JudikaturVwGH

Ra 2024/21/0029 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. in Oswald und den Hofrat Mag. Schartner als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision von 1. A M G, 2. S B A, 3. H A M, 4. M A M, und 5. E AM, alle vertreten durch Mag. Alexander Bacher, Rechtsanwalt in 3032 Eichgraben, Hummelbachstraße 5, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts jeweils vom 20. Dezember 2023, 1. W124 2199772 2/6E, 2. W124 2199770 2/5E, 3. W124 2199776 2/5E, 4. W124 2199779 2/5E und 5. W124 2263140 1/5E, jeweils betreffend Abweisung eines Antrags auf Ausstellung eines Fremdenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Revisionswerber sind äthiopische Staatsangehörige. Der Erstrevisionswerber ist mit der Zweitrevisionswerberin verheiratet; sie haben drei in den Jahren 2012, 2014 und 2021 geborene Kinder (dritt bis fünftrevisionswerbende Parteien).

2 Den erst bis viertrevisionswerbenden Parteien wurde mit den jeweils im Beschwerdeweg ergangenen rechtskräftigen Erkenntnissen des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 20. Dezember 2019 bzw. 15. Jänner 2020 der beantragte Status von Asylberechtigen versagt, jedoch der Status von subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt. Dem in Österreich im Jahr 2021 geborenen Fünftrevisionswerber wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 13. Juli 2021 ebenfalls subsidiärer Schutz zuerkannt.

3 Am 13. April 2022 beantragten die Revisionswerber die minderjährigen Kinder vertreten durch den Erstrevisionswerberjeweils die Ausstellung eines Fremdenpasses für subsidiär Schutzberechtigte gemäß § 88 Abs. 2a FPG. Nach einem schriftlichen Vorhalt des BFA brachten die Revisionswerber zusammengefasst vor, das äthiopische Konsulat in Österreich sei temporär geschlossen. Die Zweitrevisionswerberin leide an paranoider Schizophrenie, benötige „rund um die Uhr“ Betreuung und nehme Medikamente. Der Erstrevisionswerber kümmere sich um seine Ehefrau und die kleinen Kinder, weshalb es ihm nicht möglich sei, „in ein anderes EU Land“ zu reisen und dort bei einer äthiopischen Botschaft einen Reisepass zu beantragen.

4Das BFA wies diese Anträge mit Bescheiden jeweils vom 4. Oktober 2022 gemäß § 88 Abs. 2a FPG ab. Begründend wird unter anderem ausgeführt, es sei unklar, weshalb nicht Kontakt mit einer äthiopischen Botschaft innerhalb der Europäischen Union aufgenommen werden könne.

5 Dagegen erhoben die Revisionswerber mit einem Schriftsatz vom 3. November 2022 Beschwerde und beantragten die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.

6 Mit den angefochtenen Erkenntnissen jeweils vom 20. Dezember 2023 wies das BVwG die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlungals unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

7 Gegen diese Erkenntnisse richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

8Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt, weil das BVwG wie von den Revisionswerbern aufgezeigt wird zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG ausgegangen ist.

9 Das BVwG stellte jeweils fest, die Erlangung eines gültigen äthiopischen Reisedokuments sei den Revisionswerbern möglich. Beweiswürdigend führte es über die Beurteilung des BFA hinausgehend dazu aus, dass die Möglichkeit einer Online Antragstellung für äthiopische Reisepässe bestehe, ergebe sich aus öffentlich zugänglichen Informationen des „Immigration and Citizenship Service“. Dazu verwies das BVwG lediglich auf einen Internet Link, ohne den Inhalt dieser Website näher darzustellen. Die Pflege und Betreuungsverpflichtungen des Erstrevisionswerbers gegenüber seiner psychisch kranken Ehefrau und den minderjährigen Kindern stünden somit der „Beschaffung“ eines Reisepasses nicht entgegen. Im Übrigen sei nicht substantiiert dargelegt worden, dass es dem Erstrevisionswerber unmöglich oder unzumutbar wäre, seine Ehefrau und minderjährigen Kinder durch einen Dritten „während einer mehrstündigen Reise in ein anderes EU Land beaufsichtigen zu lassen“. In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, die Revisionswerber hätten die tatsächliche Unmöglichkeit bzw. Unzumutbarkeit der Beschaffung eines Reisedokuments nicht dargelegt. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass ihnen die Ausstellung eines Reisepasses verweigert würde, zumal den erst bis viertrevisionswerbenden Parteien bereits zuvor ein jeweils bis Februar 2021 gültiger äthiopischer Reisepass ausgestellt worden sei.

10 Das Absehen von der beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG damit, in der Beschwerde sei kein neues Vorbringen auf Tatsachenebene erstattet, sondern das vor dem BFA geltend gemachte Vorbringen betreffend die „faktische Unmöglichkeit“ der Beschaffung eines gültigen Reisedokuments wiederholt worden. Der für die „Zurückweisung“ (gemeint: Abweisung) maßgebliche Sachverhalt sei sohin aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde im Sinne des § 21 Abs. 7 BFA VG als geklärt anzusehen gewesen.

11Gemäß § 88 Abs. 2a FPG sind Fremden, denen in Österreich der Status des subsidiär Schutzberechtigten zukommt und die nicht in der Lage sind, sich ein gültiges Reisedokument ihres Heimatstaates zu beschaffen, auf Antrag Fremdenpässe auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oder öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen (zur Auslegung dieser Bestimmung vor dem Hintergrund der Statusrichtlinie siehe jüngst VwGH 27.2.2025, Ra 2024/21/0078, Rn. 10, mwN).

12 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stellt die Beurteilung der (Un )Zumutbarkeit bzw. der faktischen (Un)Möglichkeit der Beschaffung eines gültigen Reisedokuments im Sinne des § 88 Abs. 2a FPG zwar eine einzelfallbezogene Beurteilung dar, die wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht erfolgreich mit Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 BVG bekämpft werden kann (vgl. erneut VwGH 27.2.2025, Ra 2024/21/0078, nunmehr Rn. 13, mwN).

13 Allerdings mangelt es im vorliegenden Fall an einer „verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage“, weil das BVwG zu Unrecht vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA VG ausgegangen ist. Den über die Beurteilung des BFA hinausgehenden „beweiswürdigenden“ Erwägungen des BVwG liegt die für den Revisionswerber mangels Einräumung von Parteiengehör überraschende und in der Revision substantiiert bestrittene Annahme zugrunde, es bestünde die Möglichkeit einer Online Antragstellung für äthiopische Reisepässe, die auch tatsächlich zur Ausstellung von Reisepässen für die Revisionswerber geführt hätte. Abgesehen davon, dass das BVwG keine Feststellungen zu den konkreten Voraussetzungen für eine Online Antragstellung und für die tatsächliche Ausstellung von Reisepässen für die Revisionswerber durch das „Immigration and Citizenship Service“ in Addis Abeba getroffen und jegliche Prüfung unterlassen hat, ob den Revisionswerbern deren Erfüllung konkret möglich und zumutbar ist, hat es damit Sachverhaltselemente in seine rechtliche Würdigung einbezogen, die den Revisionswerbern nicht bekannt waren. Schon deshalb hätte das BVwG aber nicht vom Vorliegen eines „geklärten Sachverhaltes“ im Sinne des § 21 Abs. 7 BFAVG ausgehen und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung für entbehrlich erachten dürfen (vgl. in diesem Sinn schon zuletzt VwGH 29.1.2025, Ra 2022/21/0215, Rn. 15, mwN).

14 Im Übrigen sind die Erwägungen zur Möglichkeit und Zumutbarkeit der Beschaffung von äthiopischen Reisedokumenten auch deshalb unvollständig, weil sich aus dem in der Revision abgedruckten Auszug der vom BVwG angeführten Website ergibt, dass selbst bei einer Online Antragstellung die (persönliche) Wahrnehmung eines Termins bei einer Vertretungsbehörde, sogar durch minderjährige Kinder, erforderlich zu sein scheint. Letztlich hat das BVwG aber das auch ohne diesbezügliche Erörterung mit den Parteien von der Zumutbarkeit der Betreuung der Ehefrau und der Beaufsichtigung der Kinder durch einen Dritten „während einer mehrstündigen Reise“ des Erstrevisionswerbers „in ein anderes EU Land“ ausging aus dem Blick verloren, dass es den Revisionswerbern ohne Reisedokumente nicht ohne Weiteres möglich ist, zwecks Beantragung von Reisepässen zu äthiopischen Vertretungsbehörden „in ein anderes EU Land“ (offenbar gemeint: etwa zur äthiopischen Botschaft nach Berlin) zu reisen.

15 All dies hätte einer näheren Klärung im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft, deren Durchführung wie erwähntin der Beschwerde auch ausdrücklich beantragt worden war. Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

16 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte in diesem Fall gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

17Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 52 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. April 2025