JudikaturVwGH

Ra 2023/19/0143 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Oktober 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Prendinger, über die Revision des A M, vertreten durch Mag. Norbert Tanzer, Rechtsanwalt in 6410 Telfs, Obermarkt 2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. März 2023, W226 2255662 1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo, stellte am 22. April 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er im Wesentlichen vor, ihm drohe bei einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat Verfolgung, weil er Mitglied einer politischen Organisation gewesen sei und zusammen mit weiteren Mitgliedern gegen die Regierung demonstriert habe. Er sei zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden.

2 Mit Bescheid vom 19. April 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers zur Gänze ab, erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in die Demokratische Republik Kongo zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ ein auf die Dauer von zwei Jahren befristetes Einreiseverbot.

3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde, in der er unter anderem vorbrachte, dass er im Rahmen seiner Rechtsberatung angegeben habe, homosexuell zu sein. Bisher hätten ihn Angst und Scham davon abgehalten, seine sexuelle Orientierung preiszugeben. Seiner sexuellen Orientierung sei er sich seit seinem 16. Lebensjahr bewusst. Der Revisionswerber habe keine Kenntnis davon gehabt, dass Homosexualität in Österreich nicht geächtet sei.

4 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Begründend führte das BVwG soweit für das Revisionsverfahren wesentlich aus, dass die vom Revisionswerber erstmals in der Beschwerde vorgebrachte Verfolgung aufgrund seiner sexuellen Orientierung gegen das Neuerungsverbot gemäß § 20 Abs. 1 BFA VG 2014 verstoße und sich daher als unbeachtlich erweise. Es lägen auch keine der Ausnahmen gemäß Z 1 bis 4 leg.cit. vor. So habe der Revisionswerber im verwaltungsbehördlichen Verfahren, das sich über einen Zeitraum von einem Jahr erstreckt habe, ausschließlich die Verfolgung aufgrund politischer Aktivitäten geltend gemacht, zudem sei er in den niederschriftlichen Einvernahmen vor dem BFA mehrfach gefragt worden, ob er seinen Fluchtgrund noch ergänzen wolle. Auch die Erklärung des Revisionswerbers, warum er seine Homosexualität nicht früher vorgebracht habe, sei unschlüssig. Angesichts des Umstandes, dass nur wenige Wochen vergangen seien, bevor sich der Revisionswerber gegenüber seinem Rechtsberater geoutet habe, sei davon auszugehen, dass Scham nicht der Grund dafür gewesen sein habe können, dass er seine Homosexualität nicht schon früher vorgebracht habe. Wenn er sich bereits nach wenigen Wochen Bekanntschaft seinem Rechtsberater öffnen könne und von seiner Homosexualität berichte, sei auch anzunehmen, dass er schon davor anderen Bekannten in Österreich davon erzählt habe, wodurch ihm aufgefallen wäre, dass Homosexualität in Österreich nicht geächtet sei. Auch zum Zeitpunkt seiner zweiten niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA habe sich der Revisionswerber bereits etwa neun Monate im Bundesgebiet aufgehalten, Kontakte geknüpft und sei mit der österreichischen Gesellschaft in Berührung gekommen. Es sei angesichts der Dauer seines Aufenthalts jedenfalls davon auszugehen, dass er in dieser Zeit bemerken hätte müssen, dass Homosexualität in Österreich weder geächtet noch verfolgt werde, weshalb der Revisionswerber spätestens bei seiner zweiten niederschriftlichen Einvernahme die Möglichkeit gehabt hätte, seine Homosexualität vor dem BFA preiszugeben. Es sei auch nicht nachvollziehbar, weshalb der Revisionswerber in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht habe, wenn er seiner eigenen Einschätzung zufolge auch hier genötigt gewesen wäre, seine Sexualität im Geheimen auszuleben. Es sei anzunehmen, dass ein Schutzsuchender, „der sich in Sicherheit weiß“, zumindest ansatzweise all jene Gründe darlegt, die ihn zur Ausreise aus seinem Herkunftsstaat gezwungen hätten. Er habe sein Vorbringen zur Homosexualität daher mit dem Vorsatz erstattet, das Asylverfahren durch eine Verbreiterung des Beweisthemas in missbräuchlicher Weise zu verlängern.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:

7 Die Revision macht zur Begründung ihrer Zulässigkeit geltend, das BVwG habe das Neuerungsverbot entgegen näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die eine schlüssige Herleitung einer Missbrauchsabsicht zur Verlängerung des Asylverfahrens voraussetze, angewendet. Die Begründung des BVwG, der Revisionswerber hätte seine sexuelle Orientierung bereits früher erstatten können, sei vor dem Hintergrund der vom Verwaltungsgerichtshof zitierten EuGH Judikatur (EuGH 2.12.2014, C 148/13 bis C 150/13, A, B, C gegen die Niederlande) unschlüssig und unrichtig. Das BVwG begründe entgegen dieser Rechtsprechung die Missbrauchsabsicht mit der verzögerten Darlegung des Fluchtgrundes der Homosexualität, ohne auf die diesbezüglichen schlüssigen Erklärungen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung einzugehen.

8 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch berechtigt.

9 Vorauszuschicken ist, dass das BVwG nicht weiter geprüft hat, ob eine homosexuelle Orientierung für den Betroffenen bei Rückkehr in die Demokratische Republik Kongo asylrelevante Verfolgung nach sich ziehen würde. Es hat eine solche allerdings auch nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr ausgeführt, dass die Berücksichtigung des Vorbringens zu einem anderen Verfahrensergebnis führen könnte, sollte dieses zutreffen. Dabei ist auch auf die vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen zu verweisen, wonach Personen, die öffentlich homosexuelle Handlungen tätigen, der Verfolgung sowie sexueller Gewalt unterworfen seien. LGBTI Personen seien Belästigungen, Stigmatisierung und Gewalt, inklusive „korrektiver“ Vergewaltigung, ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund kann der Frage, ob der Revisionswerber tatsächlich homosexuell orientiert ist, entscheidungsrelevante Bedeutung zukommen (vgl. VwGH 4.8.2021, Ra 2021/18/0024; siehe auch VwGH 29.6.2023, Ra 2022/01/0285, wonach von einem Asylwerber nicht erwartet werden kann, seine Homosexualität im Herkunftsstaat geheim zu halten, um eine Verfolgung zu vermeiden).

10 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es für die Annahme, ein Vorbringen unterliege dem Neuerungsverbot im Sinne des § 20 Abs. 1 BFA VG, der Auseinandersetzung mit der Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens (vgl. VwGH 13.3.2023, Ra 2021/18/0012, VwGH 21.4.2022, Ra 2021/19/0403, und VwGH 30.3.2020, Ra 2019/14/0318, jeweils mwN).

11 Der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) legte in seinem Urteil vom 2. Dezember 2014, A, B, C gegen die Niederlande , C 148/13 bis C 150/13, Rz 69, zu Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG (Statusrichtlinie aF) bereits ausdrücklich dar, dass die Asylbehörden die Aussagen eines (behauptetermaßen homosexuellen) Asylwerbers nicht allein deshalb für nicht glaubhaft erachten dürfen, weil er seine behauptete sexuelle Ausrichtung nicht bei der ersten ihm gegebenen Gelegenheit zur Darlegung der Verfolgungsgründe geltend gemacht habe. Angesichts des sensiblen Charakters der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere seine Sexualität, betreffen, könne allein daraus, dass diese Person, weil sie zögerte, intime Aspekte ihres Lebens zu offenbaren, ihre Homosexualität nicht sofort angegeben habe, nicht geschlossen werden, dass sie unglaubwürdig sei (vgl. VwGH 7.3.2022, Ra 2021/19/0132, sowie erneut VwGH 4.8.2021, Ra 2021/18/0024, mwN; die eben zitierte Rechtsprechung des EuGH zur Statusrichtlinie aF behält auch im Anwendungsbereich der fallbezogen maßgeblichen Neufassung der Statusrichtlinie 2011/95/EU unverändert Gültigkeit).

12 Diesen Vorgaben hat das BVwG wie die Revision aufzeigt mit seinen Ausführungen, die zentral auf der Überlegung fußen, dass der Revisionswerber das Vorbringen zur Homosexualität nicht schon im Verfahren vor dem BFA geltend gemacht habe, nicht entsprochen. Auch die Argumentation des BVwG, es sei anzunehmen, dass der Revisionswerber anderen Bekannten in Österreich von seiner Homosexualität erzählt habe, wodurch ihm aufgefallen wäre, dass Homosexualität in Österreich nicht geächtet sei, greift zu kurz und wird dem vom EuGH betonten sensiblen Charakter der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, was ein Zögern bei der Darlegung intimer Aspekte erklären kann, nicht gerecht (vgl. ähnlich VwGH 13.3.2023, Ra 2021/18/0012, mwN).

13 In diesem Zusammenhang ist der Revision auch beizupflichten, wenn sie geltend macht, dass das BVwG nicht auf die Erklärungsversuche des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung eingegangen sei. So habe sich der Revisionswerber geschämt, seine Homosexualität zu erwähnen, weil das „bei uns [im Herkunftsstaat] eine Schande [ist]“. Auch der in der mündlichen Verhandlung befragte Zeuge (ebenfalls Staatsangehöriger der Demokratischen Republik Kongo) gab an, dass eine homosexuelle Beziehung in dessen Herkunftsstaat tabu sei. Des Weiteren führte der Revisionswerber in der mündlichen Verhandlung aus, erst als er mit dem Chef seines Unterbringungszentrums ins Gespräch gekommen sei, habe er erfahren, dass Homosexualität in Österreich nicht verfolgt werde, weswegen er den Mut gehabt habe, seine sexuelle Orientierung bei der Rechtsberatung bekanntzugeben.

14 Aus diesen Gründen sowie vor dem Hintergrund der vom BVwG nicht berücksichtigten höchstgerichtlichen Rechtsprechung erweisen sich die oben zitierten Ausführungen des BVwG als nicht tragfähig, um eine schlüssige Herleitung der Missbrauchsabsicht darzulegen (vgl. VwGH 13.3.2023, Ra 2021/18/0012, und VwGH 9.5.2022, Ra 2020/18/0397).

15 Das BVwG hat sich somit betreffend das Vorbringen der Homosexualität des Revisionswerbers zu Unrecht auf das Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA VG 2014 berufen.

16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

18 Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Oktober 2023

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