhaft beantragte der Revisionswerber dann am 14. Mai 2021 (erneut) die Gewährung von internationalem Schutz. Mit näher begründetem Aktenvermerk vom selben Tag hielt das BFA dazu fest, dass iSd § 76 Abs. 6 FPG Gründe zur Annahme bestünden, der Antrag auf internationalen Schutz sei (nur) zur Verzögerung der Vollstreckung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme gestellt worden. Die Anhaltung in Schubhaft bleibe aufrecht, da ihre Voraussetzungen (weiterhin) vorlägen; für die Höchstdauer gelte § 80 Abs. 5 FPG.
5 Die gegen den Bescheid vom 5. Mai 2021 und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 26. Mai 2021 mündlich verkündeten und mit 12. Juli 2021 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis „gemäß § 22a Abs. 1 Z 3 BFA VG idgF, § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idgF iVm § 76 Abs. 3 Z 1, Z 3 und Z 9 FPG idgF“ als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.) und stellte unter nochmaliger Nennung dieser Rechtsgrundlagen gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG fest, dass die Voraussetzungen für die Fortsetzung der Schubhaft vorlägen (Spruchpunkt A.II.). Zugleich wies es den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 Abs. 1 und 3 VwGVG ab und verpflichtete ihn zum Aufwandersatz an den Bund. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:
7 Die Revision erweist sich wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
8 In Bezug auf die Beschwerdeabweisung mit Spruchpunkt A.I. des angefochtenen Erkenntnisses war es zunächst nur Aufgabe des BVwG, den Bescheid des BFA vom 5. Mai 2021 und in weiterer Folge die darauf gegründete Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft einer nachträglichen Kontrolle zu unterziehen. Im Rahmen dieser Überprüfung war nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit des konkret erlassenen Bescheides zu beurteilen, also zu klären, ob es am 5. Mai 2021 aus damaliger Sicht rechtens war, über den Revisionswerber Schubhaft nach § 76 Abs. 2 Z 2 FPG zu dem genannten Sicherungszweck zu verhängen und anschließend diese Schubhaft zu vollziehen (vgl. VwGH 11.3.2021, Ra 2020/21/0274, Rn. 17, mwN).
9 Dem hat das BVwG jedoch nicht entsprochen. Wie die Revision zutreffend geltend macht, verwies das BVwG zur Begründung der Fluchtgefahr auf Auslandsaufenthalte des Revisionswerbers in Polen, Belgien und der Schweiz, auf einen Hungerstreik des Revisionswerbers als Versuch, sich aus der Schubhaft freizupressen, sowie auf die Stellung eines Antrags auf freiwillige Rückreise und dessen Zurückziehung als Versuch einer Verfahrensverzögerung, obwohl derartige Umstände weder vom BVwG festgestellt wurden noch aus dem Verwaltungsakt ersichtlich sind. Auch der Hinweis auf die mehrfache Stellung von Asylanträgen und die Verweigerung der Rückkehr in die „Russische Föderation“, den das BVwG als Begründung des BFA zur Fluchtgefahr ins Treffen führte, ist im Bescheid des BFA nicht enthalten; diese Überlegung steht daher ebenfalls nicht mit dem Inhalt der Akten im Einklang. Die Schlussfolgerung des BVwG, dass der Revisionswerber bereit sei, zur Vereitelung seiner Ausreise „alle nur erdenklichen Mittel zu versuchen“, beruhte somit auf aktenwidrigen Prämissen, weshalb vom BVwG keine nachvollziehbare Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Schubhaftbescheides entsprechend der in Rn. 8 referierten Judikatur vorgenommen wurde.
10 Was die Anhaltung des Revisionswerbers nach Stellung des zweiten Antrags auf internationalen Schutz am 14. Mai 2021 anbelangt, setzte sich das BVwG im Hinblick auf die erforderliche Missbrauchsabsicht zwar mit der Glaubwürdigkeit des Asylvorbringens (Verfolgung wegen behaupteter Homosexualität) auseinander, die es mit näherer Begründung verneinte. Es nahm dabei aber auf die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht Bedacht, wobei die damals aktuelle Sicherheitslage in Afghanistan zu berücksichtigen gewesen wäre, sodass nicht ohne Weiteres gesagt werden konnte, der Antrag erscheine in jeder Hinsicht von vornherein aussichtslos (vgl. zur Sicherheitslage in Afghanistan im Zeitraum ab Anfang Juni 2021 das Erkenntnis VwGH 30.11.2023, Ra 2021/21/0290, Rn. 14/15, mwN).
11 In Bezug auf den gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG getroffenen Fortsetzungsausspruch verwies das BVwG lediglich auf die in Rn. 9 wiedergegebenen aktenwidrigen Ausführungen, der daher ebenfalls nicht tragfähig begründet wurde.
12 Außerdem zog das BVwG wie die Revision auch zu Recht geltend macht bei der Beschwerdeabweisung mit Spruchpunkt A.I. mit § 76 Abs. 2 Z 1 FPG die falsche Rechtsgrundlage heran und begründete deren Anwendung beim Fortsetzungsausspruch mit Spruchpunkt A.II. nicht nachvollziehbar (zu den Voraussetzungen der Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG und den Anforderungen an eine Gefährdungsprognose nach § 67 FPG vgl. VwGH 29.6.2023, Ra 2021/21/0047, Rn. 11/12, jeweils mwN).
13 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. a, b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
14 Von der in der Revision beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
15 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 12. Dezember 2023