JudikaturVwGH

Ra 2023/14/0460 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
22. Juli 2024

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kreil, MA, über die Revision der S A in W, vertreten durch Dr. Veronika Fussenegger Vanas, Rechtsanwältin in 1060 Wien, Getreidemarkt 17, diese vertreten durch Mag. Sonja Scheed, Rechtsanwältin in 1220 Wien, Brachelligasse 16, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. Oktober 2023, W138 2263830 1/6E, betreffend Anerkennung als Flüchtling nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerberin ist Staatsangehörige Syriens, Angehörige der arabischen Volksgruppe und zugehörig dem sunnitischen Islam, und reiste im Jahr 2021 nach Österreich ein. Am 23. September 2021 stellte sie in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den sie damit begründete, als Krankenschwester Kriegsverletzte der Oppositionellen versorgt zu haben und befürchte, bei einer Rückkehr aufgrund dieser Tätigkeit inhaftiert zu werden.

2 Mit Bescheid vom 29. Oktober 2022 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag hinsichtlich des Status einer Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte der Revisionswerberin den Status einer subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihr gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf die Dauer eines Jahres befristete Aufenthaltsberechtigung (Spruchpunkt III.).

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen Spruchpunkt I. erhobene Beschwerde der Revisionswerberin nach Durchführung einer Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

4 Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, in der Nähe des Hauses der Revisionswerberin habe sich ein medizinisches Zentrum befunden. Dieser Ortsteil sei von der Freien Syrischen Armee kontrolliert worden. Die Revisionswerberin habe geholfen, Verletzte einfach medizinisch zu versorgen. Es habe sich dabei hauptsächlich um ihre Nachbarn gehandelt.

5 Dies ergebe sich nach der Beweiswürdigung des Bundesverwaltungsgerichts aus den Angaben der Revisionswerberin im Verfahren und den zugrunde gelegten Länderberichten, wonach Frauen dann, wenn es keine Gesundheits oder Rehabilitationsdienste mehr gebe, sich um Verletzte, Behinderte, ältere Menschen und Menschen mit anderen medizinischen Problemen kümmern würden. Es sei nicht unüblich, dass die Revisionswerberin diese Hilfeleistungen erbracht habe. Eine unterstellte oppositionelle Gesinnung durch das syrische Regime sei nicht erkennbar, sondern seien dies Befürchtungen der Revisionswerberin. Auch würde diese Tätigkeit bereits zehn Jahre zurückliegen und lägen Widersprüche zum Vorbringen der Mutter der Revisionswerberin vor.

6 Rechtlich führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass sich keine konkreten Anhaltspunkte für eine Verfolgung durch das syrische Regime ergeben hätten. Im Ergebnis könne die Furcht der Revisionswerberin vor einer Verfolgung aufgrund ihrer Tätigkeit für ein medizinisches Zentrum im Herkunftsstaat daher nicht als „wohlbegründet“ im Sinn der GFK angesehen werden.

7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, zu deren Zulässigkeit zusammengefasst vorgebracht wird, das Bundesverwaltungsgericht habe sich begründungslos über Vorbringen der Revisionswerberin zur „Reflexverfolgung“ aufgrund der Wehrdienstverweigerung ihrer direkten männlichen Verwandten sowie zur Verfolgung als alleinstehende Frau ohne jegliche familiäre Unterstützung in Syrien hinweggesetzt und sich auch nicht mit den in den Länderfeststellungen des Bundesverwaltungsgerichts enthaltenen Sanktionen für Personen, die Oppositionelle medizinisch versorgt hätten, auseinandergesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht sei somit von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungpflicht abgewichen, weil es keine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens auf der Grundlage von aktuellen Länderberichten durchgeführt habe. Auch habe es diesbezüglich Richtlinien des UNHCR bzw. der EUAA außer Acht gelassen.

8 Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Vorlage der Verfahrensakten ein Vorverfahren durchgeführt. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Die Revision erweist sich vor dem Hintergrund der von ihr aufgeworfenen Frage zum begründungslosen Übergehen von Parteienvorbringen zulässig. Sie ist auch begründet.

10 Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits festgehalten, dass in der Begründung des Erkenntnisses eines Verwaltungsgerichts in einer eindeutigen, die Rechtsverfolgung durch die Parteien ermöglichenden und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugänglichen Weise darzutun ist, welcher Sachverhalt der Entscheidung zugrunde gelegt wurde, aus welchen Erwägungen das Verwaltungsgericht zur Ansicht gelangte, dass gerade dieser Sachverhalt vorliege, und aus welchen Gründen es die Subsumtion dieses Sachverhaltes unter einen bestimmten Tatbestand als zutreffend erachtete. Sind die einen tragenden Teil der Begründung darstellenden Ausführungen für den Verwaltungsgerichtshof nicht nachvollziehbar und somit nicht überprüfbar, so liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler vor, der zur Aufhebung der Entscheidung führt (vgl. VwGH 25.1.2022, Ra 2021/14/0397 bis 0405, mwN).

11 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. VwGH 25.1.2022, Ro 2021/14/0003, mwN).

12 Die Revision macht zu Recht geltend, dass die Revisionswerberin in ihrer an das Bundesverwaltungsgericht gerichteten Beschwerde weiters vorgebracht hat, bei einer Rückkehr der Verfolgung durch das syrische Regime aufgrund der Wehrdienstverweigerung der direkten männlichen Verwandten der Revisionswerberin ausgesetzt zu sein. Sämtliche männliche Verwandte würden sich außerhalb Syriens aufhalten, weshalb die Revisionswerberin bei einer Rückkehr in Syrien alleinstehend und ohne soziales Netz wäre. Weder gibt das Bundesverwaltungsgericht dieses Vorbringen wieder noch trifft es Feststellungen dazu noch setzt es sich mit diesem Vorbringen im Rahmen seiner Beweiswürdigung in jeglicher Weise auseinander. Vor dem dargestellten Hintergrund wäre es jedoch fallbezogen erforderlich gewesen, auf das gesamte Vorbringen der Revisionswerberin, dem im Asylverfahren nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zentrale Bedeutung zukommt (vgl. erneut VwGH 25.1.2022, Ro 2021/14/0003, mwN), näher einzugehen.

13 Das Bundesverwaltungsgericht wird sich daher im fortgesetzten Verfahren nach einem vollständigen Ermittlungsverfahren mit dem gesamten Vorbringen der Revisionswerberin unter Einbeziehung aktueller Länderberichte auseinanderzusetzen und auf dieser Grundlage zu beurteilen haben, ob der Revisionswerberin in Syrien Verfolgung im Sinne der GFK droht.

14 Da nicht auszuschließen ist, dass das Bundesverwaltungsgericht bei Vermeidung der aufgezeigten Verfahrensfehler im gegenständlichen Fall zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können, war das Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG schon deshalb aufzuheben.

15 Im Übrigen ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, derzufolge den Richtlinien von UNHCR und EASO (nunmehr: EUAA) besondere Beachtung zu schenken ist („Indizwirkung“). Diese Indizwirkung bedeutet zwar nicht, dass die Asylbehörden bzw. das Bundesverwaltungsgericht in Bindung an entsprechende Empfehlungen in den Richtlinien internationalen Schutz gewähren müssten. Allerdings haben die Asylbehörden (und dementsprechend auch das Bundesverwaltungsgericht) sich mit den Stellungnahmen, Positionen und Empfehlungen in den Richtlinien des UNHCR und der EUAA auseinanderzusetzen und, wenn sie diesen nicht folgen, begründet darzulegen, warum und gestützt auf welche entgegenstehenden Berichte sie zu einer anderen Einschätzung der Lage im Herkunftsstaat gekommen sind (vgl. dazu etwa VwGH 28.6.2023, Ra 2020/14/0492, mwN).

16 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 22. Juli 2024

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