Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. in Oswald und den Hofrat Mag. Schartner als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des D D, vertreten durch die Paya Paya Rechtsanwälte GmbH in 9020 Klagenfurt, Herrengasse 12/I, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Oktober 2022, W226 1304618 2/7E, betreffend Versagung eines Fremdenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein 1998 geborener russischer Staatsangehöriger, stellte (vertreten durch seine Eltern) im Oktober 2005 einen Asylantrag, der zwar im Beschwerdeweg abgewiesen, jedoch festgestellt wurde, dass die Ausweisung des Revisionswerbers in die Russische Föderation auf Dauer unzulässig ist. In der Folge verfügte der Revisionswerber über den mehrfach verlängerten Aufenthaltstitel „Rot Weiß Rot Karte plus“ und seit August 2014 über den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. Im Bundesgebiet sind auch die jeweils über russische Reisepässe verfügenden Eltern und der Bruder des Revisionswerbers rechtmäßig aufhältig.
2 Am 17. Mai 2022 beantragte der Revisionswerber der im Gegensatz zu seinen Familienangehörigen nie über einen russischen Reisepass verfügt hatte und dem zuvor in den Jahren 2015 und 2017 jeweils Fremdenpässe ausgestellt worden waren(zuletzt) gestützt auf § 88 Abs. 1 Z 2 und Abs. 2 FPG neuerlich die Ausstellung eines Fremdenpasses. Er brachte dazu in der Stellungnahme vom 20. Juni 2022 (u.a.) vor, seit Juni 2021 bei einem renommierten Autohaus als Verkaufsleiter beschäftigt zu sein, wobei seine Tätigkeit monatlich ein bis zwei Geschäftsreisen in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, insbesondere Deutschland und Italien, erfordere.
3Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 29. Juli 2022 „gemäß § 88 Absatz 1 iVm Absatz 2 FPG“ abgewiesen.
4 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 13. Oktober 2022 als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen das BFA eine Revisionsbeantwortung erstattete, erwogen hat:
6§ 88 Abs. 1 Z 2 FPG lautet:
„Fremdenpässe können, sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik gelegen ist, auf Antrag ausgestellt werden für
[...]
2. ausländische Staatsangehörige, die über ein unbefristetes Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet verfügen und nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen;“
7Vor diesem rechtlichen Hintergrund ging das BVwG in seiner Entscheidungsbegründung davon aus, die Ausstellung eines Fremdenpasses nach § 88 Abs. 1 Z 2 FPG müsse „im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik“ gelegen sein. Für die Ausstellung eines Fremdenpasses komme es somit nicht bloß darauf an, dass diese im Interesse des Fremden gelegen sei, sondern es müsse auch ein positives Interesse der Republik Österreich an der Ausstellung eines Fremdenpasses für diesen Fremden bestehen, wobei ein restriktiver Maßstab anzuwenden sei (Hinweis auf VwGH 29.1.2008, 2007/18/0601; VwGH 19.5.2011, 2009/21/0288; VwGH 22.1.2014, 2013/21/0043, jeweils mwN). Die vom Revisionswerber ins Treffen geführte „allfällig erforderliche (grenzüberschreitende) Reisetätigkeit zu beruflichen Zwecken“ begründe so folgerte das BVwG weiter nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jedoch kein solches öffentliches Interesse (Hinweis neuerlich auf VwGH 22.1.2014, 2013/21/0043). Schon aus diesem Grund sei der Antrag des Revisionswerbers vom BFA zu Recht abgewiesen worden.
8Der Revisionswerber wendet sich in der Zulässigkeitsbegründung der Revision gegen diese Auslegung des in § 88 Abs. 1 FPG normierten Tatbestandsmerkmals „sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt“, die er mit näherer Begründung für unionsrechtswidrig erachtet.
9 Damit ist die Revision im Ergebnis im Recht. Der Verfassungsgerichtshof kam nämlich vor dem Hintergrund des Urteils des EGMR 14.6.2022, L.B ., 38.121/20im Erkenntnis VfGH 16.6.2023, E 3489/2022, unter Punkt III.9. der Entscheidungsgründe zu dem zusammenfassenden Ergebnis, dass die Voraussetzung „sofern dies im Hinblick auf die Person des Betroffenen im Interesse der Republik liegt“ in § 88 Abs. 1 FPG auch dann erfüllt sei, „wenn die Verweigerung der Ausstellung eines Fremdenpasses eine Verletzung des durch Art. 2 4. ZPEMRK gewährleisteten Rechtes auf Ausreisefreiheit und damit einen Verstoß gegen die Verpflichtung der Republik Österreich zur Gewährleistung dieses Konventionsrechtes bedeuten würde“. Da das BVwG so folgerte der Verfassungsgerichtshof daran anschließend fallbezogen„die Ausstellung eines vom Beschwerdeführer (zum Zweck, [auch beruflich] ins Ausland reisen zu können) beantragten Fremdenpasses verweigert hat, ohne eine Interessenabwägung und damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, hat es § 88 Abs. 1 FPG einen Art. 2 4. ZPEMRK widersprechenden Inhalt unterstellt“ (siehe darauf Bezug nehmend zu einem mit dem vorliegenden vergleichbaren Fall VfGH 28.6.2023, E 2228/2022).
10 Dieser Rechtsansicht schließt sich der Verwaltungsgerichtshofin Abkehr von der in früheren Erkenntnissen vertretenen Rechtsansicht zur Auslegung der erwähnten Wortfolge in § 88 Abs. 1 FPGan (vgl. in dieser Hinsicht bereits VwGH 30.11.2023, Ra 2022/21/0118, Rn. 15). Einer Beschlussfassung im Sinne des § 13 Abs. 1 Z 1 VwGG bedarf es hierzu nicht. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Entscheidung in einem verstärkten Senat gemäß § 13 Abs. 1 VwGG nicht erforderlich ist, wenn wie hiereine bestimmte, von der bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes abweichende verfassungskonforme Auslegung geboten ist (vgl. etwa VwGH 13.12.2018, Ra 2018/09/0156, Rn. 10, mwN).
11 Da das BVwG die zu dem Zweck, auch beruflich in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union reisen zu können vom Revisionswerber beantragte Ausstellung eines Fremdenpasses verweigert hat, ohne eine Interessenabwägung und damit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, hat es sein Erkenntnis insofern mit Rechtswidrigkeit des Inhaltes belastet.
12 Das BVwG versagte über die Beurteilung des BFA hinausgehend die Ausstellung des Fremdenpasses weiters noch mit der Begründung, es fehle auch die Voraussetzung, dass der Revisionswerber nicht in der Lage sei, sich ein gültiges Reisedokument seines Heimatstaates zu beschaffen. Nach seinem Vorbringen habe das Generalkonsulat der Russischen Föderation die Ausstellung eines Reisepasses „nicht per se verneint“, sondern es sei ihm aufgetragen worden, weitere Dokumente vorzulegen. Es sei aber nicht nachvollziehbar, warum es „dem BF bzw. seinen Eltern bzw. einem damit in der Russischen Föderation beauftragten Rechtsvertreter“ nicht möglich gewesen sein sollte, jene Unterlagen „aufzubereiten“, die für die Prüfung der Identität und die Ausstellung eines russischen Reisedokuments erforderlich wären. Auch wenn es dem Revisionswerber selbst nicht möglich gewesen sei, in seinen Herkunftsstaat zu reisen, um die fehlenden Dokumente zu besorgen, wäre dies so meinte das BVwG jedoch seinen Eltern in Anbetracht der Tatsache, dass sie über gültige russische Reisepässe verfügen, „offensichtlich“ sehr wohl möglich gewesen.
13 Das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, die Beschwerde hätte sich im Wesentlichen gegen die rechtliche Beurteilung des angefochtenen Bescheids gewendet. Das BVwG habe seiner rechtlichen Beurteilung die Angaben des Revisionswerbers im Verfahren vor dem BFA, die dort vorgelegten Beweismittel sowie die Angaben aus dem Beschwerdeschriftsatz zugrunde gelegt. Einer Erörterung der Rechtslage habe es nicht bedurft.
14 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Beurteilung der (Un )Zumutbarkeit bzw. der faktischen (Un )Möglichkeit der Beschaffung eines gültigen Reisedokuments zwar eine einzelfallbezogene Beurteilung dar, die wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht erfolgreich mit Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 BVG bekämpft werden kann (vgl. zur insoweit inhaltsgleichen Bestimmung des § 88 Abs. 2a FPG etwa VwGH 25.10.2023, Ra 2021/21/0353, Rn. 12, mwN).
15 Allerdings mangelt es im vorliegenden Fall wie der Revisionswerber im Ergebnis zu Recht rügt an einer „verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage“, weil das BVwG zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgegangen ist: Den über die Beurteilung des BFA hinausgehenden Erwägungen des BVwG im Rahmen seiner Alternativbegründung liegt die für den Revisionswerber mangels Einräumung von Parteiengehör überraschendeAnnahme zugrunde, es wäre den Eltern des (mittlerweile erwachsenen) Revisionswerbers durch eine persönliche Reise in ihren Herkunftsstaat oder einem beauftragten Rechtsvertreter möglich gewesen, die für die Ausstellung eines Reisepasses erforderlichen Dokumente für ihn zu erlangen. Damit hat das BVwG Sachverhaltselemente in seine rechtliche Würdigung einbezogen, die dem Revisionswerber nicht bekannt waren (vgl. VwGH 27.8.2018, Ra 2018/22/0136, Pkt. 4.2. der Entscheidungsgründe, mwN; VwGH 24.3.2015, Ra 2014/21/0058, mwN). Schon deshalb hätte das BVwG aber nicht vom Vorliegen eines „geklärten Sachverhaltes“ im Sinne des § 21 Abs. 7 BFAVG ausgehen und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für entbehrlich erachten dürfen (vgl. zur Notwendigkeit der Durchführung einer beantragten mündlichen Verhandlung im Zusammenhang mit der strittigen Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit der Beschaffung eines Reisedokuments auch VwGH 27.7.2023, Ra 2021/21/0363, Rn. 11, mwN).
16Das angefochtene Erkenntnis war aus den genannten Gründen (vorrangig) gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
17Für das fortgesetzte Verfahren wird darauf hingewiesen, dass das BFA in seiner Revisionsbeantwortung in Bezug auf die unter dem Gesichtspunkt des § 88 Abs. 2 FPG erfolgte Beschwerdeabweisung zu Recht ins Treffen führt, der Revisionswerber habe in allen bisherigen Verfahren und auch in der Revision selbst vorgebracht, russischer Staatsangehöriger zu sein, und keine konkreten „Verlustgründe“ in Bezug auf diese Staatsangehörigkeit behauptet. Dass er mangels entsprechender russischer Dokumente seine Staatsangehörigkeit gegenüber dem Generalkonsulat der Russischen Föderation „nicht belegen“ könne, führt entgegen der Meinung in der Revisionnicht dazu, dass es sich beim Revisionswerber um eine Person „ungeklärter Staatsangehörigkeit“ iSd § 88 Abs. 2 FPG handelt (vgl. zum inhaltsgleichen Tatbestandsmerkmal in § 76 Abs. 1 Z 1 FrG 1997 schon das Erkenntnis VwGH 30.11.2005, 2005/18/0642, Punkt 3. der Entscheidungsgründe).
18Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 29. Jänner 2025